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Alfred Heuss
Die archaische Zeit Griechenlands als geschichtliche Epoche
Alfred Heuss, geboren 1909, war Schüler von Helmut Berve in Leipzig, promovierte dort 1933 und habilitierte 1937. 1941 wurde er Professor in Breslau, lehrte nach dem Krieg in Kiel und Köln, wurde 1949 Ordinarius in Kiel und 1954 in Göttingen. Sein wissenschaftlicher Tätigkeitsbereich erstreckt sich u.a. über die gesamte Antike und behandelt auch Fragen des Geschichtsbewußtseins sowie der Geschichtstheorie und Disziplingeschichte. Heuss starb Anfang der 90er Jahre. Der vorliegende, zunächst wenig beachtete, schließlich aber als bahnbrechend erkannte Aufsatz erschien erstmals 1946. Neben der Einleitung ist er in drei behandelnde Abschnitte im Stile einer Erörterung gegliedert.
Einleitung
Der Begriff einer archaischen Epoche Griechenlands ist ursprünglich nicht historischer, sondern kunstwissenschaftlicher Herkunft. Nachdem man im Laufe des 19. Jahrhunderts mit der vorklassischen Kunst bekannt wurde, wies man ihr aufgrund der Unterschiede zur klassischen Periode einen eigenen historischen Raum zu. Weder die uns bekannte Literatur noch die politische Geschichte der entsprechenden Zeit hatten zu einer derartigen Periodisierung geführt, aber aufgrund der in den vergangenen Jahrzehnten herrschenden Neigung, Stilbegriffen der bildenden Kunst eine allgemeine Gültigkeit zuzuschreiben und der Nähe der Kunst zur restlichen Überlieferung, wurde diese epochale Einordnung auch auf die sonstigen geschichtlichen Ausprägungen des Griechentums angewendet.
Das wirft nun die Fragen auf, ob sich aufgrund des historischen Materials überhaupt ein parallel mit der bildenden Kunst verlaufender Abschnitt abhebt und ob dann diese Periode schließlich eine für die allgemeine Geschichte eigenständige, echte, d.h. durch einen bestimmten Charakter artikulierte Epoche darstellt oder lediglich einen chronologisch abgegrenzten Raum mit bestimmten, sich von der klassischen Zeit abhebenden Erscheinungen, denen einzig das Merkmal eigen ist, vor der klassischen Zeit zu liegen.
Abschnitt I
Das Entstehen der griechischen Nation
Der Einsatz der archaischen und somit auch der griechischen Geschichte beginnt unmißverständlich mit der Großen oder Agäischen Wanderung vom 12. Jahrhundert bis zur Jahrtausendwende als eine Grenze zwischen der als 'Vorgeschichte' der griechischen Geschichte bezeichneten kretisch- mykenischen Kultur und der archaischen Zeit. Als Vorgeschichte wird in diesem Falle näher erläutert, daß sich die kretisch-mykenische Kultur zwar innerhalb des griechischen Raumes abspielte und teilweise von Vorfahren der historischen Griechen getragen wurde, sie jedoch noch kein Griechentum kannte und, was entscheidender ist, die Griechen der mykenischen Zeit noch nicht zu einem Bewußtsein ihrer selbst gelangt sind. Die den Zustand ihrer Träger anzeigende kretische Formensprache, z.B. Sprache und Schrift, hat nichts mit dem Griechischen gemein und entbehrt einen Ausdruck, der einen jenseits der Alltäglichkeit liegenden Sinn hatte.
