Dürrenmatt - Der Verdacht
Bärlach ist in dem Folgewerk von 'Der Richter und sein Henker'
einem anderen Nihilisten auf der Spur, dem Arzt Emmenberger, der unter falschem
Namen in den Jahren des Dritten Reiches als Konzentrationslagerarzt gearbeitet
hatte und jetzt in Zürich eine Privatklinik besitzt. Emmenberger hat die
Menschen vom 'archimedischem Punkt' einer absoluten Freiheit aus
gequält und getötet, auf daß seine Macht offenbar werde; seine Liebhaberei ist
es gewesen, die Menschen ohne Narkose zu operieren. Diese, seine Opfer mußten
sich aber vor ihrer 'Behandlung' eine solche Operation anschauen,
bevor sie sich bereit erklärten, für die Gegenleistung auf andere, keine
Todeslager, versschoben zu werden, sich operieren zu lassen. Diesem Sadisten
will nun Bärlach, der krebskrank ins Salemspital eingeliefert wird, das
Handwerk legen; er läßt sich unter angenommenen Namen in die Privatklinik
Emmenbergers aufnehmen, diese Höhle der Reichen, in der eine Morphinistin Dr.
Marlok und eine bigotte Schwester mittöten, wird aber erkannt (schon beim
Begrüßungsgespräch) und dem Messer seines Gegners ausgeliefert. In letzter
Minute rettet ihn Gulliver, ein riesenhafter Jude, der die Unmenschlichkeit
Emmenbergers am eigenen Leibe erfahren hat. Und er, ein moderner Ashaver,
formuliert die Lehre der beiden Erzählungen (Vorgängerwerk!) am deutlichsten.
Der gebrochene Bärlach wird von Gulliver wie ein Kind von seinem Vater in das
Bett zurückgelegt und bekommt die Ermahnung: ' Wir können als Einzelne die
Welt nicht retten, das wäre eine ebenso hoffnungslose Arbeit wie die des armen
Sisyphos; sie ist nicht in unsere Hand gelegt, auch nicht in die Hand eines
Mächtigen oder eines Volkes oder in die des Teufels, der doch am mächtigsten
ist, sondern in Gottes Hand, der seine Entscheide allein fällt. Wir können nur
im einzelnen helfen, nicht im gesamten, die Begrenzung des armen Juden
Gulliver, die Begrenzung aller Juden. So sollen wir die Welt nicht zu retten
suchen, sondern zu bestehen, das einzige wahrhafte Abenteuer, das uns in dieser
späten Zeit noch bleibt.' Von den beiden Kriminalromanen aus gesehen, wird
offensichtlich, daß Bärlach nicht als Held bestehen soll, sondern als Moralist,
der bald lächerlich, bald tragisch gemeint ist. Sozusagend ein kleiner Don
Quijote.
Die beiden Kriminalgeschichten 'Der Richter und sein Henker'
'Der Verdacht' sind, aus finanziellen Erwägungen geschrieben worden.
Die Menge stürzte sich auf diese Nebenprodukte mehr als auf die Theatererfolge,
die aber diese Werke berühmt machte. Somit ging Dürrenmatts Idee auf: der Neues
Schaffende vermag sich auf den heutigen Bühnen kaum durchzusetzen, weil der
Fundus an Reproduzierbaren ins Unermeßliche gewachsen sei. 'Wie besteht
der Künstler in einer Welt der Bildung, der Analphabeten?' Vielleicht am besten,
indem er Kriminalromane schreibt, Kunst da tut, wo sie niemand vermutet. Die
Literatur muß so leicht wiegen, daß sie auf der Waage der heutigen Literatur
nichts mehr wiegt: Nur so wird sie wieder gewichtig. Der kluge Kaufmann bringt
seine Ware auf Umwegen oft besser an den Mann, auch wenn sie großen Wert
besitzen.Doch dürfen wir nicht von einer Flucht in Trivialliteratur sprechen:
Dürrenmatt sitzt die Interesse am menschlichen Verbrechen zu tief; am
Verbrechen als einer Manifestation der menschlichen Freiheit. In Dürrenmatts
Verbrechern paart sich Freiheitswille und Unglaube - bei 'Der Richter und
sein Henker' 'Der Verdacht' sind sie von der Ideologie her
Nihilisten.