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Im Anschluss an den Ersten Weltkrieg gibt es in Italien zwei auffällige, politische Bewegungen, die einen enormen Aufschwung zu verzeichnen haben: die sozialistische und die faschistische. Da beide jedoch in ihrem Bestand, in ihren Methoden sowie in ihren Zielen völlig unterschiedliche Richtungen verfolgen, entsteht daraus ein erbitterter Kampf.
Die Sozialistische Partei Italiens trägt den Namen PSI seit dem Jahre 1893, folglich ist sie eine im Land traditionsreiche Bewegung. Vor dem Krieg spiegelt sie durch ihre Einstellung ihm gegenüber, nämlich Neutralität zu waren, die Meinung eines erheblichen Teils der italienischen Bevölkerung, vor allem die der Arbeiter, wider. Aber das Land greift 1915 in den Krieg ein, und kehrt 1918 als einer der Sieger zurück. Doch "Sieger zu sein und sich als solcher zu fühlen und trotzdem die Erniedrigung der Krisen der Besiegten durchmachen zu müssen, das war die Tragödie Italiens nach dem Kriege"[1].
Das heißt, dass sich Italien nach dem Krieg mit schweren wirtschaftlichen, politischen und moralischen Problemen auseinandersetzen muss. Und genau diese Auseinandersetzung ist es, die die Menschen sich dem Sozialismus anschließen lässt. Denn die Masse an Problemen löst bei Vielen allgemeine Unzufriedenheit und Pessimismus aus, was sie dazu bewegt, nach neuen Möglichkeiten zu suchen.
Der Krieg hat nicht die vorher versprochenen Verbesserungen eingebracht, die wirtschaftliche Lage Italiens hat sich sogar eher verschlimmert. Zwar erlebt man während des Krieges einen wirtschaftlichen Aufschwung, dieser wird jedoch beinahe ausschließlich durch die Rüstungs- und Kriegsproduktion erreicht, die ungefähr die Hälfte des italienischen Industrieapparates ausmacht. Die Umrüstung auf Friedenswirtschaft bringt Lohnsenkungen und zahlreiche Arbeitslose mit sich, was bei allen Betroffenen nur auf Ablehnung stoßen kann. Zusätzlich gibt es im ökonomischen Bereich eine weitere Entwicklung, die Unzufriedenheit schürt. Wie automatisch setzt nach dem Krieg ein Mangel an den notwendigsten Rohstoffen wie Eisen und Kohle ein. Dadurch wird der Grad der wirtschaftlichen Abhängigkeit von Ländern wie Amerika und England sehr hoch, man fühlt sich erniedrigt obwohl man eine Siegermacht ist.
Diese Probleme verursachen eine breite Abneigung gegen die bestehende Regierung, die für die Misere verantwortlich gemacht wird und für unfähig gehalten wird. Gleichzeitig verursachen sie einen Zustrom zur PSI, die zu dieser Zeit die einzige der Regierung kohärent gegenüberstehende Partei ist, wofür sie einige Sympathien erhält. Diese lassen sich vor allem unter den Industriearbeitern suchen. Denn so sehr die PSI auch für Kriegsneutralität gewesen war, sie zieht aus der industriellen Mobilisierung während des Krieges den denkbar größten Gewinn, da die Arbeiter in den Fabriken unabkömmlich sind.[2] Dadurch nähern sie sich den Sozialisten immer mehr an. Nach dem Krieg, als diese die proletarische Revolution proklamieren und die Arbeiter zum Mittelpunkt ihrer Propaganda machen, verhelfen sie sich so zu ihrem größten Aufschwung. Die Arbeiter suchen bei den sozialistischen Gewerkschaften Unterstützung im Kampf gegen ihre Arbeitgeber, von denen sie sich übergangen und ausgebeutet fühlen, da sie zwar die harte Arbeit leisten, ihnen jedoch jegliches Mitspracherecht fehlt.
Dieser Kampf weitet sich immer mehr aus, er gipfelt im September 1920 in den Fabrikbesetzungen im Norden Italiens, auf den sich diese Bewegung beschränkt.