Um zu diesem Bewußtsein zu gelangen, bedurfte es für die Griechen eines elementaren, befreienden Ereignisses wie der Großen Wanderung, deren Träger sie jedoch nur teilweise waren, da diese Wanderung ihre Ursachen außerhalb Griechenlands hatte und weit über Griechenland und die Agäis hinausgriff. Stets unter äußerem Druck strömten u.a. Nordwestgriechen aus Epirus und dem Pindus-Gebiet nach Griechenland und besiegelten das Schicksal der ohnehin sinkenden kretisch-mykenischen Kultur. Sehr wichtig war bei einem derartig einschneidenden Ereignis, daß diesem Dauer beschieden sein mußte, ansonsten wäre es für die Griechen unmöglich gewesen, sich unter starker Einwirkung äußerer Einflüsse zu sammeln und zu entfalten. Die weltgeschichtliche Lage im östlichen Mittelmeer während der Jahrtausendwende und den darauffolgenden Jahrhunderten schuf dafür die Voraussetzungen. Die Große Wanderung beseitigte endgültig die kretischen Restbestände und führte zum Zusammenbruch der großen vorderasiatischen Reiche (Hethiter, das ägyptische Neue Reich), sodaß erst die assyrische Expansion (von 745 an) wieder ein Großreich entstehen ließ, welches die Griechen aber nur peripher berührte. Bis zum Entstehen des persischen Reiches am Ende der archaischen Zeit gab es demzufolge keinen gefährlichen Gegner für die griechische Entwicklung, die zu dieser Zeit aber schon abgeschlossen und auch stark genug war, diesen Gegner abzuwehren.
In diesem durch geschichtliche Umstände abgeschotteten Raum konnte sich aus den ziehenden Völkerstämmen ein seßhaftes Volk als ein mit Gemeinbewußtsein ausgestatteter, über ein größeres Gebiet sich erstreckender gesellschaftlicher Körper herausbilden. Dieser Zusammenschluß erfolgte, was in der Geschichte einzigartig ist, nicht im Zusammenhang einer politischen Entwicklung. Obwohl die 'natürlichen' Bedingungen, wie etwa eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Basis von Sitten, Gebräuchen und religiösen Anschauungen vorhanden war, fehlte der Einsatz einer äußeren Macht, um den Zusammenschluß und den inneren Durchformungsvorgang der Griechen auslösen und fördern zu können.
Wie bildete sich nun das griechische Volk in der archaischen Zeit? Dieser Vorgang spielte sich sowohl im Bereich der geistigen Entwicklung als auch im sozialen Dasein ab. Da wir ihn jedoch aufgrund fehlender Zeugnisse nur vom Ergebnis her kennen, müssen wir Rückschlüsse auf den Hergang bekannter Tatsachen ziehen und versuchen, diese einzuordnen:
Mit der Erfindung einer griechischen Schrift am Anfang der archaischen Zeit taten die Griechen einen bedeutsamen Schritt in Richtung eines eigenen Bewußtseins. Die Anpassung des phönikischen Alphabets an die griechischen Bedürfnisse und die Einführung der Vokale zeigen deutlich, daß sich die Griechen der Art ihrer Sprache genau bewußt waren. Verschiedene Spielarten griechischer Schrift zeigen dabei, daß man sich zur gleichen Zeit an vielen Orten Griechenlands um dieselbige bemühte. Verteilung und Verbreitung erfuhr der Schriftgebrauch bis in die handwerklichen Schichten und verhinderte so einen Schreiberstand, wie er in Agypten oder Babylonien anzufinden war.
Für die Entstehung eines griechischen Einheitsbewußtseins war die Schaffung eines allen Griechen gemeinsamen Götterhimmels und der Ausgleich zwischen den örtlich begrenzten Kulten von Bedeutung, die sich annähernd durch die ganze archaische Zeit hindurchzog. Trotzdem wurde die Religion keine von sich aus gestaltende Macht, statt einer Offenbarungsreligion wurde sie in die bestehenden Verhältnisse der Gesellschaften und Stämme eingebaut, so daß die eigentlich gemeinschaftsbildenden Faktoren einer Religion nicht aufgegriffen worden sind.
