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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Die Situation der Juden während des Naziregimes in Deutschland
Die Machtergreifung Hitlers
Die Politik der Nationalsozialisten gegen ausländische und jüdische Mitbürger
Geplante Maßnahmen gegen die Juden nach der Machtübernahme
Juden in Deutschland
Wie viele Juden lebten in Deutschland ?
Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur der Juden
Reaktionen der jüdischen Bevölkerung auf die Machtübernahme Hitlers - Flucht oder nicht ?
Die Flucht der Juden aus Deutschland
Auswanderung der Juden von 1933 bis zur Reichskristallnacht
Auswanderung deutscher Juden nach Großbritannien
Die Britische Flüchtlingspolitik
Einzelschicksale
"Nur jetzt nach all den Jahren " - Claire Allen
"Nur ein Photo von den Eltern" - Liesl Heilbronner
"Meine Heimat" - Richard Löwenthal
Vorwort
Diese Hausarbeit soll sich befassen mit der Flucht, denn von einer Emigration oder Auswanderung
kann man in diesem Sinne eigentlich nicht sprechen, deutscher Juden nach Großbritannien. Dabei
ist es jedoch, wie wir im Laufe unserer Arbeit festgestellt haben, nicht immer möglich, nur die
deutschen Juden als isolierte Gruppe zu betrachten, immer wieder mischt man sie mit anderen
fliehenden. Auch kann eine so große Fluchtbewegung nicht nur auf Großbritannien hin betrachtet werden, wir haben deshalb unseren Blick erweitert auf britisch dominierte Gebiete wie Palästina, das neben den USA das häufigste Fluchtziel war.
Zunächst soll einmal die Situation und Identität der jüdischen Bevölkerung in Deutschland geklärt und dargestellt werden, auf Maßnahmen der neuen Führung eingegangen und die Reaktionen der betroffenen Juden dargelegt werden
Im folgenden soll dann die Flucht aus Deutschland in der Vorkriegszeit sowie nach Kriegsausbruch erläutert werden.
Die britische Politik diesen Flüchtlingen ist zum Verständnis der Flucht von größter Bedeutung, die Ziele der britischen Regierung beziehungsweise die Nichtziele belegen sehr deutlich die Situation der vor dem Exodus fliehenden Menschen.
Abschließend soll noch an drei konkreten Personen, die die Flucht miterlebt, jedoch auf drei völlig verschiedene Weisen miterlebt, haben, gezeigt werden, welche Wege wahrgenommen wurden, welche Verhaltensmuster nach der Emigration zu Tage traten, auf britischer sowie auf jüdischer Seite.
Die Situation der Juden während des Naziregimes in Deutschland
Die Machtergreifung Hitlers
Nachdem Hitler 1933 an die Macht gekommen war, setzte er seine nationalsozialistischen Ziele zur Errichtung eines rein arischen Staates, der durch die Ausweisung aller nicht deutschen Teile der Bevölkerung realisiert werden sollte, sofort in die Tat um.
1.2. Die Politik der Nationalsozialisten gegen ausländische und jüdische Mitbürger
Die Haltung der Nationalsozialisten gegenüber allen Fremden, und insbesondere den Juden, die in Deutschland lebten, war bereits seit langem klar, da bereits Jahre vor der Machtübernahme Hitlers dessen Buch "Mein Kampf" die Weichen für seine spätere Politik stellte. Bereits dort beschreibt er seine Wandlung zum Antisemiten in den Wiener Jahren von 1908 bis 1913 als den entscheidenden Schritt seines Lebens.
Diese Weltanschauung manifestiert sich besonders deutlich in einem Zitat aus dem oben genannten Buch. Der Satz "Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn" (Hitler 1929:12f.) macht deutlich klar, wie Hitlers Einstellung bereits Jahre vor der Machtergreifung den Juden gegenüber war. Daß er sich in diesem Satz auf Gott beruft, macht deutlich, daß sein Judenhaß nicht rational zu begründen war, sondern etwas höheres als Tarnung für seine nicht vorhandene Logik herhalten mußte, um die Bevölkerung von seinen Gedanken zu überzeugen, was ihm letztendlich ja auch größtenteils gelang.
