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Biographie des Autors
Inhaltsangabe
Interpretation einzelner Sätze des Buches
Interpretation der ersten Sätze
Die Erzählung vom Schwan Thinka
Die Marquise löst sich vom Elternhaus
Die Versöhnung der Marquise mit ihrem Vater
Interpretation der letzten Sätze
Literaturverzeichnis
Heinrich von Kleist (1777-1811)
Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist wird am 18. Oktober 1777 als Sohn des Hauptmanns Friedrich von Kleist in Frankfurt an der Oder geboren. Er stammt aus einer alten preußischen Familie und tritt nach dem frühen Tod seines Vaters (Kleist ist 11 Jahre) im Alter von fünfzehn Jahren in das Potsdamer Garderegiment ein; dies mehr aus Familientradition, als aus Begeisterung für den Soldatenberuf. Fünf Jahre später stirbt seine Mutter. Er nimmt an dem Feldzug gegen Frankreich 1793 teil und scheidet bereits 1799 als Leutnant aus der Armee aus.
Von da an wird sein Leben ein qualvolles, ruheloses Wandern, da ihm jegliche berufliche Eingliederung in die Gesellschaft mißlingt. 1799 beginnt er in Frankfurt an der Oder Jura zu studieren. 1801 lebt er in Paris, dann in der Schweiz. Er kehrt nach Deutschland zurück, doch schon 1803 beginnt abermals ein unruhiges Wanderleben, das ihn über Leipzig und Dresden abermals nach Frankreich führt.
Schon seit frühester Jugend quält ihn der Gedanke nach dem Sinn des Lebens. Mit Hilfe der Wissenschaft meint er, müsse man einem Gesetz auf den Grund kommen können, nach dem die Welt organisiert sei. Er studiert Jura und Philosophie und verlobt sich mit der Generalstochter Wilhelmine von Zenge, die er mit seinen pedantischen Erziehungsversuchen quält. (Vorübergehend hat er eine Stellung als diplomatischer Beamter in Berlin)
Durch das Studium der Philosophie Immanuel Kants in tiefe Unruhe gestürzt, unternimmt er, gemeinsam mit seiner Schwester eine Reise nach Paris, um seine Studien dort fortzusetzen. Anschließend fährt er in die Schweiz und möchte ein kleines Bauerngut übernehmen (aus Begeisterung für die Lehren Rousseaus). Seine Verlobte zeigt wenig Verständnis für das Leben einer Bäuerin und löst die Verlobung. So scheitert dieser Versuch, seinem Leben einen Sinn zu geben.
Allmählich setzt sich in ihm der Glaube an sein dichterisches Vermögen durch, obwohl er ursprünglich die Wissenschaft als seine Lebensaufgabe angesehen hat. Er schreibt seine ersten Dramen. Nach einem längeren Besuch bei Christoph Martin Wieland in Weimar und einem abermaligen Aufenthalt in Paris erhält er 1805 in Königsberg eine Anstellung als Hilfsbeamter, besucht Vorlesungen an der Universität und hat Zutritt zu den besten Familien der Stadt.
1807 wird er der Spionage verdächtigt und gerät in französische Gefangenschaft. Nach seiner Freilassung läßt er sich zwei Jahre in Dresden nieder. Er gibt die Zeitschrift "Phöbus" heraus und bringt Fragmente aus seinen Dramen und Novellen.
Der einstige Anhänger Rousseaus wird zum erbitterten Napoleongegner und Fürsprecher eines deutschen Nationalismus ("Hermannschlacht"). Sein Weg führt ihn nach Wien, wo dieses patriotische Stück aufgeführt werden sollte, aber die Besetzung Wiens durch die Franzosen nach der Schlacht bei Wagram macht die Aufführung unmöglich. Verbittert über den Sieg Napoleons flieht er über Prag nach Berlin, wo er 1809-1910 die "Berliner Abendblätter", eine politische Zeitschrift, herausgibt. Diese geht jedoch nach drei Monaten ein, und er gerät in wirtschaftliche Not. Dies, seine Enttäuschung über den Zusammenbruch Österreichs und die fehlende Anerkennung seiner Dichtung treiben ihn in den Tod, und er erschießt sich und seine unheilbar kranke Geliebte Henriette Vogel am 21. November 1811 am Wannsee in Berlin.