Der eng mit den olympischen Göttern verbundene Mythos hat die Entfaltung des griechischen Geistes in Richtung eines nationalen Selbstbewußtseins erheblich vorangeführt. Das beruht neben der zeitlichen Jünge des Mythos darauf, daß er das Dasein in seiner Sinnfälligkeit wiedergibt. Die erzählten Ereignisse der Götter- und Heldensagen bewegen sich in einem zeitlichen Kontinuum und sind im Raum der Vergangenheit an bestimmten Stellen angesetzt, sodaß die im Mythos erzählten Begebenheiten die Welt in ihrem Dasein repräsentieren und er auch in schlüssiger Weise Vergangenheit einfängt. So lag es nahe, den Mythos zu historisieren und den gegenwärtigen Zustand der Welt stets mit der Frage nach dem Mythos zu erschließen. Somit gelangten die Griechen zu einem geschichtlichen Bewußtsein, was sich oftmals lebendig in der Gegenwart wiederspiegelte und sogar zu einer bis zur politischen Aktualität gesteigerten Gegenwärtigkeit des Mythos führen konnte (Verfolgung Adrasts durch den sikyonischen Tyrannen Kleisthenes, Hdt. 5, 67). Da der griechische Mythos den gesamten Raum Griechenlands erfüllte, stellte er auch die Vergangenheit der ganzen griechischen Welt dar. Besonders kommt dieses in den Epen Homers vom troianischen Krieg zum Tragen, obwohl Homer diese Unternehmung nicht als eine panhellenische darstellt. Die Griechen werden als Danaer, Argiver usw. genannt, nicht jedoch als Hellenen, obschon es von da an nur noch ein kleiner Schritt zur Konzeption eines Begriffes von einem griechischen Volk war. Der Hellenenname als Bezeichnung für alle Griechen war dann auch nachweisbar am Anfang des 7. Jahrhunderts bereits vorhanden.
Neben der Abgrenzung der Hellenen als geschlossene Gruppe formte sich das griechische Volk durch einen anderen Vorgang der inneren Aufgliederung heraus, dessen Erbegnis die drei bekannten Stammgruppen der Ioner, Dorier und Aoler waren und die von den Griechen als der Inbegriff des ganzen Volkes angesehen wurden. Die Ahnen dieser Stämme waren direkte Nachfolger des Hellen (Sohn des Menschenschöpfers Deukalion und der Pyrrha, Urenkel der Titanen, Vater von Aiolos, Doros und Xuthos) und standen somit in einer geradezu funktionalen Beziehung zum griechischen Volk. Diese Stämme, die auch Homer größtenteils noch unbekannt waren, sind - genau wie das griechische Volk selbst - ein Ergebnis der archaischen Geschichte. Sie haben keinen realen Verband gebildet und es ist fraglich, ob sie es früher, auf der Wanderung oder vorher, jemals getan haben. Die Griechen bejahten dieses, und so ist zu vermuten, daß eine Einheit zwischen den sehr unterschiedlichen Angehörigen einer Stammesgruppe lediglich auf dem Bewußtsein einer Zusammenghörigkeit fußte. Dabei spielten echte historische Erfahrungen eines Verbandes von Individualitäten eine wesentlichere Rolle als Erinnerungen an die Frühzeit, von der die Griechen nichts wissen konnten und die sie sich auf Grund ihrer Gegenwart zurechtlegten. Deshalb ist dieses Zusammengehörigkeitsgefühl auch am Ende der archaischen Epoche, als gegenseitige Erfahrungen reichlich vorhanden waren, am stärksten. Gegenseitige Beobachtungen und das Wissen um Gemeinsamkeiten ergaben eine Vorstellung, die allein, unterstützt durch die Entstehung der griechischen Poesie und Musik, in der Lage war, das Stammestum dieser Gruppen zu begründen. Die Gestalthaftigkeit dieses Stammesbegriffes zog seine Nährkraft aus der Lebhaftigkeit der Anschauungen, mit der man jeweils die Gegenwart deutete, und der Stärke des Selbstgefühles der sich zu den Stämmen rechnenden Staaten und derjenigen, die sich als ihre Repräsentanten vorkamen. Das setzte sich in ein historisches Wissen um und verfestigte die Anschauungen dadurch, daß es ihnen einen Rückhalt in der Form geschichtlicher Erinnerung gab. Aus diesem Bedürfnis heraus schufen die Griechen ein Bild von sich selbst.
Der griechische Volks- und der Stammestumsbegriff verdichteten sich im Laufe der Zeit immer mehr. Das Nationalbewußtsein kam beständig stärker zur Geltung. Das Hellenion in Naukratis, die Beschränkung der olympischen Spiele auf Hellenen, die Ausschließung der Fremdsprachigen von den Eleusinischen Mysterien etc. sind dafür bekannte Beispiele. Die Anreicherung des Nationalen war eine Folge der allgemeinen Bewußtseinsentfaltung, in ihm nahm man nach einiger Zeit auch den Tatbestand einer allen Griechen gemeinsamen Sittlichkeit auf. Auf diesen Gang fördernd hat auch die Entwicklung des 'agonalen' Denkens gewirkt, d.h. das gegenseitige Abmessen individueller Leistungen auf den verschiedensten Gebieten. Beim Vergleich Hellenen gegen Hellenen wurde den Griechen ihre Zusammengehörigkeit immer gegenwärtiger und fand in den Perserkriegen ihren Höhepunkt, als sich die Volks- und Stammesbegriffe auch in vielen politischen Auseinandersetzungen wiederfanden. Abschließend muß jedoch angemerkt werden, daß die Politisierung des Volks- und Stammesbegriffes über eine Ideologie von verhältnismäßig schwacher Durchschlagskraft nicht hinausgekommen ist.