Der Zustrom zu den Faschisten im Nachkriegsitalien
Im Gegensatz zu der sozialistischen entsteht die faschistische Bewegung erst im Anschluss an den Ersten Weltkrieg. Im März 1919 entstehen die ersten faschistischen Kampftrupps, nach einer Strukturwandlung formt sich daraus im November 1921 die Faschistische Partei PNF.
Die ersten faschistischen Organe, die Fascio, bestehen hauptsächlich aus drei verschiedenen Menschengruppen, die sich ihnen aus unterschiedlichen Gründen anschließen. Dazu gehören die revolutionären Linksinterventionisten, Anarchisten und Syndikalisten, die Mussolini auf seinem neuen politischen Weg gefolgt sind, weil sich auch ihre Ideen nicht mehr mit den früheren decken. Außerdem die Arditi, ehemalige Frontsoldaten, die sich ein Leben in Friedenszeiten nicht mehr vorstellen können. Um den Krieg in Italien weiterführen zu können, versuchen sie durch die Fascio zur politischen Elite zu werden. Und schließlich die Futuristen, eine Gruppe hochmoderner Künstler, die oftmals für einen Glauben oder eine Idee arbeiten, dafür jedoch noch kaum Aufmerksamkeit erhalten.
In den ersten anderthalb Jahren ihres Bestehens führen die Kampftrupps ein eher örtlich beschränktes Dasein, wobei dieses sich von Region zu Region unterschiedlich entwickelt. Es passt sich sozusagen den örtlichen Problemen an. Dabei sind die Faschisten jedoch noch nicht betont antisozialistisch, ihr Programm ist sogar relativ marxistisch. Es handelt sich bei diesem jedoch nicht um ein perfekt ausgeklügeltes, denn die Auszeichnung des Faschismus besteht eher in einem bestimmten Lebensgefühl, welches in Taten umgesetzt wird. Es ist ein Lebensstil, der seinen Mitgliedern eine bestimmte innerliche und äußerliche Haltung auferlegt , die sich ausdrückt in Energie, Disziplin und Dynamik. Dieses Dasein hat sicherlich auf einige Menschen in der unruhigen Nachkriegszeit eine starke Wirkung, was sehr vorteilhaft ist. Denn der nach dem Krieg herrschende Pessimismus bringt nicht nur dem Sozialismus zugeneigte Menschen hervor, sondern auch welche, die sich mit keiner der bestehenden Parteien identifizieren können. So findet der Faschismus seine Anhänger in ganz anderen Bereichen als der Sozialismus, ab Ende des Jahres 1920, im Anschluss an die Fabrikbesetzungen, sogar zum größten Teil bei deren Gegnern oder bei deren ehemaligen Anhängern. Dieses zeigt sich sehr deutlich bei der Gründung des PNF im November 1921. Zu diesem Zeitpunkt haben die Faschisten bereits Fuß gefasst, es schlagen sich ein großer Teil des Kleinbürgertums, Angestellte, Intellektuelle und ehemalige Soldaten auf ihre Seite , um aus ihnen einen Nutzen zu ziehen. Dieser besteht darin, die für sie bedrohlich wirkenden Sozialisten bekämpfen zu können. Denn sowohl die Kleinbürger und Intellektuellen, als auch die Soldaten entwickeln einen starken Hass auf die Sozialisten bzw. auf das Arbeiterproletariat.
Die Kleinbürger haben grundsätzlich das Bestreben, in eine höhere Klasse aufzusteigen. Doch da sie unter der wirtschaftlichen Schwäche Italiens leiden, haben sie Angst vor Verproletarisierung. Die "äußerst hohen" Löhne der Arbeiter halten sie für die Hauptursache der Verteuerung ihres Lebens[5]. Sie wollen sich also gegen das Aufstreben der Arbeiter wehren, sich ihnen gegenüber behaupten. Genauso ist es mit den Intellektuellen. Sie sehen sich nach dem Krieg besser situierten Proletariern gegenüber, ihre eigene Zukunft scheint ihnen fragwürdig. Ebenso geht es den ehemaligen Soldaten. Neben der Tatsache, dass sie mit dem Faschismus sympathisieren weil er für sie eine Verlängerung des Kriegszustandes bedeutet, ist auch bei ihnen die Auflehnung gegen das Proletariat impliziert. Denn die Arbeiter empfangen sie bei ihrer Rückkehr eher mit Abneigung als mit Freude, sie wissen die soldatischen Opfer nicht zu würdigen. Wie auch die PSI selbst, die ihrerseits nichts tut, um die Heimkehrenden politisch zu neutralisieren. Die demobilisierten Militärs wenden sich dem PNF zu, nutzen ihn als Ventil, zum Ausdruck verschiedener Angste. Der Faschismus wandelt sich so im Anschluss an die
Fabrikbesetzungen zur Massenpartei, gleichzeitig werden die Sozialisten dadurch zu ihren größten Feinden.