Werke:
Dramen:
"Die Familie Schroffenstein" (1802)
"Amphitryon" (1805)
"Der zerbrochene Krug" (1806)
"Die Hermannschlacht" (1808)
"Das Käthchen von Heilbronn" (1808)
"Penthesilea" (1808)
"Robert Guiskard, Herzog der Normänner" (1808)
"Prinz Friedrich von Homburg" (1810)
Novellen:
"Michael Kohlhaas" (1806)
"Die Marquise von O" (1808)
"Die Verlobung in St. Domingo" (1811)
Erzählungen:
"Das Erdbeben in Chili" (1807)
"Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege" (1810)
"Das Bettelweib von Locarno" (1810)
"Der Findling" (1811)
Seine Lebens- und Kunstanschauung, den Streit zwischen Instinkt und Bewußtsein, Gefühl und Wirklichkeit, beschreibt Kleists Studie 'Über das Marionettentheater' (1810)
Heinrich von Kleist vereint in seinem Werk Realistisches und Romantisch-Märchenhaftes, Tragik und Humor. Er hat keine Aufführung seiner Dramen erlebt. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wird er als einer der genialsten Dramatiker der Weltliteratur und als der größte Dichter Preußens erkannt.
Die Marquise von O, eine verwitwete Dame, gibt durch ein Zeitungsinserat bekannt, dass sie ohne ihr Wissen in andere Umstände gekommen und aus Familienrücksichten entschlossen sei, den Vater des Kindes zu heiraten. Obwohl sich die Marquise keines Fehlers bewußt ist, wird sie von ihren Eltern verstoßen. Sie zieht sich mit ihren Kindern auf ihren Landsitz zurück. Da sie Angst davor hat, dass ihr ungeborenes Kind in der bürgerlichen Gesellschaft nicht akzeptiert werden würde, wendet sie sich mit ihrer Anzeige an die Öffentlichkeit.
Als sich in der nächsten Ausgabe der Zeitung eine Antwort, die den Besuch des gesuchten Unbekannten ankündigt, befindet, erkennen die Eltern, dass sie ihrer Tochter Unrecht getan haben, und holen sie zurück. Die Marquise und ihre Eltern sind sich einig darüber, dass sie um des Kindes willen den zu erwartenden Mann heiraten solle, sofern es die soziale Stellung des Mannes erlaube. Als zum angegebenen Zeitpunkt der Graf F, ein russischer Offizier, ins Zimmer tritt, grenzt die Überraschung der Marquise und ihrer Eltern an Bestürzung und totale Verwirrung. Der Graf von F hatte die Marquise einige Monate zuvor bei einem kriegerischen Übergriff aus den Händen "viehischer Mordknechte" gerettet, und ihr dann später Heiratsanträge gemacht.
Die Marquise ist außer sich, als sie sieht, wer sie geschwängert hat, sie nennt denn Grafen einen Teufel, und sie versichert mehrmals, dass sie ihn nicht heiraten könne. Ihr Vater ist jedoch der Ansicht, dass sie ihr Wort halten müsse, und deshalb trifft er die nötigen Vorbereitungen für die Hochzeit. In einem Heiratsvertrag muß der Graf auf alle Rechte eines Gemahls verzichten. Nach der Trauung zieht sich der Graf sogleich zurück.
Erst zur Taufe des Kindes wird er zum erstenmal wieder eingeladen. Da der Graf die Marquise und sein Kind großzügig beschenkt, kommt es zu häufigeren Einladungen, und schließlich zu einem neuen Heiratsantrag des Grafen, der von der Marquise auch angenommen wird. Auf die Frage, warum die Marquise den Grafen damals gleich einem Teufel verabscheut habe, antwortete die Marquise, auf ihre Rettung durch den Grafen anspielend, "() er würde ihr damals nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre."[1]
Die Erzählung der Marquise von O beginnt mit folgenden Sätzen: "In M, einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, liess die verwitwete Marquise von O, eine Dame von vortrefflichem Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die Zeitungen bekannt machen: dass sie, ohne ihr Wissen in andre Umstände gekommen sei, dass der Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich melden solle; und dass sie, aus Familienrücksichten, entschlossen wäre, ihn zu heiraten. Die Dame, die einen so sonderbaren, den Spott der Welt reizenden Schritt, beim Drang unabänderlicher Umstände, mit solcher Sicherheit tat, war die Tochter des Herrn von G, Kommandanten der Zitadelle bei M Sie hatte, vor ungefähr drei Jahren, ihren Gemahl, den Marquis von O, dem sie auf das innigste und zärtlichste zugetan war, auf einer Reise verloren, die er, in Geschäften der Familie, nach Paris gemacht hatte."[2]
Die Marquise von O veröffentlicht also in einer Zeitung ein Inserat, das besagt, sie suche den Vater ihres noch ungeborenen Kindes. Zu diesem Schritt bewegt sie die Rücksicht zur Familie, obwohl sie damit den Spott der Welt auf sich zieht. Einen Vorgeschmack, was uns in der Geschichte erwartet, erhalten wir hiermit schon im ersten Satz.