Nicht zufällig fällt die Entstehung des Hellenennamens in die Zeit der griechischen Kolonisation. Gerade zu dieser Zeit liegt es nahe, daß sich das griechische Selbstgefühl und Selbstbewußtsein besonders ausprägte, als die durch die Kolonisation untereinander enger zusammengeführten Kolonisten von oftmals verschiedenster Herkunft fern des Mutterlandes eine neue Heimat suchten. Andererseits führte das in Kolonisationsgegenden mit dichter Streulage auch zu einer starken Ausprägung der stammesmäßigen Differenzierungen untereinander, sodaß die von Haus aus mitgebrachten Unterschiede in verschärfter Art und Weise hervortraten. Weiterhin lieferte die Kolonisation für die Griechen ein Vorstellungsmodell des Hergangs der Großen Wanderung ab. Diese wurde als eine von bestimmten örtlichen Punkten ausgehende Reihe von Kolonisationszügen gedeutet, sodaß man als Ergebnis für verschiedene Beziehungen mutterländischer Poleis zu den Inseln oder den kleinasiatischen Griechen eine geschichtliche Selbsterklärung fand. Man hat also nur mit einem indirekten Bezug zwischen Kolonisation und griechischer Einheit zu rechnen. Der Kolonisation ging eine wirkliche Gruppenbildung mit nachfolgender Verdichtung der äußeren Beziehungen der Griechen untereinander ab.
Die Möglichkeit zu einer solchen wurde in den Amphiktyonien (´Umwohner´. Die zur Pflege eines gemeinsamen Heiligtums, zu Festversammlungen und zugleich zu regelmäßiger Beratung und Beschlußfassung über gemeinsame Angelegenheiten zusammengeschlossenen Stämme oder Städte bzw. deren Vertreter in der Bundesversammlung) dargestellt, allerdings war auch der Grad der ihnen eigenen 'Vergesellschaftung' relativ gering und ging im Grunde genommen über Nachbarschaftsverhältnisse nicht hinaus. Falls sich Entwicklungen vollzogen, dann nicht in einer Intensivierung der Nachbarschaftsverhältnisse, sondern in einer räumlichen Ausdehnung derselben. Beispiele hierfür sind Olympia und die pyläisch-delphische Amphiktyonie, die so etwas wie ein solidarisches Handeln in bestimmten Fällen gekannt hat.
Diese Einrichtungen reichten in die älteste archaische Zeit und vielleicht noch weiter zurück und wurden von der damaligen Gesellschaft Griechenlands und ihrem adligen Rückgrat getragen. Den 'sozialen Unterbau' der geistigen Vorgänge, die das griechische Einheitsbewußtsein hervorbrachten, bildete der griechische Adel. Als sich das Volks- und Stammesgefüge im griechischen Bewußtsein abzeichnete, suchte und fand der sich mit dem Mythos in enge Verbindung setzende und die geneologische Geschichte pflegende Adel die Erklärung dafür, ganz nach seiner Gewohnheit, in der Herkunft des Volkes und der Stämme von bestimmten heroischen Vorfahren. So war das geschichtliche Bewußtsein an sich ein Ergebnis ständisch bedingter Haltung und sozialer Anschauung. Dies hängt mit dem griechischen Ehr- und Persönlichkeitsbegriff der frühen adligen Gesellschaft zusammen, der den Wert des Menschen immer im Spiegel seiner Mitmenschen sieht. Ruf und Ruhm (kleos) ist wesentlicher Bestandteil adliger Lebensweise und seine Träger führten ihn als einen integrierten Bestandteil des eigenen Bewußtseins mit sich. Praktische Bewegungen werden ständig unter der Berufung auf den Ruhm und die Begutachtung durch andere angestellt. Somit entsteht ein historisches 'Ichbewußtsein' im griechischen Lebensgefühl, daß die Adligen ihr ganzes Handeln auf das Urteil der Gegenwart und der Zukunft abstimmen läßt und einen engen Bezug zur Geschichtlichkeit des Daseins herstellt.