Mussolini selbst bezeichnet das Zustandekommen des Faschismus als "Ausfluss eines tiefen Bedürfnisses unserer Rasse, die sich in einem gegebenen Augenblick in der Grundlage ihrer Existenz bedroht fühlt( )"[6].
Die Fabrikbesetzungen im September 1920
Die Arbeiter gehen mit einem langen Katalog von Forderungen an die Unternehmer in den Kampf[7], der sich sowohl aus sozialen als auch aus materiellen Aspekten zusammensetzt. Zunächst fordern sie höhere Löhne und geregelte Arbeitszeiten. Sie wollen die Gewährleistung der Sicherheit am Arbeitsplatz und eine umfassende soziale Absicherung. Doch noch untragbarer für die Unternehmer als diese sind die Ziele, die sich die Arbeiter in Bezug auf das Mitspracherecht und auf ihre zukünftige Verwaltung gesetzt haben, da die Erfüllung dieser Forderungen die Machtverhältnisse zwischen den Klassen ändern würde. Für die Industriearbeiter sind Betriebsräte geplant, denen u.a. Rechte über die Kontrolle der generellen Ausgaben des Betriebes und über die am jeweiligen Können gemessene Arbeitszuteilung vorbehalten sein sollen. Für die Unternehmer würde das parallel zu einer Machtverkleinerung die größtmögliche Belastung bedeuten, weshalb sie sich gegen die Forderungen lange wehren.
Am 16. September trifft Giolitti, der derzeitige Ministerpräsident, in Turin, dem Zentrum der Besetzungen, ein, um eine Lösung des Konflikts zu finden. Er übt Druck auf die Industriellen aus, sagt, dass es nicht mehr zeitgemäß sei zu gestatten, dass unzählige Arbeiter vom guten Willen eines einzelnen abhingen, ohne zu wissen, was in der Fabrik vor sich gehe[8]. Generell tritt der Politiker für die Betriebskontrolle durch die Arbeiter ein, fordert die Arbeitgeber auf, auf Gegenforderungen zu verzichten. Diese jedoch wollen die gewaltsame Entfernung der Arbeiter aus den Fabriken, worauf die Regierung aus technischen wie auch aus juristischen Gründen nicht eingeht. Erst am 19. September einigen sich Gewerkschaft und Unternehmerverband, nachdem sich beide Seiten gegenseitig immer weiter durch Androhungen über Verhandlungsabbruch in die Enge getrieben hatten. Den Arbeitern werden Lohnerhöhungen von 4 Lire pro Tag und eine Verlängerung des Jahresurlaubs auf 6 Tage zugesichert, ein Gesetz über die Mitspracherechte der Arbeiter wird versprochen, jedoch nicht eingehalten. Da keine der beiden Konfliktgegner mit dem Ergebnis völlig zufrieden ist, wird darüber in der Masse abgestimmt. Dabei stimmt der Gesamtverband der Unternehmer mit 21 zu 14 Stimmen zu, 75 Prozent der Arbeiter wählen den Kompromiss.
Die Fabrikbesetzungen stellen einen entscheidenden Wendepunkt in der italienischen Nachkriegszeit dar, denn sie leiten durch ihren Ausgang eine neue politische Entwicklung ein.