Es verbergen sich aber noch mehr Informationen im Anfang dieser Erzählung, die bei näherem Hinsehen schnell ersichtlich werden. Ausser der Situation werden ein Grossteil der Hauptfiguren sowie der Ort der Handlung bekanntgegeben. Beides wird jedoch sofort wieder eingeschränkt durch die Einleitung des Autors "() deren Schauplatz vom Norden nach dem Süden verlegt worden"[3] und durch die Verkürzung von Orts- und Familiennamen, die eine klare geographische Einordnung unmöglich macht. Durch diese Unsicherheiten ist bereits ein erstes Element entstanden, das den Leser aufmerksam werden lässt. Den grössten Teil der Spannung erzeugen jedoch die Widersprüche, die sich in den Aussagen des Erzählers verbergen. So sucht eine Frau durch die Zeitung den Vater ihres noch ungeborenen Kindes, um ihn heiraten zu können. Dies tut sie, wie sie selber schreibt, "aus Familienrücksichten" . Rücksicht für die Familie würde aber bedeuten, diese, in den Augen der Gesellschaft, schändliche Tat, versuchen zu verheimlichen, anstatt sie an die grosse Glocke zu hängen. Auch wie es dazu kommen konnte, dass eine verwitwete Frau von solch gutem Ruf, die darüber hinaus schon mehrere wohlerzogene Kinder hat, ungewollt schwanger wird ohne den Vater zu kennen, weckt die Neugierde des Lesers in hohem Maße. Die Geschichte setzt damit schon in einem Krisenpunkt ein, dessen Hintergründe noch nicht bekannt sind. Die Frage, wie es denn dazu kommen konnte und was nun daraufhin geschehen wird, lässt einen das Buch nicht mehr aus der Hand legen, bis man die Antworten gefunden hat.
Ein sehr interessanter Abschnitt der Geschichte ist die Erzählung vom Schwan Thinka, eine Schilderung des Fiebertraumes, den der Graf F während seiner schweren Verwundung hatte. Sie lautet wie folgt: "Hierauf erzählte er mehrere, durch seine Leidenschaft zur Marquise interessanten, Züge: wie sie beständig, während seiner Krankheit, an seinem Bette gesessen hätte; wie er die Vorstellung von ihr, in der Hitze des Wundfiebers, immer mit der Vorstellung eines Schwans verwechselt hätte, den er, als Knabe, auf seines Onkels Gütern gesehen; dass ihm besonders eine Erinnerung rührend gewesen wäre, da er diesen Schwan einst mit Kot beworfen, worauf dieser still untergetaucht, und rein aus der Flut wieder emporgekommen sei; dass sie immer auf feurigen Fluten umhergeschwommen wäre, und er Thinka gerufen hätte, welches der Name jenes Schwans gewesen, dass er aber nicht im Stande gewesen wäre, sie an sich zu locken, indem sie ihre Freude gehabt hätte, bloss am rudern und In-die-Brust-sich-werfen; versicherte plötzlich, blutrot im Gesicht, dass er sie ausserordentlich liebe: sah wieder auf den Teller nieder, und schwieg."[5].