Wenn man sich als weiteren Eckpfeiler der nationalsozialistischen Ideologie das Parteiprogramm, das bereits dreizehn Jahre vor dem Gewinn der Wahlen von 1933 veröffentlicht worden ist, so erkennt man deutlich, daß die Ideen Hitlers, die er in "Mein Kampf" andachte, weiter geführt worden sind, so daß es inzwischen nicht mehr nur gegen Juden in Deutschland geht, sonder um alles Fremde im allgemeinen, dessen Vertreter sich in Deutschland befanden.
So wird dort allgemeiner formuliert und mit den Begriffen Staatsbürger und Volksgenosse operiert, die dem gesamten Parteiprogramm einen deutlich politischeren Anstrich geben, als es mit den Haßtiraden Hitlers gegen die Juden in "Mein Kampf" je möglich gewesen wäre.
1.3. Geplante Maßnahmen gegen die Juden nach der Machtübernahme
Das eben erwähnte Parteiprogramm von 1920 läßt sich als Grundlage der fremdenfeindlichen Politik sehen, wobei es in der Wortwahl noch relativ neutral bleibt, bevor dann in den folgenden Jahren die Fremdenfeindlichkeit im allgemeinen und der Antisemitismus im besonderen in immer neueren Manifesten, die dazu dienen sollten einen arischen Staat aufzubauen, von der nationalsozialistischen Führung in den schnell gleichgeschalteten Staatsorganen publiziert wurden.
Die immer härtere Politik gegen Ausländer und Juden läuft parallel zu denen in Publikationen auch immer brutaler werdenden Ausdrücken gegen alles nicht arische, was sich sehr deutlich an dem schon mehrmals erwähnten Parteiprogramm von 1920 im Vergleich zu einem Aufsatz Joseph Goebbels vom 21.Januar 1929.
Im Parteiprogramm ist von Sätzen wie "Wenn es nicht möglich ist, die Gesamtbevölkerung des Staates zu ernähren, so sind die Angehörigen fremder Nationen (Nichtstaatsbürger) aus dem Reiche auszuweisen."(Feder 1933:20) die Rede, die wenigstens noch den Ansatz einer Argumentation beinhalten, wohingegen der Aufsatz von Goebbels sich nur noch auf die Juden bezieht, die es ohne tieferen Sinn auszuradieren gilt: "Man kann den Juden nicht positiv bekämpfen. Er ist ein Negativum, und dieses Negativum muß ausradiert werden aus der deutschen Rechnung, oder es wird ewig die Rechnung verderben."(Goebbels 1929:322)
Obwohl die Politik der Nazis zunächst eine andere Richtung nahm, nämlich die der Vertreibung von fremden Mitbürgern aus Deutschland, so lassen sich doch in Goebbels' Aufsatz bereits die Gefahren erahnen, denen man ausgesetzt war, wenn man Deutschland nicht schnell verließ. Jedoch wurden diese Aussagen der Nazis von allen Beteiligten, außer sich selbst, nicht ernst genommen, so daß sich später eine der größten Katastrophen der deutschen Geschichte abspielen konnte, die in der Massenvernichtung von Millionen von Juden endete.
Im nun folgenden Bereich wird auf die Situation der Juden in Deutschland von der Machtergreifung Hitlers bis 1941 unter dem Aspekt der Flucht eingegangen.