Der Kompromiss zwischen den Arbeitern und den Unternehmern sichert ersteren bislang unbekannte Rechte, sie bekommen mehr Geld und mehr Urlaub. Außerdem können sie direkt nach den Besetzungen ihre normale Arbeit wieder aufnehmen, sie werden für die Aufstände nicht bestraft. Realpolitisch gesehen stellen die Fabrikbesetzungen also einen Sieg dar, denn dass die Situation der Arbeiter durch sie besser ist, lässt sich nicht bestreiten.
Doch was ist aus ihrem eigentlichen Ziel, der proletarischen Revolution, geworden? Denn diese wird ja nach dem Ersten Weltkrieg von den Sozialisten zum unmittelbaren Ziel erklärt. Die Übernahme der Fabrikleitung scheint auch ein wichtiger Schritt in diese Richtung zu sein. Doch ist er geeignet, um ihn zur Revolution auszuweiten? Während der Besetzungszeit zeigt sich, dass es einige Schwierigkeiten gibt, die die Arbeiter nicht ohne weiteres, und noch weniger auf längere Zeit, zu bewältigen wissen. Es gibt nicht ausreichend Geldmittel, um Löhne und Produktion abzudecken, benötigte Materialien gehen aus und auch die abnehmenden Firmen zeigen keine positive Resonanz. Deswegen werden die Arbeiter ungeduldig, sie gehen auf das Abkommen, welches Ministerpräsident Giolitti vorschlägt, ein. Ganze 75 Prozent stimmen dafür. Schon allein diese Zahl zeigt, das die Bewegung einen Minderheitscharakter hat. Das heißt, dass viele der Arbeiter gar nicht von Grund auf marxistisch denken, sondern sich möglicherweise eher durch revolutionäre Parolen haben berauschen lassen[9]. Nicht die Masse sympathisiert mit der Revolution, sondern nur ein Kern. Dieses mag daran liegen, dass viele von ihnen nicht immer sozialistisch waren, sondern sich der PSI in einem Verwirrtheitszustand nach dem Krieg aufgrund ihrer Unzufriedenheit über ihre Arbeitsbedingungen und über die wirtschaftliche Unordnung zuwenden. Diese Motive sind jedoch zu oberflächlich, als dass man sie mit einer sozialistischen Theorie erklären könnte. Die Arbeiter entsprechen quasi nicht der Marxschen Definition. Denn nach dem nicht gewollten Krieg, der kaum Gutes mit sich bringt, können die Menschen nur enttäuscht sein. Die Sozialisten aber erkennen diese Oberflächlichkeit offensichtlich nicht. Denn sonst hätten sie sich mehr Zeit nehmen müssen, einen anderen Weg gehen müssen. Oder waren sie selbst überhaupt noch nicht reif für so eine Revolution?
Auch die italienische sozialistische Partei trägt zwei Strömungen in sich: die orthodoxe und die reformistische. Letztere überwiegt im Land seit jeher. Während des Ersten Weltkrieges entwickelt die PSI, gemessen an ihrer immer mehr anwachsenden politischen Kraft, eine sehr beschränkte politische Tätigkeit[10]. Zwar gewinnt sie in dieser Zeit die Vorraussetzungen für den anschließenden Aufschwung, doch scheint sie selbst über ihren Erfolg verwundert zu sein. Denn zu diesem Zeitpunkt kommt aufgrund des enormen Zustroms die Frage wieder auf, ob eine Revolution stattfinden sollte. Diese Frage können sich die Sozialisten jedoch scheinbar nicht beantworten, denn sonst wäre an dieser Stelle eine Entscheidung entweder für oder gegen die Revolution notwendig gewesen. Aber "alle diese Männer waren zuwenig Revolutionäre, um Blut und Katastrophe zu wollen, zu wenig Reformisten, um sich mit Entschiedenheit aus den vertrauten Denkformen herausstellen zu können" .