Diese kurze Episode kann man deuten als Geständnis des Missbrauchs, das jedoch keiner der Anwesenden versteht. Der Graf spricht zwar von einer Verwechslung der Marquise mit dem Schwan, in Wirklichkeit kann man diese beiden Figuren aber gleichsetzen. In dieser kurzen Erzählung sind einige Begebenheiten enthalten, die man auf den tatsächlichen Verlauf der Geschichte übertragen kann. So ist zum Beispiel das bewerfen des Schwanes mit Kot gleichzusetzen mit der Vergewaltigung der Marquise während des Kampfes. Auch das umherschwimmen auf den feurigen Fluten lässt einen an die Schlacht um die Zitadelle denken, bei der zahlreiche Brände ausgebrochen sind. Anschliessend taucht der Schwan ab und kommt rein wieder aus den Fluten empor, was uns die Unschuld, die Unantastbarkeit und somit auch die Reinheit der Marquise vor Augen führt. Dass er den Schwan Thinka gerufen hat, dieser sich aber nicht anlocken liess, lässt uns an den tatsächlichen Verlauf der Handlung denken. Auch hier kann er seine Angebetete nicht für sich gewinnen, trotz dem Geständnis seiner Liebe und dem Heiratsangebot, dass er ihr unterbreite. Die Worte, die Kleist in diesem Abschnitt der Erzählung wählt, stellen einen sehr engen Bezug zwischen dem Schwan und der Marquise dar, der auch wieder ihre Übereinstimmung erkennen lässt. Er nennt zuerst "diesen Schwan"[6] und "worauf dieser" in seiner Erzählung, was unpersönlich klingt, dann aber "dass sie immer" und "sie an sich zu locken" , wodurch man leicht auf die Marquise schliessen kann.
Dieses Geständnis lässt den Grafen sofort erröten, auch ein Zeichen dafür, dass er sich für seinen Missbrauch ausserordentlich schämt. Da nun aber keiner der Anwesenden das Geständnis deuten kann, nimmt es keinen Einfluss auf den direkten Verlauf der Geschichte und es kommt auch niemand mehr im späteren Verlauf darauf zu reden, es ist zum alleinigen Nutzen des Lesers, der so das Geschehene besser verstehen und deuten kann.
Nach der Vertreibung der Marquise aus dem Elternhaus, durch die rasende Wut ihres Vaters, vollzieht sich eine wundersame Verwandlung in ihr. Anstatt in ein tiefes Loch zu fallen, in Selbstmitleid zu versinken, reisst sie sich zusammen und bringt sich selbst aus der Misere. Dies ist gut erkennbar dargestellt durch den Satz: "Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich, wie an ihrer eigenen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor."[10].
Es ist verwunderlich, von einer schönen Anstrengung zu reden, ist doch die Vertreibung aus dem Elternhaus ein sehr tragisches Ereignis. Dieser Ausdruck lässt aber erkennen, mit welchem Stolz die Marquise wohl zum ersten Mal in ihrem Leben dem Vater getrotzt hat, und damit auch der ganzen, durch die Männer dominierten, Gesellschaft. Obwohl ein Kind ohne Vater keine Anerkennung und keinen Respekt erhält, nimmt sie die Last auf sich, alleine damit fertig zu werden. Sie hat zwar ohne Vater und ohne Mann kein Einkommen und dadurch auch keine gesicherte Existenzgrundlage, aber das ist in diesem Augenblick ohnehin nicht wichtig. Sie hat ihre Stärke der ganzen Welt bewiesen, dadurch hat sie einen bedeutenden Schritt in ihrer Entwicklung gemacht und ein grosses Stück Selbstvertrauen gewonnen.
Die Marquise hat sich durch diesen Schritt auch selbst gefunden. Das Schicksal, das ihr so übel mitgespielt hat, lässt sie erkennen, was wirklich wichtig ist im Leben. Weder die Normen, die ihr durch die Gesellschaft aufgezwungen werden noch die Forderungen, die ihr Vater an sie stellt, sind entscheidend. Die äusseren Einflüsse sind nicht wichtig, sie tragen nicht zur eigenen Verwirklichung bei. Worauf es ankommt sind ihre eigenen Wünsche, ihre eigenen Vorstellungen vom Leben. Mit sich selbst bekannt werden heisst für die Marquise auch in ihr eigenes inneres zu schauen und dort zu erfahren was sie wirklich will. Mit der Verbannung aus dem Elternhaus, wobei sie aber ihre Kinder mitgenommen hat, obwohl der Vater ihr das Gegenteil befahl, ist ein erster Schritt in ihre eigene Freiheit getan, die Zwänge der Männerdominanz sind zum ersten Mal durchbrochen worden.