Abschnitt II
Das Wesen des Adels und der älteren Tyrannis.
Die archaische Zeit darf keinesfalls als eine Zeit uneingeschränkter Adelsherrschaft gesehen werden. Obwohl das für zwei Drittel der Epoche zutrifft, ist diese im letzten, wichtigsten Drittel eher zielstrebig adelsfeindlich, indem andere, bürgerliche Kräfte wirksam werden und ihren Tribut für die sich verändernden Umstände verlangten. Die politische Entwicklung zwischen der Großen Wanderung und den Perserkriegen ist dabei ausschlaggebend, sie beginnt mit dem klassischen Wehrverband, geht in einen adelsdominierten Geschlechterstaat über und mündet schließlich in den Bürgerstaat der Polis Mitte des 7. Jahrhunderts. Dieser vereint drei Punkte in sich:
Die Sammlung des politischen Lebens in einem städtischen Zentrum.
Die Ausbildung spezifischer staatlicher Funktionen und deren Überantwortung an Beamte.
Die Schaffung einer bürgerlichen Gesellschaft, die kraft gesetzten Rechtes als solche existiert und Souverän des Staates ist.
Während der Punkt 1 auch für die Zeit der Adelsherrschaft in Frage kommt, kann man davon ausgehen, daß der Adel an den Punkten 2 und 3 wahrscheinlich mitgewirkt hat, sich die in ihnen zum Ausdruck kommende Entwicklung aber direkt gegen die Dominanz des Adels richtet. Dabei ist die Entstehung der Stadt als politischer Mittelpunkt keine Neuentwicklung der Griechen, vielmehr wurden die bei den Eroberungen bestehenden städtischen Verhältnisse aufgrund ihrer Vorteile gegenüber einem ländlichen Siedlungswesen übernommen oder es kam zur Bildung von Stammstaaten, wie sie in Mittel- oder Westgriechenland zu finden sind. In beiden Fällen war der gemeinsame Ausgangspunkt die Bildung einer Wehrgemeinschaft.
Ein Königtum konnte bei den Griechen aufgrund der Macht des Adels nicht sehr stark werden. Da ihnen das Wesen eines aggressiv expandierenden Staates in der archaischen Zeit fremd war und durch die Kleinheit der Verhältnisse ein Feudalsystem ausgeschlossen war, gab es für einen Herrscher keine Möglichkeit zur Machtetablierung und -mehrung. Deshalb gab es bis zur Wende des 7. Jahrhunderts u.a. keine Autorität über dem Adel. Er stand gleichberechtigt neben dem König und teilte mit diesem sogar den Titel des Basileus, besaß gleichbedeutend alle wesentlichen Funktionen des Staates, große Teile des Landes und sogar Städte und Siedlungen. Somit war der Adel im Besitz der materiellen und intelektuellen Überlegenheit gegenüber den Gemeinfreien, ein festes staatliches Gefüge konnte nicht entstehen, und das vorhandene reichte nur soweit wie die jeweilige Adelsgesellschaft.
Die adlige Schicht unterhielt weitläufige Beziehungen ins Ausland und Kriege waren oftmals nur Fehden zwischen den Adligen verschiedener Staaten. Staat und Politik jener Zeit waren eine reine Ableitung der gesellschaftlichen Stellung des Adels, sodaß eine selbständige Staatlichkeit dem damaligen Leben im großen und ganzen unbekannt war. Der archaische Staat der uneingeschränkten Adelsherrschaft befindet sich daher minimal in einer spezifisch staatlichen und maximal in einer gesellschaftlichen Verfassung. Intensive Adelsverbindungen und ein ausgeprägtes Demiurgentum ließen örtlich festgelegte Energien zu Gunsten über den Staat hinausgehender Verbindungen zurücktreten.
