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Thema: Der Autor in seiner Zeit am Beispiel "Die neuen Leiden des jungen W." von Ulrich Plenzdorf
Facharbeit
Im 2. Semester des Jahrgangs 12 - Schuljahr
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Ulrich Plenzdorf
Sein Leben und literarisches Schaffen im Umriß
Zwischenbilanz - der Schriftsteller in seiner Zeit
Zeitumstände
Die DDR Kulturpolitk
Weltanschauung und Literatur
Das Werk
Textimmanente Betrachtung
Die neuen Leiden des jungen W.
Die Erzählperspektive
Die Wertherrezeption
Der Jugend - Jargon
Zusammenfassung - Autor und Werk in ihrer Zeit
"Werther" - Wirkung 1973
Reaktionen in der DDR
Reaktionen in der BRD
Eigene Interpretationsansätze
Edgars Integration in die Gesellschaft
Edgars Scheitern
Edgar im Vergleich mit Werther
Das "offene Ende"
Zusammenfassung - Plenzdorfs Intention
Der Autor und sein Werk - Versuch einer Einschätzung
Literaturverzeichnis
Im Jahr 1973 - nur kurze Zeit nach dem Erscheinen des Buches "Die neuen Leiden des jungen W." von Ulrich Plenzdorf - veröffentlicht der westdeutsche Literaturkritiker M. Reich-Ranicki im Hinblick auf die Bezugspunkte Goethe und Salinger das Urteil: "Daher kann Plenzdorfs schriftliche Leistung als epigonal und originell zugleich gelten."[1]
Nach Reich-Ranicki beinhaltet Plenzdorfs Werk drei wesentliche Elemente:
Salingers Jugendproblematik, Goethes Werther - Konflikt und die Reflexion der Lebensumstände in der DDR. Diese Verbindung bestimmt die Prägnanz, die Anerkennung und sogar die Popularität des Werkes, unterstreicht aber auch Plenzdorfs Fähigkeiten als Autor. Doch der daraus resultierende Wert des Romans besteht für M. Reich-Ranicki vorrangig im direkten Zusammenhang mit den konkreten Umständen in der damaligen DDR. Eine zeitlose Allgemeingültigkeit spricht er dem Roman ab.
Wie die offenkundige Diskrepanz zwischen der begeisterten Aufnahme der "Neuen Leiden" 1973 und der relativen Vergessenheit heutzutage zu erklären ist, soll diese Facharbeit zeigen, in der etwas genauer das Verhältnis zwischen dem Dichter, seiner Zeit und seinem Werk analysiert wird.
Aus diesem Grund werden zuerst der Lebenslauf und die Weltanschauung Ulrich Plenzdorfs betrachtet. Anschließend sollen vor dem Hintergrund "Der Dichter in seiner Zeit" die gesellschaftlichen Umstände in der damaligen DDR skizziert werden.
Die Untersuchung formaler und thematischer Schwerpunkte der "Neuen Leiden" bilden den dritten Abschnitt. Besonders hier ist eine Reduktion der sich anbietenden Aspekte vorzunehmen, damit der vorgegebene Rahmen der Facharbeit eingehalten werden kann. Es ist unerläßlich, zunächst ganz kurz den Inhalt zusammenzufassen. Weiterhin wichtige Schwerpunkte gemäß der Fragestellung bilden die Überlegungen zu den literarischen Vorbildern sowie zur Erzählperspektive.
Die nachhaltige Resonanz des Stückes erfordert Beachtung, denn hier zeigt sich - über die textimmanente Betrachtung hinausgehend - der besondere Zusammenhang zwischen dem Autor mit seinem Werk auf der einen und die Reaktionen in der Gesellschaft auf der anderen Seite.
Auch die folgenden Interpretationsansätze sind auf wichtige Schwerpunkte zu begrenzen, die noch aufzuzeigen sind. Auf diesen Erkenntnissen aufbauend soll abschließend der Versuch unternommen werden, das Charakteristische dieses literarischen Werkes in seiner Zeit einzuschätzen.
Ulrich Plenzdorf wurde am 26. Oktober 1934 in Berlin-Kreuzberg als Sohn eines Arbeiters geboren. Nach dem Abitur 1954 beginnt er das Studium des Marxismus - Leninismus am Franz - Mehring - Institut in Leipzig. In den Jahren 1955-58 arbeitet er als Bühnenarbeiter und tritt anschließend bis 1959 als Soldat in die nationale Volksarmee ein.
Von 1959 bis 1963 nimmt er erneut ein Studium auf, dieses Mal an der Filmhochschule Babelsberg mit der Fachrichtung Dramaturgie. Es folgen Arbeiten als Szenarist und Filmdramaturg im Auftrag des DEFA-Studios für Spielfilme.
Seit Ende der 70er Jahre verfaßt Plenzdorf neben dieser Arbeit auch Drehbücher für westdeutsche Fernsehfilme, wobei er unter anderem auch Vorlagen anderer Autoren bearbeitet, so Martin Stades historischen Roman "Der König und sein Narr", Erich Loests in der DDR umstrittenen Gegenwartsroman "Es
geht seinen Gang" und Martin Walsers Novelle "Ein fliehendes Pferd". International bekannt wird Plenzdorf 1973 durch sein Bühnenstück 'Die neuen Leiden des jungen W.' (Uraufführung: 18.5.1972, Landestheater Halle).
Neben anderen Auszeichnungen erhält der Autor für dieses Werk den Heinrich - Mann - Preis der Akademie der Künste. Plenzdorf zählt zu einer Gruppe jüngerer Filmautoren, die sich in dokumentarisch angelegten Spielfilmen kritisch mit der DDR-Gegenwart auseinandersetzen. Dieses zentrale Anliegen durchzieht Plenzdorfs künstlerisches Schaffen, wie z.B. in seinem zweiten Film "Karla", in dem es um die Konflikte einer Junglehrerin mit den bürokratischen Strukturen im Bildungswesen der DDR geht. Dieses bereits im Jahre 1965 begonnene Projekt darf durch ein Verbot der SED im selben Jahr nicht beendet werden.
Vier Jahre später entsteht der Film "Weite Strassen - stille Liebe". Hier greift Plenzdorf erneut die Probleme junger Leute in der DDR auf. Das 1976 uraufgeführte Stück "Buridans Esel" thematisiert die Krise der mittleren DDR-Generation.
Nach dem Theaterstück "Die neuen Leiden des jungen W." erscheint das Werk "Die Legende von Paul und Paula" und wird zum größten Publikumserfolg der DEFA. Ahnlich wie Edgar Wibeau fordert hier die Hauptperson Paula die Erfüllung ihres persönlichen Glücksanspruchs, ganz im Sinne Plenzdorfs verfolgter Linie des "dokumentarischen Spielfilms'.
Im Jahre 1990/91 verfilmt Plenzdorf die Erzählung 'Unvollendete Geschichte'. Durch die politische Entwicklung verliert diese Fluchtgeschichte jedoch ihre Brisanz und bleibt ohne größere öffentliche Resonanz. Im selben Zeitraum entsteht auch das Drehbuch "Hüpf, Haschen, Hüpf" (1991), welches den Einsatz von Polizei und Staatssicherheit in der DDR thematisiert und von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste mit dem Fernsehpreis prämiert wird.
Zunehmend bedeutsam wird für Plenzdorf die Zensur. Zwischen 1949 und 1971, in der Ara Ulbrecht, gelten schon öffentliche Distanzierung und milde Kritik als staatsfeindlich, was zur Folge hat, daß die Liste der verbotenen Bücher sehr lang wird. Literatur hat die Aufgabe, gesellschaftliche Verhältnisse positiv erscheinen zu lassen, das Darstellen von Problemen soll nicht zu ihrer Intention werden.
Aufgabe der Künstler ist es, dem Leben vorauszueilen und durch ihr Schaffen Millionen Menschen für die großen Aufgaben des Sozialismus zu begeistern. [2]
Erst um 1971, in der Ara Honecker, wird die Zensur etwas großzügiger gehandhabt, da sich die DDR wirtschaftlich stabilisiert hat. So wird es Ulrich Plenzdorf jetzt möglich "Die neuen Leiden des jungen W.' zu veröffentlichen, obwohl darin die Lebensumstände in der DDR nicht gerade systemkonform betrachtet werden.
