Der Schweizer Erzähler und Publizist Peter Bichsel erlangte
mit seinem Erzählband 'Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann
kennenlernen' erste große Bekanntheit. Darin enthalten sind 21
Geschichten, die sich nicht mit den großen Ereignissen oder besonderen
Erlebnissen des Lebens beschäftigen, sondern den Alltag in seinen Banalitäten,
seiner Stumpfsinnigkeit, Beschränktheit und Nichtigkeit aufs Korn nehmen. Wie
in vielen anderen Werken von Bichsel werden auch hier 'kleinkarierte'
Menschen und belanglose Handlungs-abläufe ins Zentrum der Aufmerksamkeit
gerückt und so in ihrem Wesen entlarvt.
Peter Bichsel wurde am 24. März 1935 als Sohn eines Handwerkers in Luzern
geboren. Nach seiner Kindheit, die er in Olten, einer Kleinstadt an der Aare im
Kanton Solothurn verbrachte, arbeitete er unter anderem als Volksschullehrer
(bis 1968 bzw. 1973) und wandte sich schon früh literarischen und
publizistischen Aufgaben zu.
In Zürich wurde Bichsel 1969 Deutschlehrer an der Kunstgewerbsschule und
publizierte zahl-reiche Kolumnen in Schweizer Zeitungen. In der Zeit zwischen
1972 und 1989 folgte er Ein-ladungen von amerikanischen Universitäten und
lernte das Leben in den Großstädten der USA kennen. Daneben hielt Bichsel
1981/82 Poetik-Vorlesungen an der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität in
Frankfurt am Main und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Stadtschreiber
in der Kleinstadt Bergen-Enkheim.
Bichsel ist Mitglied der Berliner Akademie der Künste und korrespondierendes
Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Den
bislang größten Erfolg erlangte Bichsel mit den 'Kindergeschichten',
die wiederum von eigenwilligen Personen handeln, die allgemein als unverrückbar
geltende Tatsachen nicht auf sich beruhen lassen wollen. Weitere Werke dieses
Autors sind z.B. 'Die Jahreszeiten', 'Stockwerke' oder
' Ge-schichten zur falschen Zeit'.
Die Problematik, die Bichsel in seinem Erzählband 'Eigentlich möchte Frau
Blum den Milchmann kennenlernen' anspricht, befaßt sich damit, wie ganz
gewöhnliche Menschen ihren Alltag gestalten und wie dabei Kleinigkeiten oder
gar Nichtigkeiten zur Geltung kom-men, häufig überbetont werden und so das
Denken und Handeln der Personen prägen. Dieses Muster ist in allen Geschichten
des Bandes wiederzuerkennen, so z.B. in der titelgebenden Kurzgeschichte, wo
die Hauptperson sich lang und breit damit aufhält, was wohl ein anderer über
sie denken mag und dieses Hin und Her ihrer Gedanken und Gefühle zum
einzigen Mo-tiv wird, diesen Menschen kennenzulernen.
Analog dazu finden sich in der Geschichte 'Vom Meer' vielfältige,
unnötige Gedanken über eine eigentlich banal geschriebene Postkarte oder in der
Erzählung 'Holzwolle' nahezu phi-losophische Ergüsse über
eigentlichen 'Mumpitz'.
Der Stil Bichsels ist gut geeignet, die inhaltlichen Ziele des Autors,
nämlich die Kennzeich-nung und Entlarvung von Nebensächlichkeiten und
Kleinigkeiten des menschlichen Daseins, noch zu unterstützen. So vermeidet er
lange Einleitungen und steigt abrupt in die entschei-denden Szenen ein. Der
Leser wird durch diesen plötzlichen Start regelrecht überfallen, wo-durch es zu
einer Labilisierung eingefahrener Lese- und Denkmuster und damit zu einer
Neu-orientierungsreaktion des Lesers kommt, die die Entlarvung leichter möglich
macht.
Peter Bichsel baut häufig gar keine richtigen Handlungsabläufe auf, sondern
legt nur einige Tatsachen dar, die jedoch in gedrängter Form daher kommen, oder
aber er überhäuft den Le-ser mit Informationen, so dass man ständig geneigt
ist, gegen das Gesagte zu opponieren. Wie es bei vielen Kurzgeschichten üblich
ist, läßt auch Bichsel den Schluß seiner Erzählungen weitgehend offen. Damit
wird die vom Autor beabsichtigte kritische Einstellung des Lesers und dessen
eigene Wertung gefördert.
Peter Bichsels Erzählband 'Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann
kennenlernen' stellt inhaltlich und in der vorliegenden Form ein für den
kritischen und differenzierten Leser interessantes, wenngleich auch
anstrengendes Literaturerlebnis im gegenwärtigen Literatur-spektrum dar.