Dieses Staatsgefüge endete mit der Entstehung der griechischen Stadt im rechtlichen Sinne und dem Auftreten der bürgerlichen Schichten von der Mitte des 7. Jahrhunderts an bis zu den Perserkriegen. Eine in einmaligen Akten gestiftete Satzung mit geregelter staatlicher Steuererhebung, Lastenverteilung für den Kriegsdienst, Festsetzung des materiellen und formellen Rechtes und Schaffung von Beamtenstellen etc. verdrängte den gewordenen Zustand der standesmäßigen Privilegien. Träger dieser neuen Verfassung war die staatsbürgerliche Gesellschaft der Politen. Trotzdem wurde die politische Formensprache und die soziale Ordnung des Rittertums als Basis beibehalten und viele Adlige besetzten weiterhin hohe Machtpositionen und beugten sich nur oberflächlich der neuen Ordnung. Ein Beleg dafür ist, daß bei der Bildung von Parteien (stasis) im 7. und 6. Jahrhundert immer auch persönliche Interessen von Vertretern der Adelschicht mitwirkten und dem steten Wettkampf der Adligen um Ruhm und Ehre kein Abbruch getan war.
Begreifen wir die archaische Epoche als eine solche der staatlich ungebundenen und damit erst zur Schaffung der griechischen Einheit befähigten Kräfte, stellt sich die Frage, ob man nach der Entstehung der Stadtstaaten, die diesem Wesen in dem Sinne entgegenarbeiteten, daß sie eine Aufhebung der außerstaatlichen Zusammenhänge und Beziehungen bewirkten und die realen Stammesverbände auflockerten, noch von der archaischen Zeit sprechen kann. Im folgenden wird geschildert, daß dies der Fall ist.
Eine der charakteristischsten Erscheinungen dieser Zeit war die ältere Tyrannis (Machtergreifung einer Adelssippe und Ausschaltung der jeweiligen Gegnerschaften) als eine Spielform unter mehreren Möglichkeiten adliger Politik, die aber keinen ausgeformten Staatstypus darstellte. In ihrer Zeit wurden in ganz Hellas starke freundschaftliche Bande geknüpft und die panhellenischen Spiele wurden erst in diesem Abschnitt wirklich groß und kamen als gesellschaftliches Integrationsmittel voll zur Geltung. Man darf dabei aber das Gewicht politischer Themen nicht unterschätzen, im Gegenteil, die internationalen Beziehungen des Adels waren geradezu durchtränkt mit politischen Stoffen. Dabei agierte der Adel aufgrund fehlender Solidarität mit dem Staat häufig sehr eigenständig, vom Staatswesen losgelöst und unabhängig zur Vaterstadt, was nicht selten zu schweren Mißverständnissen und Unklarheiten führen konnte, da neben der offiziellen Staatsgewalt stets selbständige, auch nach außen wirkende Mächte handelten. Das auch in den spätarchaischen Staaten noch recht lockere Gefüge des Staates besaß noch nicht die Kraft, sich dagegen zu wehren. Erst gegen Ende der archaischen Zeit kann man schüchterne Versuche zur Eindämmung dieser Verhältnisse erkennen. Der Staat achtete zunehmend auf die Taten seiner Bürger, übernahm dafür die Verantwortung und trat dementsprechend auch für diese ein.
Abschnitt III
Die Politik der archaischen Zeit
Gegenüber der klassischen Zeit ist die griechische Politik der archaischen Zeit wesentlich weiträumiger anzusiedeln, da das Mittelmeer eine nahezu rein griechische See war und weitläufigste Kontakte und Beziehungen von Spanien bis Agypten erlaubte. Weiterhin findet die griechische Kolonisation in diesem Zeitalter statt und trägt ihren Teil dazu bei. Später wird der griechische Seeverkehr stark durch die persischen und karthagischen Kräfte behindert und mußte sich nur noch auf einen relativ kleinen Raum beschränken.