Plenzdorf selbst faßt dieses zusammen, indem er sagt, daß eine entscheidende Rolle in dem Werk "der äußere Druck" gespielt habe, da er viele Jahre lang wegen "Zurückweisung des Stoffes"[4] sich nicht frei verwirklichen konnte.
Vergleicht man Plenzdorfs Werke miteinander, können verschiedene Gemeinsamkeiten und Schwerpunkte erkannt werden. So ist ihm die Form einer Dokumentation sehr wichtig. Er versucht damit, auf reale Mißstände in der DDR hinzuweisen. Besondere Betrachtung finden hierbei Themen wie Bildungspolitik, das Lebensgefühl jugendlicher Bürger oder die persönliche Selbstverwirklichung im real existierenden Sozialismus. Diese Punkte charakterisieren Plenzdorf deutlich als einen engagierten Autor, der die DDR-Gesellschaft kritisch betrachtet.
Andererseits ist Plenzdorf genau dieser Gesellschaft entwachsen, die darauf ausgelegt ist, Konformität zu schaffen. Nach diesen Normen und Maßstäben ist er erzogen, durch den Umgang mit seinen Mitmenschen geprägt und von politischer Ideologie beeinflußt worden. Die daraus resultierende weltanschauliche Position läßt sich daher treffend mit der Aussage von Edgar Wibeau umschreiben: "Kein einigermaßen intelligenter Mensch kann heute was gegen den Kommunismus haben"[5].
Mit der Satz: "Ich bin rot bis auf die Knochen", bestätigt Plenzdorf selbst seine sozialistische Grundeinstellung und verdeutlicht gleichzeitig, daß es grundsätzlich falsch ist, "Die neuen Leiden des jungen W." als "Anti-DDR-Stück"[6] zu interpretieren.
Plenzdorf fordert vielmehr die Demokratisierung des sozialistischen Gesellschaftssystems, vergleichbar mit zeitgleichen Kritikern wie z.B. R. Havemann oder W. Biermann.
Er ist für den Sozialismus/ Und für den neuen Staat/ Aber den Staat [] / Den hat er gründlich satt
Sein Lebenslauf zeigt jedoch einen höheren Grad von Anpassung an die bestehende Gesellschaft als der z.B. von W. Biermann und erscheint sogar systemkonform.
[] Plenzdorf ist alles andere als ausgeflippt. [8]
Man muß Plenzdorf trotzdem weniger als gesellschaftliches Produkt, sondern vielmehr als Individuum betrachten, welches sich mit seinem Umfeld kritisch auseinandersetzt. So unterscheidet er zwischen Schein und Wirklichkeit, indem er kritisch feststellt, daß "einer dem Abzeichen nach Kommunist ist und zu Hause seine Frau prügelt" [9].
Als ein Individuum gliedert er sich in die Gesellschaft ein, stimmt mit den sozialistischen Idealen überein, verarbeitet sein konkretes Umfeld aber doch eher kritisch - distanziert (was wiederum die Form der Dokumentation zeigt), als daß er sich ihren Strukturen unterwirft.
Die Literatur ist durch das marxistische Kunstverständnis der ehemaligen DDR beherrscht worden. Mit dem Beginn des "Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus" im Jahre 1950 wird der "sozialistische Realismus" zur verbindlichen Richtlinie der Literatur erklärt.
Das Einhalten wird von einer zentralen Kulturbürokratie kontrolliert. Um Werke zu veröffentlichen, muß sich der Schriftsteller außerdem den Grundsätzen eines Schriftstellerverbandes unterwerfen bzw. diese befolgen.
[Dieses] erfordert vom Künstler, daß er lernt, seine Kunstwerke im Geist des sozialistischen Realismus zu gestalten. [10]
In der Epoche des "sozialistischen Realismus" ist es somit für einen Schriftsteller verbindlich, im Sinne der Regierung zu wirken. Zur Aufgabe des Autors gehört es, das Leitbild des "neuen Menschen" positiv darzustellen und dem Menschen eine Perspektive zu vermitteln, die eine gerechte und angenehme Zukunft prognostiziert.
Im Mittelpunkt des künstlerischen Schaffens muß der neue Mensch stehen, der Kämpfer für ein einheitliches, demokratisches Deutschland, der Aktivist, der Held des sozialistischen Aufbaus.[11]
Da sich der Schriftsteller an das Volk wenden soll, verlangt man außerdem von ihm, daß die Sprache sowie der Inhalt des Werkes für diese Zielgruppe verständlich ist. Die Aussage soll stets direkt und unmißverständlich sein, die Schreibweise volkstümlich.
Festzumachen ist diese Kulturpolitik an den "Bitterfelder Konferenzen" von 1959 bzw. 1964. Ziel ist es gewesen, die sozialistische Kultur und Kunst mit Hilfe der "Arbeiterklasse selbst" zu organisieren :
Greif zur Feder, Kumpel, die sozialistische Nationalkultur braucht dich! [12]
Da der Erfolg dieser Kulturpolitik begrenzt ist, kommt es aufgrund einer wirtschaftlichen Stabilität in den 70er Jahren, zu einer Liberalisierung und damit in der Literatur häufiger zu kritischen Untersuchungen der Lebensumstände durch junge Autoren. Diese Werke stoßen auch vermehrt in der BRD auf positive Resonanz, wie beispielhaft das Werk " Die neuen Leiden des jungen W.".
Das gesamte sozialistische System wird auch in dieser Literatur nicht in Frage gestellt, denn es wird weiterhin pauschale Systemkritik als Verstoß gegen "sozialistische Grundpositionen" gewertet und stark bestraft.
Deshalb darf nicht übersehen werden, daß auch in dieser liberalen Phase relativ eingehende Vorstellungen und Vorschriften existieren, die u.a. noch nach 1980 dazu führten, daß der populäre Jugendschriftsteller Karl May verboten bleibt. [13]
Unter diesem Punkt muß erneut die übergeordnete Ideologie bzw. das politische Ziel der SED - Regierung betrachtet werden:
Es steht die marxistische Idee des "sozialistischen Menschen" im Mittelpunkt. Dem Menschen soll es ermöglicht werden, in einer vom Kapitalismus befreiten Gesellschaft sich geistig, kulturell und körperlich zu verwirklichen. Es entsteht das Idealbild der "allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit"[14]. Zu seinen Qualitäten sollen Verantwortungsbewußtsein, ein großes Maß an Bildung, sowie sozialistischer Gemeinschaftsgeist zählen.
Alle kulturellen Einrichtungen der Regierungen zielen darauf hin, dieses Leitbild zu vertreten, um somit ihr parteipolitisches Ziel zu unterstützen. So wird im Jahr 1946 ein Gesetz verabschiedet, welches allen Kindern und Jugendlichen, unabhängig von ihren Vermögensverhältnissen ein Recht auf schulische Bildung garantiert. Streitpunkt ist auf welche Art und Weise das Wissen in den Schulen vermittelt werden soll. Zur Alternative stehen die Wissensvermittlung ("Lernschule") oder die Denkvermittlung. Unter Einfluß der dogmatischen sowjetischen Pädagogik setzt sich ein Lehrsystem durch, in welchem die Wissensvermittlung eine vorrangige Stellung einnimmt. Die Autorität der Lehrer dominiert, Selbstverwirklichung oder selbständige Denkvorgänge der Schüler werden nicht gefördert. Disziplin ist wichtiger als die schöpferische Selbstbetätigung.
Es ist also eine starke Zweckverbindung von Ideologie und Pädagogik festzustellen. Das Publizieren der sozialistischen Weltanschauung steht im Mittelpunkt des Bildungs - und Kultursystems in der DDR.
Offizielle Aufgabe der Schulen ist es, systemkonforme sozialistische Persönlichkeiten herauszubilden und keine selbständigen Individuen. [15]
Dieser Gedanke findet sogar in der 1968 von der Kulturkammer verabschiedeten Verfassung seinen Niederschlag. Im Artikel 2 Satz 4 heißt es:
Die Übereinstimmung der politischen, materiellen und kulturellen Interessen der Werktätigen und ihrer Kollektive mit den gesellschaftlichen Erfordernissen ist die wichtigste Triebkraft der sozialistischen Gesellschaft." [16]
Ein Leitbild der sozialistischen Gesellschaft, dem der positive Held Edgar Wibeau in keiner Weise entspricht, wie noch näher erläutert werden wird.
