Paul
Hindemith 1895-1963
Biographie siehe Spezialgebiet
Ludus Tonalis
Vom 29. August bis 12.Oktober 1942 schrieb Hindemith in
Amerika den "Ludus Tonalis" als ein modernes Pendant zu Bachs
"Wohltemperierten Klavier" und als
musikalisch - praktische Dokumentation seiner theoretischen Erkenntnis von
einer Ordnung der Töne, die er zwei Jahre vorher in seiner "Unterweisung im
Tonsatz" dargetan hatte. Der Untertitel "Kontrapunktische, tonale und
klaviertechnische Übungen" ist sicherlich als ein Anklang an die Ausdrucksweise
Bachs gemeint und will wie bei diesem - man denke an die vier Teile der
"Klavierübung" mit den Partiten, den Goldberg - Variationen usw. - durchaus
nicht im Sinn von Fingerübungen, sondern im Sinn von Musik-"Ausübung"
verstanden sein. Es handelt sich um zwölf durchweg dreistimmige Fugen in den
Tonalitäten der zwölf Töne der chromatisch aufsteigenden Skala, jedoch nicht,
wie er ursprünglich geplant hatte, wie bei Bachs "Wohltemperiertem Klavier", in
der Reihenfolge der chromatisch Aufsteigenden Skala, sondern in der Anordnung
der "Reihe 1", die Hindemith in seiner "Unterweisung" Entwickelt hat, die den
Grad der Verwandtschaft der einzelnen Töne zu einem gegebenen Ausgangston, als
der C angenommen wird, bezeichnet.
Zwischen die Fugen stellt Hindemith Interludien, die
entweder in der Tonalität der vorangegangenen oder der nachfolgenden Fuge
stehen, oder zwischen beiden modulierend vermitteln. Während die Interludien
vor allem spielfreudige "Charakterstücke" sind - es gibt unter ihnen eine
Pastorale, einen Marsch, einen Walzer - , so demonstrieren die Fugen die
verschiedensten Möglichkeiten kunstvoller polyphoner Satzweise: So ist etwa die
1. Fuge (in C) eine Tripelfuge, d.h. eine Fuge mit drei Themen, die zuerst
einzeln exponiert werden, dann aber viermal gleichzeitig erklingen. Nr. 3 (in
F) läuft von der Mitte, als von einer vertikalen Spiegelebene an, Ton für Ton
krebsgängig zum Beginn zurück. Nr.4, eine Doppelfuge, exponiert ihr zweites
Thema in einem zarten, in Charakter und Tempo abgesetzten Mittelteil, um im
dritten Teil beide Themen zu kombinieren. Nr. 5 (in E, eine Art Gigue) und
Nr.6(in Es, Tranquillo) kombinieren Grundgestalt des Themas mit seiner
Umkehrung, Nr. (in B) demonstriert in unbefangenem Scherzando - Gewand fast
alle Möglichkeiten der Verwandlung eines Fugenthemas: Umkehrung, Krebs,
Krebsumkehrung und Vergrößerung. Nr. 10 (in Des) bringt von der Mitte des
Stückes an die genaue Umkehrung des ersten Teils ("horizontale Spiegelung"),
Nr. 11, eigentlich eine zweistimmige Fuge mit einer Art Continuo - Baßstimme,
genügt auch den Gesetzen eines Kanons, Nr. 12 endlich ist eine - zweiteilige -
Engführungsfuge, d.h. der zweite Themeneinsatz erfolgt schon, bevor noch die
erste Stimme das Thema zu Ende geführt hat; jeweils am Ende ihrer beiden Teile
nimmt eine Art Refrain von fast volksliedhafter, schlichter Innigkeit gleichsam
Abschied vom ganzen Werk. Eingeleitet und beschlossen wird der Zyklus von einem
Präludium und einem Postludium, die zueinander im Verhältnis der optischen
Umkehrung ihres Notenbildes stehen, d.h. die erste Seite des Notenbandes ist
mit der auf den Kopf gestellten letzten Seite identisch.
Wie Hindemith solche Problemstellungen löst, so daß
durchblutete Musik entsteht, der man gar nichts trocken konstruiertes anhört,
erweist nicht nur seine unglaubliche musikalische Vorstellungskraft und
Kombinationsgabe, sondern auch seine Fabulierfreude. Hohe Geistigkeit und
Freude am Spielerischen schließen einander bei ihm nicht aus. Ein Dokument
seiner sich auch im Zeichnerischen erweisenden Fabulierfreude ist übrigens auch
das Exemplar des "Ludus Tonalis", das Hindemith seiner Frau, die im Sternbild
des Löwen geboren war, zum Geburtstag schenkte: Er hatte es mit Buntstiften
"illustriert", wobei u. a. für jeden Themeneinsatz der Fugen ein Löwe
gezeichnet ist und für jede der 12 Fugen ein andere Typ des Löwen, immer zum
Charakter des Stückes passend erfunden ist: eine einzigartige, launige, leider
erst in wenigen Einzelbeispielen publizierte, überaus instruktive
"Formenanalyse".