Die archaische Staatenwelt befand sich derzeit in einem Zustand des dauernden Wechsels und Werdens, verbunden mit dem schon genannten lockeren griechischen Staatsgefüge. Die zwischenstaatliche Politik war flexibel, fließend und noch nicht in dauerhafte und gefestigte Verhältnisse gedrängt, das Fehlen fester staatlicher Mittelpunkte ließ den fließenden Zustand des politischen Lebens noch den gesamtgriechischen Raum erfüllen. Diese Grundzüge des politischen Lebens schufen so eine ständige Fluktuation. Dieser Zustand erhielt durch die inneren Kämpfe um die Neugestaltung der Staaten noch erheblichen Auftrieb durch das dadurch bedingte Freisetzen entsprechender Kräfte, die, aus dem Staatsverband hinausgeworfen, sich als Ungebundene auf dem Feld der zwischenstaatlichen Politik bewegten. Das führte oft zur Unklarheit über staatliche Verhältnisse, z.B. faßte Aigina den Kampf gegen samische Exilanten auf Kreta als einen Krieg gegen Samos auf. Unter diesen Umständen war das archaische Zeitalter sehr interventionistisch. Dadurch herrschte in den zwischenstaatlichen Beziehungen eine ständige Unsicherheit. Friede unter den Staaten war eine höchst fragwürdige Angelegenheit, besonders die Freibeuterei auf See unterstützte diese Ungewißheit und nutzte sie auch aufgrund fehlender Rechtsgrundlagen schamlos aus.
Ein weiterer Unterpunkt, der in der archaischen Zeit anzusiedeln ist, ist das Aufkommen des Geldes. Durch dieses wurde Hellas erst mächtig, konnte seine Flotte ausbauen und den Handel gedeihen lassen. Es verschaffte politische Macht, die sich besonders in Kriegsschiffen und Söldnerheeren zeigte.
In der spätarchaischen Epoche erkannte der griechische Mensch seine Macht und die Kraft, die Geschicke seiner Welt selbst in die Hand zu nehmen. Doch damit geriet er gleichfalls in eine Phase der Haltlosigkeit aufgrund der sich ändernden, von ihm selbst eingeleiteten Verhältnisse. In dieser Phase griff das delphische Orakel als geschichtlicher Willensfaktor ein und diente als Anlehungspunkt für das gesamte Griechentum. Delphi war die überstaatliche Autorität, der die Zeit der unfertigen Staatenbildung bedurfte, und es spielte somit eine bedeutsame Rolle. Dabei konnte Delphi aber erst in das Zentrum Griechenlands rücken, als dieses in Grundzügen schon vorhanden war. An seiner Einheit ist es wohl anteilig beteiligt, aber diese ist im großen ganzen von den gesellschaftlichen Kräften Griechenlands erwirkt worden.
Eine Entsprechung des delphischen Prinzips ist die Aisymnetie, die Ordnung oder Regierung eines Gemeinwesens durch neutrale, auch von Auswärts gerufene Männer mit äußeren Vollmachten. Sie galten als weise Schlichter, die in intern nicht zu lösenden Stasisfällen eingesetzt wurden (Bsp.: Solon).
Durch diese Rückbeziehung des politischen Lebens auf auswärtige Kräfte, die in der gesamten griechischen Gesellschaft wurzelten, bestätigte sich die archaische Epoche in ihrem letzten Abschnitt noch einmal selbst.
Bezug auf die Fragestellung der Einleitung:
Die archaische Zeit Griechenlands stellt somit eine eigene Epoche dar, in ihr fand auf der politischen Ebene der einzige wirkliche dialektische (zu Erkenntnissen gelangende) Umbruch Griechenlands statt. Sie ist auch eine Epoche im Sinne eines Zeitalters mit beherrschendem Inhalt, denn sie ist den anderen Abschnitten der griechischen Geschichte mindestens ebenbürtig, da sie stets erfüllt ist von der Aufgabe, das griechische Volk zu formen und die griechische Gesellschaft zu bilden.
'Sie entläßt damit aus sich die erste große Leistung des griechischen Lebens und schafft mit ihr zugleich den sozialen Körper als das Gehäuse dieses Lebens. Sie gibt dieses Thema trotz aller sonstigen drängenden Probleme vor allem nie völlig aus der Hand, sondern führt es durch alle gleichsam kontrapunktisch gebauten Entwicklungsstadien als führende Stimme mit. Sie ist damit eine Periode von einer verhältnismäßig einheitlichen geschichtlichen Atmosphäre. Als sie mit den Perserkriegen endgültig den Platz räumen mußte, vermochte sie den Griechen nicht nur die Plattform zu stellen, auf der sie sich gegen den Perser sammelten, sondern übergab der Folgezeit auch eine abgerundete und ausgereifte Leistung und ging damit selbst in die Gesamtentwicklung Griechenlands als eine immer gegenwärtige Größe ein.'
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