Dieser Schritt ist aber für die anderen Menschen weitaus weniger bewegend als für die Marquise selber. So zieht sie sich selbst aus der Tiefe empor und kommt somit mit sich selbst ins Reine. Für den Rest der Welt hat sich aber das schändliche Bild der Marquise wohl kaum geändert. Es dürfte sich eher noch verschlechtert haben, da sie jetzt ohne Vater für ihr Kind und dazu noch ohne Familie ist. Auch das Ende der Geschichte relativiert diesen vermeintlichen Schritt in die Unabhängigkeit, denn schlussendlich wird die Marquise wieder in Abhängigkeit der Männer versetzt. Zum einen, weil sie den Vater des Kindes suchen muss, denn ohne ihm wird dem Kind das ganze Leben hindurch ein Schandfleck anhaften. Die mütterliche Herkunft reicht nicht aus, denn in einer patriarchalischen, von Männern dominierten Gesellschaft, muss die Abstammung durch eine männliche Linie einordbar sein. Auch die Heirat mit dem Grafen und somit eine erneute wirtschaftliche Abhängigkeit machen ein alleiniges bestehen der Marquise, oder der Frauen allgemein, ausserhalb der gesellschaftlichen Normen unmöglich.
Die Versöhnungsszene erscheint ziemlich bizarr und war zur Zeit von Kleist wohl noch weitaus schockierender als sie es heute ist. Zur Interpretation eignet sich der folgende, wohl besonders markante Satz aus dieser Szene besonders gut als Beispiel: "Die Tochter sprach nicht, er sprach nicht; mit über sie gebeugtem Antlitz sass er, wie über das Mädchen seiner ersten Liebe, und legte ihr den Mund zurecht, und küsste sie."[11].
Die Art der Liebe, die der Vater für seine Tochter empfindet, macht beim lesen dieses Satzes besonders stutzig. Es scheint sich nicht um eine Liebe zu handeln, die normalerweise zwischen Vater und Tochter herrscht, sondern vielmehr eine Liebe, wie wir sie unter jungen, zum ersten mal verliebten Menschen erkennen können. Sie ist geprägt durch Leidenschaft, Zuneigung, Vertrauen aber auch durch Erotik. Diese ist in einer Vater - Tochter Beziehung wohl unangebracht, lässt sie doch diese Versöhnungsszene eher wie eine Liebesszene aussehen.
Doch diesen Abschnitt der Erzählung sollte man wohl nicht so wörtlich nehmen wie er dasteht. Die Form eines Berichtes, der vermittelt wird von der Mutter der Marquise, die hier als Augenzeugin auftritt, mindert schon ein wenig die Brisanz. Wenn die Mutter dieses Verhalten nicht als anstössig oder unangebracht empfindet, sondern nur als eine übertriebene Art der Entschuldigung, so kann dies auch der Leser tun, denn wer trägt mehr Sorge um ein Mädchen als die eigene Mutter? Am ehesten ist dies der Vater, doch dieser ist so sehr um die Entschuldigung seiner Tochter bemüht, dass er dabei wohl keine Hintergedanken hegt. Vielmehr ist diese heftige Reaktion durchaus verständlich, vergleicht man sie mit der Heftigkeit, mit der die Marquise zuvor vom Vater vertrieben wurde. Jene Szene ist nicht minder übertrieben als die nun darauf folgende Entschuldigung.
Dass der Kommandant jetzt erfährt, dass er von seiner Tochter nicht belogen und betrogen wurde, sondern sie von Anfang an die Wahrheit sagte, stürzt ihn in einen Zustand endloser Reue, in dem er sich hilflos befindet und nicht mehr weiß was er tun soll. Dies ist scheinbar der tiefste Moment seelischer Erschütterung und Bewegtheit in der Ganzen Erzählung. So brutal und gnadenlos er bei der Vertreibung seiner Tochter vorging, so extrem sind jetzt seine Empfindungen bei der Versöhnung. Solch extreme Gefühle müssen auch mit extremen Worten ausgedrückt werden, um ihnen die richtige Tragweite zu verleihen. Wer diese Formulierungen allzu wörtlich nimmt, kann leicht auf eine falsche Spur gelenkt werden. Man erkennt die Intensität der Gefühle auch in der nun herrschenden Verbundenheit von Vater und Tochter. Beide brauchen keine Worte mehr, um den anderen verstehen zu können. Mit den Worten versteht man jeden Menschen, mit dem Herzen aber kann man nur jemanden verstehen mit dem man eng verbunden ist. So haben sich die beiden doch noch gefunden, das Vertrauen, welches anfänglich verloren ging, ist wieder aufgebaut. Durch die Versöhnung der Familie ist der erste Schritt getan zu Versöhnung mit dem Grafen, denn erst jetzt sind sie dazu bereit, den Unbekannten in ihrem Haus zu empfangen. Würde sich der Vater des Kindes als zu verkommen herausstellen, wären die Eltern auch dazu bereit das Kind zu adoptieren. Dies gibt der Marquise den nötigen Rückhalt um das, was sie sich vorgenommen hat, auch wirklich durchzuziehen.