Unter diesen politischen Voraussetzungen findet in der DDR eine interessante Auseinandersetzung mit dem "literarischen Erbe" statt, die einerseits zur Ablehnung von Autoren wie z.B. von Kafka führt, andererseits aber klassische Werke und ihre Verfasser hervorhebt:
Durch die Kulturpolitik unseres sozialistischen Staates [wird] zum erstenmal in der deutschen Geschichte das humanistische Werk Goethes, Schillers, Lessings, [] dem ganzen Volk nahegebracht und zu seinem lebendigen Besitz gemacht. [17]
Damit kann Plenzdorfs Werther - Rezeption auf ein grundsätzliches Wohlwollen der DDR - Zensur bauen.
"Die neuen Leiden des jungen W." schildern in Form einer Filmerzählung, 1973 im Hinstorf Verlag in Rostock als Roman erschienen, ein zeitgenössisches "Wertherschicksal" in der DDR.[18]
Der Hauptcharakter und Einzelgänger Edgar Wibeau, ein zunächst strebsames, vorbildhaftes und erfolgreiches Mitglied der Gesellschaft gibt nach einem Konflikt mit seinem Ausbilder Flemming seine Lehre auf. Auslöser ist eine Auseinandersetzung mit dem Meister, da dieser seine Lehrlinge mit arbeitsintensiven Tätigkeiten beauftragen muß, die maschinell hätten verrichten werden können. Nachdem Edgar seinem Ausbilder aus Protest eine Grundplatte auf den Zeh hat fallen lassen, wird sein Verhalten sogar von der Mutter kritisiert, die tradierten Ausbildungsmethoden werden allgemein gerechtfertigt. Rückblickend stellt Edgar außerdem im Hinblick auf die Familiensituation fest, daß es ihm mißfällt, als "lebender Beweis dafür rumzulaufen, daß man einen Jungen auch sehr gut ohne Vater erziehen kann"[19] .
Im Mittelpunkt des Werkes stehen nun die aufkommenden rebellischen Züge der Hauptperson Edgar, die sich unter anderem in langen Haaren, Popmusik und Jeans widerspiegeln.
Veranlaßt durch Selbstverwirklichungswünsche beschließt er, anfangs zusammen mit seinem Freund Willi, aus der Kleinstadt Mittenberg in eine zum Abbruch bestimmte Laube nach Ostberlin zu ziehen.
Hier findet er - bezeichnender Weise auf der Toilette - eine Reclam Ausgabe von Goethes "Die Leiden des jungen Werthers", welcher er jedoch anfänglich nichts Positives abgewinnen kann, sondern sie vielmehr salopp kommentiert:
Dieser Kerl in dem Buch, dieser Werther, wie er hieß, macht am Schluß Selbstmord [], weil er die Frau nicht kriegen kann, die er haben will, und tut sich ungeheuer leid dabei. [20]
Sein Verständnis ändert sich jedoch, als er die Kindergärtnerin Charlie kennenlernt und sich in sie verliebt. Er nutzt nun Werther-Zitate als Ausdruck seiner eigenen Gefühle, die er seinem inzwischen nach Mittenberg zurückgekehrten Freund Willi in Form von Tonbandkassetten zuschickt. Im weiteren Verlauf der Handlung, in der ihn seine Leidenschaft zu Charlie immer unglücklicher macht, kann er sich schließlich mit Goethes Titelfigur identifizieren und sieht dessen Leiden als Spieglung seiner eigenen Situation.
Ich war jedenfalls fast so weit, daß ich Old Werther verstand, wenn er nicht mehr weiterkonnte. [21]
Zur vorübergehenden Trennung von Charlie und Edgar kommt es, als ihr Verlobter Dieter, ein strebsamer Germanistikstudent, auftritt.
Aus Geldnot beschließt Edgar, einer Arbeit nachzugehen, ohne jedoch seine individuellen Eigenarten aufzugeben oder sich kritiklos anzupassen. Er schließt sich einer Malerbrigade an, wird aber auch hier schnell zum Außenseiter. Auf dem Höhepunkt des Konfliktes mit seinem Vorarbeiter Addi entsteht Edgars Traum, sich durch die Erfindung eines nebellosen Farbspritzgerätes vor der Brigade und vor seinen übrigen Bekannten profilieren und bestätigen zu können:
Und dann, wenn sie funktioniert, meine Spritze, wollte ich lässig wie ein Lord bei der Truppe aufkreuzen.[22]
Mit der Konstruktion dieser "Spritze" verbindet er außerdem die Hoffnung, seine privaten Probleme lösen und nach Mittenberg zurückkehren zu können.
Doch Edgars Träume werden dadurch zerstört, daß seine Laube als unbewohnbar erklärt wird und in einer Frist von drei Tagen abgerissen werden soll. Außerdem kündigt sich auch seine Mutter an, die von Willi die Adresse der Laube erfahren hat. Dieser Zeitdruck zwingt ihn dazu, Sicherheitsmaßnahmen zu vernachlässigen. Wegen eines defekten Transformators und eines unbrauchbaren Klingelknopfes, wird eine zu hohe Spannung in der Konstruktion erzeugt, so daß der elektrische Schlag beim Einschalten der Maschine für Edgar tödlich wirkt.
Im Gegensatz zu der herkömmlichen Form eines Theaterstückes bzw. einer Erzählung, setzt Plenzdorf eine sehr unkonventionelle Darstellungstechnik ein:
Es werden drei Informationsebenen deutlich. Am Anfang stehen drei Todesanzeigen und eine Zeitungsnotiz, als Dokumente für einen "tragischen Unfall"[23] . Eine weitere Ebene stellt die szenisch-dialogische Erinnerungsperspektive dar. Die Hauptrolle spielt hier Edgars Vater, der sich von Mutter und Kind getrennt hatte und nun - nach dem Tod seines Sohnes - dessen Lebenslauf rekonstruiert. Dazu befragt er die Personen, zu denen Edgar in seiner letzten Lebensphase Kontakt gehabt hat.
In einer dritten Perspektive läßt Plenzdorf Edgar - zeitgleich montiert - aus dem Jenseits ironisch und kritisch Stellung nehmen und die Aussagen der Befragten zurückblickend kommentieren. Punktuell werden diese Reflexionen zu inneren Monologen.
Durch die Kommentarebene gelingt es Plenzdorf, Ereignisse gleichzeitig aus zwei Perspektiven darzustellen. Dem Leser kann somit zum einen - aus der subjektiven Sichtweise Edgars - dessen Bestrebung nach Unabhängigkeit und individueller Selbstverwirklichung dargestellt werden, aus der Distanz können sie jedoch zugleich relativiert werden und erhalten eine gewisse Objektivität.
Eine solche Erzählmethode ermöglicht es Plenzdorf, Handlungesabläufe als real und objektiv darzustellen und gleichzeitig eine möglicherweise kritische Einstellung zu der Hauptperson zu schaffen. Sie setzt jedoch auch einen Leser voraus, der die häufig auftretenden Widersprüche zwischen subjektiver Darstellung und distanzierter Objektivierung zu lösen versteht und der aus den daraus resultierenden Fakten ein Gesamtbild erstellen kann.
Festzustellen ist außerdem, daß durch das vorweggenommene Ende und durch die beschriebene Erzählstruktur kein fließender Text vorliegt, in dessen Handlung man sich leicht hineinversetzten kann. Es entsteht beim Leser eher eine Distanz zum Geschehen und unter Umständen auch zur Hauptperson.
Plenzdorf vollzieht auch die Wertherrezeption auf mehreren Ebenen: Es bestehen Parallelen im Titel sowie inhaltlich ähnliche Handlungesabläufe, wie beispielsweise die Dreiecksbeziehung. Des weiteren verwendet Plenzdorf durch die Werther- Zitate direkt Elemente der Goethe - Vorlage.