Mit dem Ende der Fabrikbesetzungen kommt auch das Ende der revolutionären Arbeiterbewegung. Denn den Besetzern wird durch das Eingehen des Kompromisses jegliche revolutionäre Kraft, oder auch nur Hoffnung, genommen. Dieses darf nicht passieren, wenn es eine Partei gibt, die die Massen, die ihr anhängen, kontinuierlich, und vor allem mit eigener Überzeugung, zur Revolution hinführt. Die sozialistischen Führungskräfte bekämpfen sich jedoch mehr untereinander, anstatt die realen Möglichkeiten zu nutzen. Denn wenn man bereits eine so große Anhängerschaft hat, und wenn man gleichzeitig die größte und bestorganisierteste Gruppe in der Kammer stellt, so wie es schon im November 1919 mit 154 Abgeordneten der Fall war, dann bleibt eigentlich nur eine einzige logische Möglichkeit, dieses auszunutzen, und zwar über den parlamentarischen Weg zu seinem Ziel, der Diktatur des Proletariats, zu gelangen. Die Fabrikbesetzungen sind hinsichtlich dieses Ziels gescheitert, was zeigt, dass der reformistische Flügel der PSI gegenüber dem orthodoxen die Oberhand gewonnen hat. Die sozialistischen Führungskräfte treffen jedoch in dieser Situation mehrere Fehlentscheidungen.
Die erste ist, dass sie das, was sie als revolutionären Kampf begonnen hatten, nicht auch als solchen fortführen bzw. beenden. Die zweite ist, dass sie, als der revolutionäre Aufschwung beendet ist, nicht einen neuen Weg gehen, sondern sich immer noch auf den alten versteifen. So verkennen sie völlig die sich ihnen bietenden Möglichkeiten, haben ein Fehlempfinden bezüglich der Revolution. Subjektiv gesehen befinden sie sich nicht in einer revolutionären Situation. Dass die meisten anderen Parteien und Menschengruppen das jedoch genau umgekehrt wahrnehmen, entgeht ihnen. Damit entgeht ihnen auch der Gedanke, dass viele Menschen sie deshalb für sehr bedrohlich halten könnten.
Einige Arbeiter sind enttäuscht darüber, dass das eigentliche Ziel, das ihnen wirtschaftliche Macht garantiert hätte, nicht verwirklicht wurde. Diese Enttäuschung hat die fatale Folge, dass sie sich zu großen Teilen von den Sozialisten abwenden, und sich der anderen aufkommenden Massenbewegung, den Faschisten, anschließen. Für sie ist die revolutionäre Kraft, die sie in den Sozialisten anfangs gesehen hatten, erstickt. Auch das wiederum sehen die Sozialisten scheinbar anders. Denn das erste, was sie im Anschluss an die Fabrikbesetzungen anstreben müssten, ist, die neuerlangten Rechte der Arbeiter langfristig zu erhalten und auszubauen. Denn eine Revolution kann doch durchaus schrittweise und über einen längeren Zeitraum hinweg stattfinden. Dieses kann jedoch nur auf parlamentarischem Wege geschehen. Doch die Sozialisten müssen die Krise der fehlenden Verantwortung der Macht durchmachen[12]. Anstatt sich an der Regierung zu beteiligen und das zu verteidigen, was sie bisher erreicht hatten, spricht die PSI weiter von Revolution. Doch weiß man nicht, wie viele Interessen man verletzt, wie viel Versprochenes man nicht gehalten hat? Welche Angst man verbreitet hat unter dem Kleinbürgertum durch die scheinbar drohende Revolution? Und hat man dadurch nicht den Willen, die Taktik zu ändern?
Offenbar nicht, denn sonst würden die Sozialisten ihre Vorurteile gegen die Zusammenarbeit mit einer bürgerlichen Regierung überwinden, sie hinter die eigenen Ziele stellen. Aber für sie bedeutet ihr Parlamentsmandat nicht eine Anerkennung der konstitutionellen Verfassung, sondern die Vorbereitung der Revolution , deren Chance, in der Art, wie die Sozialisten sie wollen, bereits vergangen ist. Für sie kommt nur eine Revolution im marxistischen Sinne in Frage, wobei ihnen parallel dazu die ihnen mögliche entgeht. Das heißt, sie glauben eine Wirtschaftsdiktatur aufbauen zu können, durch die dann die politische Diktatur erreicht werden soll. Jedoch hat sich dieses bereits als undurchführbar erwiesen. Umgekehrt wäre das möglich. Anhand des politischen Einflusses, dessen sich zu bedienen in ihrer eigenen Entscheidung liegt, könnten sie versuchen, im ökonomischen Bereich einiges im Sinne der Arbeiter zu verändern . Vor diesem politischen Kampf schrecken die Sozialisten jedoch sowohl aus theoretischen, als auch aus taktischen Vorurteilen zurück. Sie sehen nicht die Notwendigkeit, aus der politischen Isolierung herauszukommen, um im richtigen Moment mit dem Bürgertum zusammenzuarbeiten . Das wäre jedoch die einzige Möglichkeit, zukünftig ihrem Ziel etwas näher zu kommen. Doch mit ihrer abgeneigten Haltung verspielen die Sozialisten ihre Chance auf politische Mitwirkung, ihre Entscheidungsunfähigkeit bezüglich der Revolution nimmt ihnen auch den Boden der proletarischen Wirklichkeit .