Die Geschichte, die sich schlussendlich doch noch zum Guten wendet, endet mit folgenden Sätzen: "Er fing, da sein Gefühl ihm sagte, dass ihm von allen Seiten, um der gebrechlichen Einrichtung der Welt willen, verziehen sei, seine Bewerbung um die Gräfin, seine Gemahlin, von neuem an, erhielt, nach Verlauf eines Jahres, ein zweites Jawort von ihr, und auch eine zweite Hochzeit ward gefeiert, froher, als die erste, nach deren Abschluss die ganze Familie nach V hinauszog. Eine ganze Reihe von jungen Russen folgte jetzt noch dem ersten; und da der Graf, in einer glücklichen Stunde, seine Frau einst fragte, warum sie, an jenem fürchterlichen Dritten, da sie auf jeden Lasterhaften gefasst schien, vor ihm, gleich einem Teufel, geflohen wäre, antwortete sie, indem sie ihm um den Hals fiel: er würde ihr damals nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre."[12].
Zum Schluss wird dem Grafen nun doch noch von allen Seiten verziehen, sowohl von der Familie als auch von der Marquise. In V, wo die ganze Familie hingezogen ist, folgen dem unehelich gezeugten Kind nun noch weitere, der anfängliche Missbrauch ist mit dem letzten Satz nun endgültig vom Tisch.
Eben dieser Satz mutet sehr geheimnisvoll an, er beinhaltet religiöse Motive (Engel und Teufel). Der Vergleich mit dem Engel ist wohl eher naheliegend und einfacher zu verstehen. Inmitten der wütenden und mordenden Soldaten, die versuchen, die Marquise brutal zu vergewaltigen, erscheint der Graf F als Retter in der Not. Obwohl er nicht minder brutal gegen seine verbündeten Soldaten vorgeht, um sie von ihrem Vorhaben abzuhalten, missachtet er gegenüber der Marquise niemals die Umgangsformen. Doch in dem Augenblick, als der Graf in das Zimmer der Marquise hereintritt, bricht für diese eine Welt zusammen. Das engelhafte, übermenschliche Bild des Grafen fällt von einer Sekunde auf die andere in ein durch und durch unmenschliches, eben teuflisches Bild. So sind im Grafen gleichzeitig zwei Wesensmerkmale sehr stark vertreten: Er ist der edle Retter, kann charmant, kultiviert und feinfühlig sein. Gleichzeitig aber hat er die Marquise geschändet, ist brutal, unbeherrscht und wird geleitet von Triebhaftigkeit. Diese Vorstellung, das sowohl das Gute wie auch das Böse in einem Menschen verbunden sein können, dass die sexuelle Begierde den Verstand einfach ausschalten kann, verändert das Weltbild der Marquise völlig. Die zuvor heile Welt, in der die Marquise, beschützt durch ihr familiäres Dasein, gelebt hat, entpuppt sich nun als sehr instabiles, gebrechliches Gebilde. Ihre sentimentale, träumerische Einstellung zu einer durchaus übernatürlichen Welt verwandelt sich plötzlich in eine sehr nüchterne und realistische Betrachtungsweise.
Zum Schluss jedoch, als die Marquise dem Grafen um den Hals fällt, hat sie die Welt so wie sie ist akzeptiert. Sie versteht, dass der Graf für einen kleinen Moment das Gleichgewicht bei der Gratwanderung zwischen Vernunft und Triebhaftigkeit verloren hat und es zu diesem folgenschweren Ausrutscher kommen konnte. Die teuflische Tat wird ihm verziehen, da er schliesslich beweisen konnte - zum einen durch seine Geduld, zum andern aber auch durch die Schenkung an das Kind und durch sein Testament - dass das Engelhafte in ihm klar überwiegt.
Primärliteratur:
Kleist, Heinrich von: "Die Marquise von O", "Das Erdbeben in Chili". Stuttgart. Reclam. 1997
Sekundärliteratur:
Bacher, Suzan: Lektürehilfen Heinrich von Kleist. "Die Marquise von O", "Das Erdbeben in Chili". Stuttgart. Klett. 1998
Hinderer, Walter: Interpretationen. Kleists Erzählungen. Stuttgart. Reclam. 1998
Killinger, Robert: Literaturkunde. Wien. Verlag Hölder-Pichler-Tempsky, Manz Verlag Schulbuch GmbH. 1998
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