Für Edgar spielt die Sprache in den Werther - Zitaten eine besondere Rolle. Dadurch, daß sie ihm zuerst fremd und unbekannt ist, ist er von der Ausdrucksweise fasziniert. Die emotionale Sprache des "Sturm und Drang" steht in einem bemerkenswerten Kontrast zu seiner Umgangssprache.
Edgar möchte die gängigen Sprachmuster der Gesellschaft nicht mehr benutzen, da er vermehrt Zitate aus Goethes Sturm und Drang Werk benutzt. Durch diesen individuellen Sprachstil wird die Absonderung von der Gesellschaft noch deutlicher. Im Umgang mit anderen Menschen setzt er diese Zitate als "Werther - Waffe" ein, ohne sich anfangs für die inhaltliche Bedeutung zu interessieren. Da seine jeweiligen Gesprächspartner mit den Zitaten nichts anfangen können, wirkt die Verwendung gewollt provozierend und wichtigtuerisch. Sie ist Edgars "schärfste Waffe"[24], mit der er andere schnell aus der Fassung bringen kann.
Werther - Zitate verwendet er auf dem Tonband an Willi oder im Gespräch mir Dieter. Da beide mit den Zitaten nichts anzufangen wissen - Willi bittet um einen neuen "Code" -, empfindet Edgar das Gefühl der Überlegenheit und wird sich seiner eigenen Stärke bewußt. Erfolgreich gelingt es ihm sogar, Charlies Verlobten Dieter damit zu imponieren, obwohl dieser ein Student der Germanistik ist.
Erst nach häufigerem Gebrauch und durch eigene Lebenserfahrung kann Edgar selbst Verständnis für die Zitate gewinnen. Er kann sie nun gezielt anwenden, um seinen Gemütszustand auszudrücken und sich selbst bewußt zu machen. Sie dienen als Selbstreflektion und spiegeln besonders in seinem Verhältnis zu Charlie Gefühle wieder. Charlie ist die einzige, die seine Zitate ernst nimmt und sie zu verstehen versucht.
Neben Goethes "Werther" findet noch ein zweites literarisches Vorbild einen zentralen Niederschlag in der vorliegenden Plenzdorf - Schrift: der von J.D. Salinger 1951 verfaßte Jugendroman "The Cather in the Rye".
In dem von H. Böll übersetzten Werk "Fänger im Roggen" geht J. D. Salinger als einer der ersten Autoren auf die Probleme und Wünsche junger Menschen ein. Es entsteht die Gattung "Jugendliteratur", die anschließend auch von anderen aufgegriffen wird und bis in die Gegenwart zu Verkaufserfolgen führt, wie das 1995 erschienene Buch "Ein verdammt starker Abgang" von U. Brizzi zeigt. [25]
Salinger paßt die Sprache in seinem Roman an den Slang der Jugend an, um eine Identifikation des jungen Lesers mit der Hauptfigur zu erleichtern. Dieses Mittel wird zu einem wesentlichen Bestandteil der Jugendliteratur.
Edgar empfindet deutlich Sympathien für Salingers Ich-Erzähler Holden Caulfield.
Wie er da in diesem nassen New York rumkraucht und nicht nach Hause kann, weil er von dieser Schule abgehauen ist, wo sie ihn sowieso exen wollten, das ging mir immer an die Nieren. [26]
Dieses ist darauf zurückzuführen, daß beide sich selbst verwirklichen möchten, die Normen der Erwachsenenwelt sowie ihre Erziehnugsmethoden ablehnen. Beide werden zu gesellschaftlichen Außenseitern, da sie versuchen, eigene Wünsche umzusetzen.
Es ist also deutlich zu erkennen, daß Plenzdorf den Grundkonflikt zwischen jugendlichen Vorstellungen und gesellschaftlichen Normen aus Salingers Werk übernimmt. Des weiteren benutzt er die Form der Jugendliteratur, und paßt die Sprache dem Slang junger Menschen an.
So äußert sich H. Caulfield über einen seiner Lehrer:
Noch deprimierender war, daß er einen trostlosen alten Morgenmantel an hatte, in dem er vermutlich auf die Welt gekommen war oder so. Ich sehe den alten Knaben überhaupt nicht gern in Pyjamas. [27]
Dementsprechend dürften in diesem Sinn Edgars Außerungen wie z.B. "Ich glaub mich tritt ein Pferd"[28] als "geflügeltes Wort" in die Literaturgeschichte eingegangen sein.
Die beschriebene Erzählweise zeigt den individuellen Schreibstil und den dokumentierenden Charakter seines Werkes (vgl. Seite 9; Abschnitt 4.1.2). Außerdem verstößt Plenzdorf gegen wesentliche Bestandteile damaliger Dichtung, die aus eindeutiger Aussage und Leserlenkung bestehen sollen. Ebenfalls vertritt er nicht das von der Kulturpolitik geforderte Bild eines sozialistisch denkenden Menschen.
Jedoch stimmt er mit jener auch überein, da er den marxistischen Leitgedanken nicht direkt ablehnt. Plenzdorf zeigt sich ferner von klassischer Goethe - Dichtung beeinflußt.
Die Tatsache, das Plenzdorf mit seiner Werther - Rezeption humanistisches Gedankengut verarbeitet und neu interpretiert, kann einerseits als geschickter Schachzug angesehen werden, um die Akzeptanz innerhalb der DDR-Kulturpolitik zu erlangen, andererseits enthält die im verfremdeten Kontext stehende Rezeption auch die aufklärende, kritische Intention Plenzdorfs (vgl. Punkt 6.5). Hier deutet sich erneut der Konflikt zwischen Plenzdorfs kritischer Einstellung und der Zensur in der DDR an. Das "offene Ende" (vgl. Abschnitt 6.4) kann somit auch als Mittel interpretiert werden, die Zensurmaßnahmen zu umgehen.
Durch diese Aspekte können verschiedene Strömungen, Einflüsse und Zwänge aufgezeigt werden, die offensichtlich auf Plenzdorf gewirkt haben.
Zusammenfassend kann nun begründet festgehalten werden, daß Plenzdorf zwar ein eingegliedertes und scheinbar angepaßtes Mitglied des DDR - Gesellschaft gewesen ist, jedoch keineswegs als fremdbestimmtes Produkt dieser Gesellschaft gesehen werden kann.
"Die Sache mit Edgar poppt"[29] stellt J. Kummer im Mai 1973 fest und verweist damit auf den Erfolg des Theaterstückes in Ost - und West - Berlin. Zu diesem Zeitpunkt wurde der "Renner" allein in West-Berlin zeitgleich in drei Theatern aufgeführt.
In der DDR wird der eigentlich gar nicht systemkonforme, jeanstragende Edgar auf 14 Bühnen dargestellt und das jugendliche Publikum "klatscht auf offener Bühne Beifall" [31]. "Edgar ist zum Idol der DDR-Jugend geworden" Sie können Edgars Bestrebungen und Gefühle nachvollziehen, ihre Identifikationsbereitschaft mit Plenzdorfs Hauptfigur ist sehr groß, trotz der Erzählperspektive (vgl. Abschnitt 4.1.2).
In einer Umfrage des "FDJ - Forums" antworteten 77 Prozent der Theaterbesucher mit "ja" auf die Frage: "Würden Sie mit Edgar befreundet sein wollen?"
Aufgrund des Erfolges in Ost und West ist die Reaktion der DDR Kulturpolitik gezwungen, sich mit dem Stück auseinanderzusetzten, da ein autoritäres Verbot unmöglich geworden ist.
Für eine ablehnende Interpretation ist die Auffassung von F. - K. Kaul herausragend, der Edgar als "verhaltensgestörten Jugendlichen" charakterisiert und feststellt: "Aber Dank der energischen Maßnahmen unseres Staates sind sie alles andere als repräsentativ für unsere Jugend". [33]
In einem späteren Brief an die Redaktion der DDR - Literaturzeitschrift "Sinn und Form" thematisiert derselbe kritisch die Sprache von Edgar als "Fäkalien - Vokabular". [34]
Plenzdorf selbst versucht die Kluft zwischen begeisterter Zustimmung und schroffer Ablehnung zu mildern, indem er darauf hinweist, daß "Die neuen Leiden" nicht als Anti - DDR - Stück zu interpretieren seien.[35]
Gemäßigte Stellungnahmen beziehen sich vermehrt auf das unglückliche Scheitern der Hauptperson, welche auf dem Anpassungsweg in die Gesellschaft einem "tragischen Unfall" [36] zum Opfer fällt.
