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Intern: Leseliste: Der Besuch der alten Dame
In der Kleinstadt Güllen, nahe der deutsch-schweizerischen Grenze, erwartet man den Besuch einer reichen alten Dame, der Multimillionärin Claire Zachanassian, die als Klara Wäscher in G llen geboren und aufgewachsen ist. Ihr Vermögen, das sie von ihrem ersten Mann, einem armenischen Ölscheich, geerbt hat, ist unübersehbar, auch die
Zahl der Ehemänner kann sich sehen lassen. Zur Zeit ist sie mit ihrem siebenten Ehemann unterwegs. Der Bürgermeister und die Notabilitäten des einst wohlhabenden, nun aber völlig verarmten und heruntergekommenen Städtchens versammeln sich vor dem verwahrlosten Bahnhof, um Claire Zachanassian einen großen Empfang in der Heimat zu bereiten. Sie hoffen natürlich darauf, dass sie eine ansehnliche Stiftung machen wird, die die Finanzen des kleinen Städtchens verbessern und den Lebensstandard der Bürger heben könnte. Währenddessen erzählt der Kaufmann Ill, ein Mann Mitte Sechzig, was die Kläri Wäscher für ein bildhübsches, wildes und leidenschaftliches Mädchen gewesen sei, und dass das Leben sie leider nach einer stürmischen Liebe von ihm getrennt habe. Noch ehe er damit zu Ende ist, erscheint Frau Zachanassian mit ihrem Gatten und ihrem Gefolge, vier kaugummikauenden ehemaligen Gängstern und zwei blinden Eunuchen.
Die Ovationen, die ihr dargebracht werden, unterbricht sie kurz und bündig mit der Ankündigung, sie werde der Stadt die Summe von einer Milliarde stiften, fünfhunderttausend für die Stadt und fünfhunderttausend aufgeteilt auf alle Bürger, aber nur unter der Bedingung, dass sie sich dafür Gerechtigkeit' kaufen könne. Sie will, dass jemand sich bereit erklärt, Ill zu t ten. Er habe sie nämlich seinerzeit mit einem Kind sitzenlassen und in einem Vaterschaftsprozess zwei bestochene Zeugen mitgebracht, die beschworen, ebenfalls ein Verhältnis mit Kläri Wäscher gehabt zu haben. Es sind die beiden Eunuchen, die sie, als sie reich geworden war, aufspüren, entmannen und blenden ließ und dann in ihr Gefolge aufnahm. Ihr Butler aber ist der Oberrichter, der damals den Vorsitz in dem Prozess gegen Ill führte.
Der Bürgermeister lehnt das Angebot bestimmt ab: Frau Zachanassian: Noch sind wir in Europa, noch sind wir keine Heiden. Ich lehne im Namen der Stadt G llen das Angebot ab. Im Namen der Menschlichkeit. Lieber bleiben wir arm denn blutbefleckt '
Nun geht eine seltsame Veränderung in G llen vor. Obwohl sich der Bürgermeister natürlich weigerte, die Milliardenstiftung unter diesen Bedingungen anzunehmen, fangen auf einmal alle Einwohner an, auf großen Fuß zu leben, Anschaffungen zu machen, besser zu essen und zu trinken, kurz alle leben so, als ob sie sicher mit einem beträchtlichen Vermögenszuwachs rechnen könnten. Sie lassen überall anschreiben, und die Kaufleute gewähren ihnen ebenso sorglos Kredit, wie jene ihn in Anspruch nehmen.
Ill wird es unbehaglich. Zwar gewährt er auch seinen Kunden jeden Kredit, aber er fühlt, dass sich etwas gegen ihn zusammenbraut. Claire Zachanassian aber sitzt ruhig im Hotel 'Zum Goldenen Apostel' und beobachtet die Entwicklung der Dinge. Als ein schwarzer Panther, den sie als Haustier bei sich hat, ausbricht und die männlichen Bewohner von G llen infolgedessen alle mit Schusswaffen herumlaufen, fühlt Ill sich zum ersten Mal wirklich bedroht.