So verlieren die Sozialisten den größten Teil ihrer Sympathisanten aufgrund von Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen, sie können weder mit Entschiedenheit als Revolutionäre auftreten, noch sich den sich ihnen bietenden parlamentarischen Möglichkeiten stellen. Sie verlieren jedoch nicht nur ihre Anhänger, sondern sie spielen durch ihr Verhalten ihrem politischen Gegner direkt in die Arme. Kurz gesagt bedeutet das, dass die Schwäche der Sozialisten zur Stärke der Faschisten wird.
Diese, die sich im Aufbau befanden, als der Sozialismus seinen größten Aufschwung erlebte, werden Ende des Jahres 1920 zur Massenbewegung. Haben sie den Sozialismus also zum Erliegen gebracht? Die Zahlen sprechen dagegen, denn die Anzahl der Fascio steigt von 190 im Oktober 1920 auf 800 Ende des gleichen Jahres. Das ist zwar ein enormer Zuwachs, jedoch findet er ausschließlich nach den Fabrikbesetzungen statt, nicht etwa parallel dazu. Ganz im Gegenteil: In der Zeit, die als Höhepunkt der sozialistischen Bewegung angesehen wird, verhalten sich die Faschisten sehr ruhig, es kommt ihrerseits zu keiner Aktion. Folglich hat der Faschismus den Sozialismus nicht zu Fall gebracht, sondern hat mit seinem Aufstieg höchstwahrscheinlich lediglich das vollendet, was die Sozialisten selbst schon begonnen hatten. Der Faschismus ist also eher als eine Reaktion auf seinen politischen Gegner anzusehen.
Diese Reaktion setzt sich jedoch die Vernichtung des Sozialismus zum Ziel, so entsteht Ende des Jahres 1920 ein erbitterter Kampf zwischen den beiden Parteien. Dabei liegen die Vorteile eindeutig auf der Seite der Faschisten. Denn sie haben das revolutionäre Auftreten, das die Sozialisten verloren haben, und sie haben in Benito Mussolini eine starke Führungsperson, an der sich die Menschen orientieren, die sie sich zum Vorbild nehmen. Auch diese fehlt den Sozialisten.
Nicht nur die Vorteile liegen auf Seiten der Faschisten, sondern auch das Übergewicht in den Kämpfen. Angriffe gehen beinahe ausschließlich von ihnen aus, die Gegner leisten mehr oder weniger Widerstand.
Dabei muss man das Verhalten beider Parteien unterschiedlich charakterisieren. Die Faschisten gehen sehr zielbewusst vor, greifen sämtliche sozialistische Einrichtungen an, bedeutungslos, ob sie der reformistischen oder der revolutionären Fraktion nahe stehen. Ihre Gewalt ist systematisch und gut durchorganisiert, sie arbeiten landesweit zusammen. Nach ihrer Methode, der Kooperation, erscheinen Faschisten aus allen umliegenden Städten zur Strafexpedition in der Stadt, in der einer von ihnen getötet wurde. Anders hingegen die Sozialisten. Ihr Widerstand ist unkoordiniert und ungeduldig, sie lassen sich eher überwältigen als zu versuchen, alle zusammenzuarbeiten[17], obgleich gerade ihr Feind das beste Beispiel dafür abgibt.