Der immense Erfolg ist jedoch hauptsächlich auf die spezifischen politisch - geschichtlichen Bedingungen der damaligen Zeit zurückzuführen. In ihr gelingt es Plenzdorf, das auszudrücken, was Jugendliche und auch Erwachsene empfinden, denken oder sich wünschen.
In zeitgenössischen Stellungnahmen heißt dieses beispielsweise, daß Plenzdorfs Werk "authentisch die Gedanken, die Gefühle der DDR - Arbeiterjugend" [37] formuliert. Auch in der Laudatio bei der Verleihung des Heinrich-Mann-Preises im Jahre 1973 wird das Werk als "ein Gleichnis jugendlichen Denkens und Empfindens in unserer Zeit und in unserem Land" bezeichnet.
Die Vielschichtigkeit wird von der DDR - Bevölkerung nur ungenügend wahrgenommen. Bei dem Massenerfolg in der DDR wird das Werk weitgehend simplifiziert und man konzentriert sich vornehmlich auf den Hauptcharakter Edgar. Dies führt zum einem zu begeisterten Lesern, die sich mit der Titelfigur identifizieren können, aber auf der anderen Seite auch zu Kritikern wie Peter Ulbrecht, der dem Autor ein "subjektives Verhältnis zu seinem Held" vorwirft oder Rainer Kerndl, der meint die "qantitative Übergewichtigkeit der Zentralfigur führt zur qualitativen Begrenztheit des realistischen Wirklichkeitsgehaltes" [39].
Mit einer ähnlichen Meinung äußerte sich auch F.-K. Kaul, der in Plenzdorfs Werk ein "sozial-politisches Gegengewicht" vermißt und dadurch eine "Verfälschung" der Realität diagnostiziert [40].
Ganz anders erfolgt die Aufnahme in der Bundesrepublik, in der das kritische Element gegenüber dem DDR - System betont wird. Edgar wird als rebellischer Jugendlicher gesehen, der innerhalb der sozialistischen Gesellschaft keine ausreichende Entfaltungsmöglichkeit besitzt.
M. Reich - Ranicki, der sich differenziert mit dem Stück auseinandersetzt, kritisiert im Hinblick auf Goethe und Salinger das "Epigonale" und meint: "Plenzdorfs Rückgriff auf den "Werher" erweise sich als
amüsanter Trick, als frappierter Gag". [41]
Das Publikum verkennt jedoch größtenteils die konkrete Intention des Romans, da es in der Bundesrepublick in einer politischen und kulturellen Umgebung aufgeführt wird, für die es nicht verfaßt worden ist. Man spricht dem Werk jegliche Intention oder Qualität ab. Bezeichnungen des Stückes als "grenzenlose Banalität" oder als das Werk ohne "Kunst - Gehalt" , wie hier von Joachim Kaiser, sind keine Seltenheit.
Der Spiegel charakterisiert Edgar als "sozialistischen Neuerer auf romantischen Ego-Trip"[43]. Er verkörpere das "Lustprinzip" und das "neue Selbstbewußtsein der DDR Jugend" .
Während in der DDR breite Schichten der Bevölkerung Personen oder Situationen in dem Roman wiedererkennen konnten, dient er in der BRD fast ausschließlich als "Spielvorwand und Spaßanlaß"[45].
Ursachen, die das Werk auch im Westen erfolgreich machten sind "die Schnauze" Edgars und "das Herz"[46].
Zusammenfassend stellt F. Luft das kurzfristige Interesse an dem Werk mit der Aussage fest:"Patient auf dem Transport verstorben". [47]
Im Vergleich zu der Popularität des Werkes in der Zeit nach der Veröffentlichung, kann man sagen, daß das Interesse des Publikums heutzutage stark zurückgegangen ist. An Schulen gehört es heutzutage nicht zwangsläufig in den Lehrplan, unter jungen Menschen ist es wenig bekannt.
Im Rahmen der Facharbeit muß dieser Aspekt äußerst pointiert abgehandelt werden. Es ist nur möglich, einzelne Schwerpunkte, die für die Aussage der Arbeit von größerer Wichtigkeit sind, zu thematisieren.
So finden z.B. die Familienstruktur von Edgar, die Entwicklung der Dreickesbeziehung genauso wenig Beachtung, wie der durchaus sehr interessante Charakter von Einzelpersonen, wie z.B. von "Old Zeremba" [48].
Eine zentrale und oft diskutierte Interpretationsfrage ist, ob Edgars Scheitern auf einer individuellen Fehlleistung beruht oder ob diesem gesellschaftliche Ursachen zu Grunde liegen.
So wird in verschiedenen kritischen Stellungnahmen zu Plenzdorfs Werk Edgar als ein arbeitsfauler Außenseiter der Gesellschaft dargestellt, dessen Denkweisen nicht repräsentativ für die Meinung der DDR - Jugend seien.[49]
Die Kritik kann jedoch nicht nur durch die hohe Identifikationsbereitschaft der DDR - Jugend mit Plenzdorfs Hauptcharakter, sondern auch durch eine vertiefende inhaltliche Interpretation widerlegt werden, wie der eingehende Blick in den Text beweist.
Es gilt zu beachten, daß Edgar lange Zeit die Rolle eines vorbildlichen Musterknaben spielt, sein Sinneswandel ist eine Reaktion auf negative Erfahrungen. Diese sind, auch relativiert durch die Retrosperspektive, die Lehrmethoden des Ausbilders Flemming, die kleinbürgerlichen Moralvorstellungen seiner Mutter oder allgemein das ihm von der Gesellschaft auferlegte Rollenverhalten, berechenbar und angepaßt zu handeln. Edgar legt Wert darauf, als Individuum ernst genommen zu werden. Beispiel hierfür ist sein Arger über die falsche Aussprache seine Namens: "Wibau"[50] . Als besonderer literarischer Kunstgriff von Plenzdorf darf die Wahl des Namens angesehen werden, da er als Metapher für individuelles Freiheitsstreben der Hugenotten gilt.
Es lassen sich somit objektive Gründe finden, die zeigen, daß Edgars Verhalten als ernstzunehmende Kritik an realen Einschränkungen seiner persönlichen Freiheit zu deuten ist. Sein Verhalten nur als persönlich motivierte jugendliche Unmutsäußerung zu behandeln, ist demnach unzureichend.
Durch die insgesamt jedoch etwas blasse Dieter-Figur wird der Kontrast unterschiedlicher Lebensauffassungen und Verhaltensweisen verdeutlicht. Dieter gilt als Vertreter der kleinbürgerlich - spießigen Erwachsenenwelt. Seine Wert - und Normenvorstellungen sind identisch mit den vorbildlichen Charaktereigenschaften des "positiven Helden", so wie sie von der Kulturpolitk eigentlich verbreitet werden sollten. Edgars Abneigung gegenüber dieser Figur, die ihre Bücher nach der Größe ordnet[52] , stellt also nicht nur spezielle Kritik an dessen Ordnungssinn dar, sondern - allgemein gesehen - Kritik an vorherrschenden Tendenzen der kleinbürgerlichen Bequemlichkeit sowie dem ausgeprägten Funktionärsdenken.
Aus Geldmangel und aus Langeweile wendet sich Edgar nach dem kurzen Leben in Abgeschiedenheit der Baubrigade zu. Ihm wird bewußt, daß er sich auf Dauer nicht den gesellschaftlichen Forderungen entziehen kann. Aus der Retrosperspektive kommentiert Edgar sein eigenes Verhalten: "Ich hatte auch nichts gegen den Kommunismus und das, [] aber gegen alles andere"[53].
Dieses verdeutlicht, daß Edgar nicht gänzlich gesellschaftsablehnend eingestellt ist, sondern nur einzelne Elemente als objektive Mißstände kritisiert. Doch auch in der Brigade wird er schnell zum Außenseiter, da er sich ihren Forderungen und Meinungen nicht anpassen oder unterordnen will. Er provoziert seine Kollegen durch Werther - Zitate oder erledigt seine Arbeit nicht gewissenhaft.