Er will die aufblühende Stadt verlassen, ist aber innerlich bereits so im Netz seiner Angst verstrickt, dass er es nicht mehr vermag. Er findet sich eines Tages bereit, sich dem Gericht seiner Mitbürger zu stellen. Er selbst und alle
wissen, wie es ausgeht: Die Stiftung der Claire Zachanassian ist angenommen. Einstimmig. Nicht des Geldes sondern der Gerechtigkeit wegen und aus Gewissensnot. Denn wir können nicht leben, wenn wir ein Verbrechen unter uns dulden, welches wir ausrotten müssen, damit unsere Seelen keinen Schaden erleiden und unsere heiligsten G ter.'
Der Bürgermeister aber findet einen genialen Dreh, den moralisch verurteilten Ill nach außen hin zu rehabilitieren:
Die Presse wird informiert, dass die Milliardenstiftung von Frau Zachanassian durch Vermittlung des Herrn Ill, ihres
Jugendfreundes, zustande gekommen ist.
Die Bürger bilden eine Gasse, durch die Ill auf einen 'Turner', der ihn am Ende erwartet, zuschreitet. Die Gasse schlie t sich. Als sie sich wieder öffnet, liegt Ill am Boden, tot. Herzschlag', stellt der Stadtarzt fest. Claire Zachanassian lä t ihn in den Sarg legen, den sie in ihrem Reisegepäck mitgebracht hat. Der Bürgermeister erhält den Scheck über eine Milliarde.
Interpretation
Das Tragikkomische des St cks beruht auf der Kreisbewegung zweier gegenläufiger Geschichten: hier die lächerliche Groteske von der Käuflichkeit der Moral einer ganzen Stadt, dort die exemplarische Demonstration der Entwicklung des sittlichen Bewußtseins in einem Einzelnen. Beide werden, die eine in absteigender, die andere in aufsteigender Richtung in Gang und zu Ende gebracht von der 'reichsten Frau der Welt, die durch ihr Vermögen in der Lage ist, wie eine Heldin der griechischen Tragödie zu handeln, absolut, grausam, wie Medea etwa. Sie kann es sich leisten.'
Die späte Rache der Klara Wäscher besitzt schon von der Dauer des Daraufwartens her antikes Format:
fünfundvierzig Jahre. Mit der kalt rechnenden Präzision einer Schachspielerin bestimmt sie in G llen Schicksale als Herrscherin über Leben und Tod, auch darin den G ttern gleichend. Freilich hätte sie als wandelnde Prothesensammlung längst gestorben sein müssen. Aber da Gottheiten in aller Regel unsterblich sind, gönnt ihr der Autor wenigstens eine Art Pseudo-Unsterblichkeit; er lä t die Milliardärin als einzige an Bord einen Flugzeugabsturz überstehen.
Bilder und Motive (Ruin, hohle Phrasenhaftigkeit, Lüge, Vergänglichkeit) sind verknüpft mit Themen der griechischen Tragödie: Verhängnis und Gericht, Schuld und Sühne, Rache und Opfer. In einem vergeblichen Versuchs Ills, sich der bürgerlichen Gemeinschaft und der eigenen Verantwortung zu entziehen, überschneiden sich beide Geschichten; in seinem Tod, der ihn in die Gemeinschaft zurückführt, laufen sie zusammen. Der simultane Verlauf der Geschehnisse entspricht dem Sachverhalt, daß innerhalb einer Gesellschaft die Moral zugleich erkannt und vertuscht werden kann - 'dargestellt von einem, der sich von diesen Leuten durchaus nicht distanziert und der nicht so sicher ist, ob er anders handeln würde'
In diesem St ck wird der Spruch Geld ist Macht' tragische Realität. Erstens in materieller Hinsicht. Die alte Dame hat die Stadt G llen mehr oder weniger aufgekauft und heruntergewirtschaftet und so die G llner völlig von ihrem Geld abhängig gemacht, und zweitens in geistiger Hinsicht. Das in Aussicht gestellte Vermögen ließ die G llner erst recht in die von ihnen angeprangerte Ungerechtigkeit schlittern. Sie wurden blind und zu Marionetten der alten Dame, die eigentlich nur eines wollte: Alfred Ills Tod.Wieviel ist ein Mensch wert? Ist die Todesstrafe überhaupt jemals gerechtfertigt? Noch dazu wenn das Gericht' mit einer Milliarde bestochen wird.
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