Diese Schwäche erkennen die Faschisten und nutzen sie geschickt für ihre Ausdehnung bzw. zur schrittweisen Zerstörung der Sozialisten. Denn hier kann man in keiner Weise von Ausgeglichenheit oder Fairness im Kampf sprechen. Eher davon, dass die Faschisten die Sozialisten mit einer klugen Taktik immer genau zum richtigen Zeitpunkt provozieren, sie quasi zu Gewalttaten zwingen. Sie versetzen ihre Gegner in so große Angst, dass diese sich zu kopflosen Gegenaktionen hinreißen lassen. Ein sehr prägnantes Beispiel dafür bietet die Bluttat von Empoli in der Toskana.
Die dortige Bevölkerung wird durch das Gerücht, dass Faschisten auf Lastwagen im Anmarsch seien, in Aufruhr versetzt. Man versorgt sich daraufhin vorsorglich mit Waffen. Als tatsächlich zwei mit Männern besetzte Lastwagen in die Stadt einfahren, werden diese von den aufgebrachten Menschen mit Stöcken und Steinen empfangen. Der erste Wagen kann entkommen, den Insassen des zweiten helfen jedoch auch mehrmalige Versicherungen, dass sie keine Faschisten seien, nichts. Die wütende und völlig verängstigte Masse schlägt sie zu Tode[18]. Es scheint, als wären sie aus Angst um ihr eigenes Leben von Sinnen, weswegen sie auf den Gegner einschlagen, bevor er es tun kann. Ihre Gewalt wird also erst durch ihr Gegenüber hervorgebracht, ist dabei wild und undurchdacht.
Aufgrund dieses Verhaltens der Sozialisten gelingt es den Faschisten immer wieder, sich selbst als Opfer in einem Angriff hinzustellen, der ursprünglich von ihnen ausgeht. So kommt die faschistische Gewalt oft in einer Atmosphäre der Sympathie zum Sieg , Außenstehenden bleiben die wahren Urheber der Gewalt oft verborgen, sie nehmen nur das wahr, was für sie offensichtlich scheint. So wandern auch hier die Sympathien immer weiter in Richtung der Faschisten. Deren Gewalt stellt genau das Gegenteil zu der der Sozialisten dar, sie trifft immer ihr Ziel und zieht dabei keine Bestrafung mit sich. Wie auch im folgenden Beispiel, dass sich im Juli 1921 ereignet.
Der Bürgermeister eines italienischen Dorfes weigert sich auf faschistische Aufforderung hin zu demissionieren. Nach quälendem Warten kommen die faschistischen Lastwagen, Häuser werden angezündet, die Landleute flüchten in die Felder. Als die Faschisten endlich abfahren, kehrt die Bevölkerung zurück. Doch nach einigen Minuten heulen die Motoren erneut auf. Einer der Squadristen war auf dem Rückweg von einem Unbekannten getötet worden. Die Rache trifft das kleine Dorf. Die Männer springen von ihren Wagen, zu neuer Flucht ist es zu spät. Wahllose Exekutionen und brutale Brandlegungen verwandeln den Ort in ein Szenarium aus Dantes Inferno[20]. An diesem Beispiel lässt sich sehr gut der gewissenlose und menschenverachtende Charakter der faschistischen Gewalt erkennen. Der Historiker E. Nolte beschreibt sie als zynisch und böse, sie zeige diabolische Freude an der Erniedrigung anderer Menschen. Im Namen der sich in Gefahr gebracht gefühlten Schichten führe sie einen Verzweiflungskampf gegen ihren Klassenfeind .
Durch solche Aktionen kommt es innerhalb weniger Monate zur Zerstörung aller mühsam erkämpften sozialistischen Einrichtungen. Dieses ist wiederum symbolisch für das vorläufige Ende des Erfolges des italienischen Sozialismus. Denn während der Faschismus immer weiter aufsteigt, schrumpft der Sozialismus nach und nach auf Vorkriegsgröße zusammen. Innerlich zerrissen, erlebt die PSI im Januar 1921 ihre erste Teilung, die Kommunistische Partei entsteht. 1922 trennen sich die Sozialisten dann noch ein zweites mal in Sozialrevolutionäre und Unitarier, die mit den heutigen Sozialdemokraten vergleichbar sind.
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