Als Außenseiter schafft er es nicht, Anerkennung zu gewinnen. Der Versuch der Eingliederung endet schließlich in einer Verstärkung der ablehnenden Haltung Edgars gegenüber der Gesellschaft. Edgar:
Ich hatte nichts gegen Arbeit. Meine Meinung dazu war: Wenn ich arbeite, dann arbeite ich, und wenn ich gammle, dann gammle ich. [54]
Auf sich allein gestellt versucht er nun, durch die Farbspritzpistole Bestätigung zu erhalten, und somit den Weg in die Gesellschaft zu finden. Zwischenzeitlich wird er jedoch durch Fürsprache eines Kollegen wieder in die Brigade aufgenommen. Obwohl er nun Konflikte mit der Gesellschaft vermeidet, ist diese Anpassung nur scheinbar. Er arbeitet weiter an der Farbspritze, auch um sich selbst zu bestätigen, und nicht ausschließlich, um der Allgemeinheit einen Nutzten zu erweisen. Dieser Sachverhalt zeigt aber auch, daß Edgar sehr wohl versucht, sein Leben auf die Gesellschaft auszurichten. Seine individuellen Bestrebungen sind jedoch zumindest vorübergehend unvereinbar mit den Gedanken der Gesellschaft. In seinen Absichten zeigt er sich aber auf keinen Fall einseitig als "arbeitsfauler Außenseiter".
Durch das Beschäftigen mit dem nebellosen Farbspritzgerät verdeutlicht Plenzdorf den Versuch seiner Hauptfigur, etwas selbständig zu erarbeiten, mit dem Ziel, seinem Leben in der Gesellschaft einen Sinn zu geben. Edgar unterwirft sich somit auch einem gewissen Leistungsdruck, der jedoch von ihm selbst bestimmt ist. Gleichzeitig befindet er sich damit deutlich auf dem Weg der Anpassung. Das tragische Ende ist somit nicht als "letzte Konsequenz des Einzelgängertums"[55] zu verstehen, sondern wird von Plenzdorf verwendet, um zu zeigen, wie wenig Edgar auf dem Weg zu seiner individuellen Freiheit von den sozialistischen Gesellschaftsstrukturen unterstützt wird, sondern eher kontraproduktiv durch
den von außen erzwungenen Zeitdruck eingeengt wird.
Plenzdorf bestätigt dieses selbst, indem er bei einem Interview auf die Frage: "Wir wollen das Stück spielen als Warnung an alle, die es angeht, so mit Edgar und seinesgleichen umzugehen. Was sagen Sie dazu?" mit "schon recht" antwortet.[56]
Die Deutung, daß das Ende die Konsequenz der gesamten Erzählung ist, bekräftigt Plenzdorf, indem er sagt, daß der Tod Edgars nicht als "realer Fakt oder tragischer Fakt", "sondern vielmehr als ein "Einen-Gedanken-zu-Ende-Denken"[57] zu sehen ist und verdeutlicht, daß Edgar seinen Platz nicht im gesellschaftlichen Kollektiv finden kann. Die Wirkung des "offenen Endes" besteht laut Rolf Fieguth aus einem "Ausrufezeichen hinter dem unausgesprochenen Postulat nach einer Integration in die sozialistische Gemeinschaft, in der sich Sensibilität und Anderssein bewahren ließen".
Einen beachtlichen Schuldanteil am Scheitern Edgars trägt somit die Gesellschaft, da sie die Talente und Fähigkeiten des Individuums nicht fördert, sondern vielmehr fürchtet und unterdrückt.
Demenstprechend läuft eine der letzten Sätze von Edgar aus dem Jenseits wieder auf Distanz zur Gesellschaft hinaus: "Aber ich wäre doch nie wirklich nach Mittenberg zurückgegangen"[59]
Im Vergleich zu Goethes Roman spielt das Liebesverhältnis bezüglich des Todes nur eine untergeordnete Rolle.
In dem Briefroman "Die Leiden des jungen Werther" wird der Leser durch die gewählte Perspektive in die Gedanken des Hauptcharakters versetzt. Beide Autoren haben durch die Auswahl von Erzählstil und Sprache versucht, Strömungen der jeweiligen Zeit aufzunehmen, um somit eine Identifikation des Lesers mit dem Inhalt zu ermöglichen bzw. zu erschweren.
Diese jeweiligen Strömungen können am besten verdeutlicht werden, betrachtet man die Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Werke:
Eine deutliche Parallele von Goethes Hauptcharakter Werther und Plenzdorfs Titelfigur Edgar W. ist das Ablehnen gesellschaftlicher Zwänge. Durch die Gesellschaft fühlen sich beide Charaktere in ihrer Freiheit eingeschränkt.
Die Ursachen der Ablehnung sowie die Verwirklichung des individuellen Lebenswegs gehen auf zeit - und gesellschaftliche Umstände zurück.
So zieht sich Goethes Werther zurück, weil das Verstandesdenken und die Moralvorstellung seiner Umwelt ihn an dem Ausleben seiner intensiven Gefühle hindert. Werther stellt somit das Genie des Sturm und Drangs dar, welches sich nach einem irrationalen Lebensgefühl sehnt.
Die Form der Selbstverwirklichung vollzieht sich bei Goethe im Zurückziehen in die Natur, bei Edgar Wibeau äußert sie sich in einem isolierten Leben in einer Laube in Ostberlin.
Aber auch die Moralvorstellungen und die Gefühlsebene der jungen Menschen werden von Plenzdorf den zeitlichen Umständen angepaßt. Dieses wird besonders deutlich, vergleicht man die Liebesverhältnisse beider Werke: Sowohl Edgar als auch Werher geraten in ein Dreickesverhältnis, welches bei Plenzdorf aus der Konstellation Edgar - Charlie - Dieter besteht, bei Goethe aus der Gruppierung Werther - Lotte - Albert. Bei einer nähren Betrachtung erscheinen diese Parallelen jedoch als oberflächlich. Besonders offensichtlich werden die Unterschiede, betrachtet man die Auswirkung der Liebesverhältnisse auf die jeweilige Hauptperson.
Da Goethes Werther von der Liebe vollkommen erfüllt wird, leidet er auch dementsprechend unter der Trennung. Die Liebe Werthers zu Lotte steigert sich so sehr, daß er von ihr behauptet "Sie ist mir heilig" und über sich selbst sagt "Ich bin kein Mensch mehr". Es wird deutlich, daß die Liebe jegliche gesellschaftliche Konventionen übersteigt.
Werther ist sich jedoch auch darüber bewußt, daß sich seine Gefühle jeglicher Rationalität entziehen und nicht die realistischen Umstände seines Liebesverhältnis beachten. Zu spät wird ihm deutlich, daß er den Normenkodex der Gesellschaft nicht überwinden kann, seine gesellschaftliche Eingliederung wird endgültig unmöglich.
Zwar empfindet auch Edgar Zuneigung, entgegengesetzt zu Werther leidet er jedoch nicht so stark an der letztendlich unerfüllt bleibenden Liebe. Ihm gelingt es, sich mit der Situation abzufinden.
Mit diesem Unterschied zeigt Plenzdorf die jugendliche Lebensprämisse seiner Zeit auf, denn Edgar äußert eine andere Einstellung gegenüber Gefühlen als Werther. Er analysiert diese nicht und trauert ihnen auch nicht hinterher. Aus diesem Grund entsteht für ihn auch kein Konflikt, der ihn zur Selbstzerstörung treibt.[60]
Am Ende beider Werke steht der Tod der jeweiligen Titelfigur. Bei Werther geschieht dieses durch einen Selbstmord, bei Edgar durch einen Unfall. Im letzteren ist jedoch mehr als nur eine Verkettung von unglücklichen Zufällen zu sehen. Vielmehr muß man die bewußt verwendeten Parallelen zwischen beiden Werken weiterführen, indem man den jeweiligen Tod als Scheitern an der gesellschaftlichen Wirklichkeit interpretiert. Das Scheitern an sich, ist jedoch wiederum persönlichkeits - und gesellschaftsbedingt. Aus dem unterschiedlichen zeit - und gesellschaftsspezifischen Kontext ergibt sich ein unterschiedlicher Romanausgang.
