Das Trauma Vietnam
Henry Kissinger wird nicht nur an die Fernsehbilder von napalmverbrannten
Kindern gedacht haben, als er später erklärte, daß Amerika im Vietnamkrieg
seine außenpolitische Unschuld verloren habe. Auch die innenpolitischen
Verwerfungen, die im Verlaufe dieses Krieges auftraten, belasteten das
politische Klima und wirkten sich negativ auf das Ansehen der Vereinigten
Staaten aus.
Erst die Konfettiparaden, die im Juni 1991 aufgrund der militärischen Erfolge
im 2. Golfkrieg abgehalten wurden, schienen eine Nation Abschied nehmen zu
lassen von jenem Trauma, das der Krieg im fernen Südostasien in der
amerikanischen Psyche verursacht hatte. Dabei scheint aus heutiger Sicht der
Sieg der Kommunisten in Vietnam weniger schwerwiegend zu sein als der Verlust
des Glaubens breiter Bevölkerungskreise an die Allmacht und die politische
Moral der Vereinigten Staaten. Das kollektive amerikanische Gedächtnis
versuchte lange Zeit, diesen Krieg mit all seinen negativen
Begleiterscheinungen zu verdrängen und verweigerte sich jeder
Vergangenheitsbewältigung.
Auf den Schlachtfeldern Vietnams waren 55.000 junge Amerikaner gefallen, von
denen die Hälfte noch nicht 21 Jahre alt war. Die meisten der kämpfenden
Soldaten waren Schwarze und Arbeiterkinder gewesen. Noch heute leben ehemalige
Vietnamkämpfer in den Bergen der US-Staaten Oregon und Washington und sind
unfähig, wieder Anschluß an die Normalität des Alltagslebens zu finden.
Die tägliche detaillierte Fernseh- und Presseberichterstattung bewirkte eine
beispiellose Polarisierung der amerikanischen Öffentlichkeit. Der Vietnamkrieg
wurde zu einem medialen Ereignis, die Mattscheibe zum Spiegel einer politisch
nicht mehr legitimierbaren Gewalttätigkeit, für die beispielhaft das Massaker
an unschuldigen Zivilisten in dem südvietnamesischen Dorf My Lai stehen kann.
Es kam zu gewalttätigen Studentenprotesten und zum Erstarken der
Bürgerrechtsbewegung. Viele Wehrpflichtige desertierten oder verbrannten ihre
Stellungsbefehle.
Eine öffentliche Aufarbeitung des Krieges begann erst in den 1980er Jahren.
Hierzu schrieb Paul Kennedy: »Und schließlich sollte die schamvolle und
lieblose Behandlung der aus Vietnam zurückkehrenden Soldaten ein Jahrzehnt
später eine kulturelle Reaktion verursachen, welche die breite Beschäftigung
mit diesem Konflikt () erzwang.« Eine Vorreiterrolle übernahm dabei die
amerikanische Filmindustrie in Hollywood. Filme wie »Coming Home« von Hal
Ashby, »Apocalypse Now« von Francis Ford Coppola oder »Geboren am 4. Juli« von
Oliver Stone versuchten, kriegerischen Heroismus und übersteigerten
Patriotismus kritisch zu hinterfragen. Damit trugen sie entscheidend zur
Bewältigung des Vietnamtraumas bei.