So ist Werthers Selbstmord eine notwendige Konsequenz, da die gesellschaftlichen und persönlichen Differenzen unüberbrückbar erscheinen. Schuld am Scheitern wird sehr deutlich der Gesellschaft gegeben.
Diese eindeutige Schuldzuweisung kann Plenzdorf nicht aussprechen, da die Kulturpolitik eindeutige Systemkritik zensiert. Er muß sich hier also gesellschaftlichen Umständen anpassen und das Ende auf Auslegung verfassen, um überhaupt sein Werk veröffentlichen zu dürfen. In diesem Sinn ist von einem "offenen" Ende zu sprechen, das die Frage nach dem Schuldanteil auf gesellschaftlicher bzw. individueller Seite erst stellt.
Dieses bestätigt Plenzdorf selber mit der Aussage:
Durch die ungeheure Breite der Assoziationsmöglichkeiten [ist das Werk] bewußt auf Auslegbarkeit geschrieben [] [61].
Mit seinem Werk überträgt Plenzdorf die Werther - Thematik auf die Moderne. Aus Goethes Stück eliminiert er den historischen Kontext und setzt das Thema in die Gegenwart. So übernimmt Plenzdorf die Lebensprämisse der jungen DDR - Generation, und läßt sie in ihrem eigenen gesellschaftlichen Umfeld agieren. Dadurch kommen die wesentlichen Abänderungen zu Goethes Lektüre zustande. Er zeigt somit, daß der schon von Goethe festgestellte Gesellschaftskonflikt zu jeder Zeit möglich ist, die Lösungen und Ursachen jedoch auf die jeweiligen gesellschaftlichen Umstände bezogen werden müssen. Um dieses zu erreichen, läßt Plenzdorf realistische Lebensumstände in sein Werk fließen.
Beide Figuren repräsentieren weiterhin die Lebensvorstellung sowie die Wünsche und Ziele der jeweiligen Generation. Dieses ist bei Werther besonders die Auffassung von Natur, Kunst oder Liebe, bei Edgar der Musikgeschmack, das Tanzen oder die langen Haare. Die unterschiedliche Auffassung der Liebesverhältnisse bestätigen diese Erkenntnis.
Trotz aller Anderungen hat Plenzdorf jedoch den Werther - Typus, nämlich einen nach Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung strebenden jungen Menschen von Goethe übernommen. Dessen Differenzen mit der Gesellschaft führen auch in den "Neuen Leiden" zu einem tragischen Ende. Das ähnliche Scheitern an der Gesellschaft wird direkt durch die Werther - Zitate bestätigt, die im Verlauf der Handlung Edgars Gefühlszustand verdeutlichen. Die Differenzen mit der Gesellschaft sowie die Isolation aus ihr lösen bei beiden ähnliche Gefühle aus. Führt man diese Parallelen weiter, so müßte auch Edgars Tod Kritik am gesamten System bedeuten. Direkt aussprechen kann Plenzdorf ein solches Fazit jedoch nicht, da er sich durch die Zensurmaßnahmen der Politik im gewissen Maße an die Gesellschaft anpassen mußte. Die Werther - Rezeption ermöglicht Plenzdorf aber in gewisser Weise der DDR - Zensur zu entgehen, möglicherweise ist hiermit das für Plenzdorf wichtigste Motiv der Werther - Rezeption benannt.
Trotz seiner aufklärenden Intention äußert Plenzdorf keine konkrete Kritik an dem sozialistischen Regierungssystem. Auch versucht er durch den bereits analysierten Erzählstil eigentlich keine Identifikation mit dem Einzelgänger Edgar zu erzeugen, da ihm Objektivität sehr wichtig ist. Seine Absicht faßt Plenzdorf selbst in folgender Aussage pointiert zusammen:
Es ist für mich keine Frage, daß man die Wirklichkeit nach ihrer Deckung mit den Idealen immer wieder befragen muß [62].
Wie sein Hauptcharakter Edgar ist er nicht gegen das System, sondern spricht sich lediglich gegen die reale Umsetzung aus.
Betrachtet man den Einfluß von Salingers Werk "Der Fänger im Roggen", so verdeutlicht Plenzdorf mit seiner Person Edgar die Sehnsüchte jugendlicher Menschen. Er stellt das Problem des Generationskonfliktes dar und beschreibt deutlich das ablehnende Verhalten von Jugendlichen gegenüber den tradierten Normen der Erwachsenengeneration. Ferner kritisiert er das Erziehungs - und Ausbildungswesen.
Die Goethe Rezeption hat jedoch gezeigt, daß es für Plenzdorf wichtiger ist, den Typus eines auf Selbverwirklichung strebenden Menschen in den sozialistischen Hintergrund zu übertragen.
So kommt es, daß Edgar zur einen Hälfte ein rebellischer, provozierender Jugendlicher wie Holden ist, zur anderen Hälfte aber auch ein ernst zu nehmender Mensch wie Goethes Werther - Figur, dessen Individualität mit Tendenz zum Genialen in einen Konflikt mit der Gesellschaft gerät.
Außerdem beinhaltet sein Werk realitätsträchtige Details und führt zu einer Darstellung der DDR- Wirklichkeit, die als Hintergrund der gesamten Handlung dient.
Es kommen also drei wichtige Strömungen in seinem Werk zusammen, die nicht immer nahtlos ineinander übergehen.
Diese sind die von Salinger übernommenen Zeitprobleme junger Menschen, Goethes Werther - Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft und die sozialistische Wirklichkeit, auf die alles bezogen wird und in der die Ursachen für Edgars Scheitern gefunden werden müssen.
Jeden Teil einzeln zu betrachten wäre falsch und würde Plenzdorfs Intention verfehlen. In Verbindung gesehen kann man sie jedoch zu dem gemeinsamen Schluß zusammenführen, daß Plenzdorf in seinem Werk "Die neuen Leiden des jungen W." ein Plädoyer für eine Weiterentwicklung der sozialistischen Gesellschaft hält. Um seine Intention zu verstärken greift er zu Mitteln des Dramatischen, wie zum Beispiel an Edgars Tod zu sehen ist. Ihm ist es wichtig durch Provokation und Übertreibung eine große öffentliche Resonanz zu erzielen. Heute liegt das Werk in einer Theater- einer Film, einer Hörspiel, und einer Prosafassung vor. Das Werk soll Menschen aller Schichten und Altersgruppen ansprechen. An sie gerichtet formuliert er die Forderung nach einer liberaleren und toleranten Gesellschaft, dessen Mitglieder sich individuell selbstverwirklichen können. Hierzu dienen seine Erfahrungen aus dem Bereich des Theaters und seiner Arbeit bei der DEFA.
Diese Intention Plenzdorfs läßt - etwas abstrakter gesehen - in Bezug auf seine Umgebung deutlich seine Beeinflussung durch das marxistische - leninistische Studium erkennen. Denn auch Marx vertritt die Einstellung, daß nicht die Gesellschaft einen Menschen prägt, sondern Menschen die Gesellschaft gestalten. Genau dieses dialektische Prinzip stellt Plenzdorf in seinem Werk dar, indem das Spannungsfeld zwischen Anpassung und Auslegung zum Thema wird.
Diese Beziehung zwischen Einzelmensch und Gesellschaft steht im Mittelpunkt seines Werkes, denn die Möglichkeit individueller Selbstverwirklichung ist das zentrale Anliegen von Plenzdorf. Nur ein selbständig denkender Mensch ist in der Lage, Dinge kritisch zu betrachten und auch das Kollektiv einer Gesellschaft zu prägen.
Alle Elemente der Regierung, die darauf ausgelegt sind, Menschen angepaßt und konform zu machen und somit Individualität zu unterdrücken, werden von Plenzdorf kritisiert. Zu diesen gehört beispielsweise die Erziehung, das Bildungssystem oder die Kollektivarbeit in der DDR. Würden sich diese Elemente in Plenzdorfs Sinne ändern, so könnte eine sozialistische Gesellschaft entstehen, in der Menschen individuell Denken und Handeln könnten.
Mit dieser Intention wendet er sich durch Edgar Wibeau direkt an die Menschen in der DDR. Denn sie wären in der Lage gewesen durch ein anderes Bewußtsein und Verhalten konkret solche Veränderungen herbeizuführen.
Dem großen Erfolg der "Neuen Leiden" in den 70er Jahren steht gegenwärtig ein nahezu völliges Vergessen von Autor und Werk gegenüber. Welche Erklärungen können für dieses Entwicklung gegeben werden?
Es ist in der Facharbeit dargestellt worden, daß die Veröffentlichung erst möglich geworden ist durch die Liberalisierung der DDR Kulturpolitik zur Zeit Honeckers.
Wenn man von den festen Positionen des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet der Kunst und Literatur keine Tabus geben [63].
Für P.J. Brenner stellt Plenzdorfs Werk sogar "die endgültige Abwendung von tradierten Positionen der Literaturtheorie und Politik in der DDR"[64] dar.
Damit kommt dem Plenzdorf Werk in einer ganz besonderen gesellschaftlichen Situation ein hoher, innovativer Wert zu. Zum zweiten stellt die aktive - kritische Auseinandersetzung mit der DDR - Vergangenheit einen wichtigen Erklärungsansatz dar.
Festzuhalten ist, daß sich in dem Text expressis verbis keine entscheidende bzw. grundlegende Ablehnung des real existierenden Sozialismus findet. Eher indirekt werden Elemente des Systems kritisiert, wie z.B. die Art der Ausbildung.
Im Mittelpunkt des Werkes steht demgegenüber das Streben nach individueller Selbstverwirklichung von Edgar Wibeau. Veranschaulicht zum einen durch den Ort der Handlung - in einer verlassenen Gartenlaube - sowie dem Wunsch nach "Allein - Sein", d.h. außerhalb des Kollektives einer sozialistischen Gesellschaft. In dieser besonderen nach sozialistischen Vorstellungen unangebrachten Lebenssituation findet er seine Freiheit.
Plenzdorf dürfte in diesem Punkt durch seine eigene Integration in die Gesellschaft selbst gespürt haben, wie die Gefühle junger Menschen strukturiert waren. Nur so konnte es ihm gelingen, diese so authentisch umzusetzen. Neben dem literarisch Neuen kommt damit der hohe Grad von Authentizität des Werkes zu diesem Zeitpunkt.
Beachtung muß zusammenfassend auch den literarischen Verbindungen geschenkt werden. Besonders der "Werther - Bezug" hat den "Neuen Leiden" in Ost und West Beachtung gesichert. Bezüglich der DDR durfte - neben den bereits ausgeführten Aspekten - die Adaption der Werther - Thematik (Streben nach Selbstverwirklichung) ein besonderer Schutz vor der DDR - Zensur gewesen sein, da Goethe wie bereits aufgezeigt, ein akzeptierter Dichter gewesen ist (vgl. Abschnitt 3.2 ).
Ein Schonraum also in dem der neue Werther Edgar seine Jeans - Weltanschauung und Salinger - Sprache verbreiten kann. Es wird an dieser Stelle deutlich, daß die Kombination des offiziell akzeptierten Goethe mit dem in der DDR nicht gelesenen Salinger unter den damaligen Zeitumständen für die Leser bzw. Theaterzuschauer einen ganz besonderen Reiz entfaltet hat.
Richtig gelesen enthalten viele Außerungen von Edgar systemkritische Züge, z.B. als er zu der Maler -Brigade kommt: "Sie renovieren alle Berliner Wohnungen, immer gleich hausweise" [65]
Und der Vorarbeiter Addi stellt sich mit den Worten vor: "Morgen sagt man, wenn man reinkommt!"
Dazu kommentiert Edgar: "Den Typ kannte ich. Frag so einen nach Salinger []"[66]
Für die Jugendlichen in der DDR dürfte dieser harmlos klingende Text ein Hinweis auf die Lebenswirklichkeit gewesen sein und dem Autor hohe Anerkennung für seine augenzwinkernde, "indirekte" Kritik eingebracht haben.
Im Ergebnis muß man festhalten, daß sich die tiefere Bedeutung und begeisterte Aufnahme des Buches aus den gesellschaftlichen Umständen ergeben.
Den einzigartigen Gehalt bekommt der Romans "Die neuen Leiden des jungen W." nur dadurch, daß er seine spezielle Bedeutung nur in seinem Verwendungszusammenhang in der DDR enthält, und zwar dadurch, daß der Kontrast zwischen der Gesellschaft und dem Thema des Werkes deutlich wird. Trotz dieser Diskrepanz ist es Plenzdorf gelungen, in den starren sozialistischen Gesellschaftsstrukturen der damaligen DDR Menschen anzusprechen (was die positive Resonanz gezeigt hat), obwohl er sein systemkritisches Stück so den gesellschaftlichen Umständen anpaßt, daß es die Zensur umgehen kann. Mit seinem Werk gelingt es Plenzdorf also, sich den Zwängen einer Gesellschaft anzupassen und sich nach ihnen zu richten, gleichzeitig aber auch diese zu kritisieren und zeitgenössische Gefühle auszudrücken. Er orientiert sich somit sehr stark an den gesellschaftlichen Bedingungen, da aus dieser nicht nur sein eigener Lebenslauf resultiert, sondern auf selbige auch seine Intention abzielt, sowie die Bedingungen, die für das Entstehen des Werkes von Bedeutung sind auf ihr basiert.
Nach den politischen Veränderungen in den 90er Jahren haben sich diese Rahmenbedingungen grundsätzlich geändert (Deutsche Einigung), und fast automatisch hat danach dieses Werk seine Bedeutung verloren. Das Resultat der Überlegungen führt zu der Erkenntnis, daß das vorliegende Plenzdorf - Werk in seiner Wertigkeit exemplarische Bedeutung hat für Literatur, die von den gesellschaftlichen Zeitumständen abhängig ist.
Die von Reick - Ranicki (vgl. S.4) getroffene Einschätzung hat sich damit als grundsätzlich richtig erwiesen
Das Epigonale der "Neuen Leiden" ist zwar reizvoll und auch in Verbindung mit der Erzählperspektive als geschichtlicher Kunstgriff anzusehen, insgesamt hat Plenzdorf jedoch kein substantielles Werk geschaffen, daß wie Goethes Werther oder auch Sanlingers "Fänger im Roggen" eine zeitlose literarische Wirkung über die Zeitumstände der Entstehung hinaus besitzt.
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Wolfgang, Emmerich |
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Leipzig 1996 |
Hiermit erkläre ich, daß ich damit einverstanden bin, wenn die von mir verfaßte Facharbeit der schulinternen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.
(Ort, Datum)
M
(Name)
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(Unterschrift)
Hiermit versichere ich, daß ich die Arbeit selbständig angefertigt, keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt und die Stellen der Facharbeit, die im Wortlaut oder im wesentlichen Inhalt aus anderen Werken entnommen wurden, mit genauer Quellenangabe kenntlich gemacht habe.
Verwendete Informationen aus dem Internet sind dem Lehrer vollständig im Ausdruck zur Verfügung gestellt worden.
(Ort, Datum)
(Name)
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(Unterschrift)
Angaben zum Lebenslaufes sind hauptsächlich entnommen aus: Behn, Manfred: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen
Gegenwartslitaratur, München 1991, Seite 1 - 11
Biermann, W.: Verse aus dem Jahre 1962, zitiert nach Hotz, Karl: Goethes "Werther" als Modell für kritisches Lesen, Klett
Verlag, Stuttgart 1980, Seite 201
Honecker, E.: Der Geburtshelfer des Neuen., a.a.O. Seite 35
Schlagwörter der 1. Bitterfelder Konferenz 1959 entnommen aus: Thurich, E. und Endlich, H.: Deutschland in den fünfziger
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Angaben beruhen auf Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte, erweiterte Neuausgabe Leipzig, 1996 Seite 34
Verfassung der DDR, Artikel 2 Absatz 4 von 1968, zitiert nach Thurich, E. und Endlich, H.: Zweimal Deutschland, Diesterweg
1979 Seite193
Abusch, A.: Zur Funktion der Goethe Rezeption in der Kulturpolitik der DDR, in: Theaterforum 1973, Seite 15
Jakobs, K.-H.: Laudatio zum Heinrich - Mann Preis, in: Mitteilungen, Akademie der Künste der DDR, 1973 S.20
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