2. Juden in Deutschland
Die jüdischen Familien, die sich während der dreißiger Jahre in Deutschland befanden, lebten meist schon länger im Gebiet des damaligen Deutschland als die sogenannten Arier, die sich im Gefolge Hitlers nun zu Herrenmenschen machten, ohne eigentlich zu wissen, warum:
"Die deutschen Juden sind Deutsche. Seit mehr als 1600 Jahren wurzeln sie in deutscher Erde, atmen sie deutsche Luft, wachsen sie in deutscher Kultur auf, sprechen sie in deutscher Sprache []. Darf man ihre Nachkommen heute als Zugewanderte auf deutscher Erde bezeichnen?"(Centralverein Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1932)
Dieses Manifest, das Angriffe auf das Heimatrecht der Juden in Deutschland zurückweist, soll als Einstieg in die nun folgende Betrachtung der jüdischen Strukturen in der deutschen Gesellschaft dienen.
2.1. Wie viele Juden lebten in Deutschland?
Anhand dieser Tabelle, die 1934 in "Der Morgen" veröffentlicht wurde, läßt sich klar erkennen, wie gering die Anzahl der jüdischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung war. Zwar könnte man sagen, daß diese Tabelle nur einen kleinen Ausschnitt der Gesamtstruktur zeigt, da nur Städte über 100.000 Einwohner mit mindestens 2000 Juden berücksichtigt worden sind, aber gerade in diesen Ballungszentren lebten 1933 70,8% der jüdischen Gesamtbevölkerung, so daß diese Tabelle repräsentativ ist.
Die Gesamtzahl der in Deutschland ansässigen Juden betrug 1925 564.558, wohingegen bis 1933 ein Rückgang auf 499.682 stattfand, was einen Anteil von 0,77% an der Gesamtbevölkerung ausmachte. Dies bedeutete einen neuen Tiefstand, den es seit 1816 in Deutschland nicht mehr gegeben hatte.
Die Gründe hierfür liegen in der zunehmenden Überalterung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und der Tatsache, daß die Volkszählung von 1933 im Juni, also nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten stattfand, als schon relativ viele junge Juden aus Deutschland geflohen waren, da sie die nahende Katastrophe erkannten.
Bemerkenswert ist die Tatsache, daß in Berlin 1933 mit 160.564 Juden beinahe ein Drittel der Gesamtanzahl der Juden in Deutschland in einer einzigen Stadt lebte. Somit ist Berlin ein gutes Beispiel für die zunehmende Urbanisierung der Juden, denn obwohl die Anzahl der Juden in Berlin von 1925 bis 1933 abgenommen hat, liegt diese Abnahme mit 7,1% weit unter dem Reichsdurchschnitt, was zeigt, daß diese geringe Abnahmerate nur mit der Zuwanderung neuer Juden, die vielleicht vorher in eher ländlichen Gebieten lebten, zu erklären ist.
Den Gesamteindruck der zunehmend sinkenden Anzahl der Juden in Deutschland macht die obige Tabelle deutlich, so daß hier nicht auf weitere Einzelheiten eingegangen werden muß.
2.2. Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur der Juden
Hinsichtlich der Wirtschafts- und Berufsstruktur unterschied sich der jüdische Bevölkerungsteil von der Gesamtbevölkerung durch Konzentration in den Wirtschaftszweigen Handel, Industrie und Handwerk sowie in -der Öffentlichkeit dienenden- freien Berufen, was die folgenden beiden Tabellen deutlich zum Ausdruck bringen.
Die Wirtschaftsstruktur der Glaubensjuden in Deutschland Mitte 1933:
1.Land- und Forstwirtschaft
2/3. Industrie und Handwerk
4.Handel und Verkehr
5.Öffentlicher Dienst und private Dienstleistungen
6.Häusliche Dienste
7.Berufslose Selbständige
(aus: Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialgeschichte 1936:13)
Diese und die später folgende Tabelle, die sich mehr mit dem Vergleich der Wirtschaftsstrukturen von Juden im Vergleich zum Rest der in Deutschland lebenden Personen beschäftigt, zeigen auf, daß das Gewicht der Juden, die arbeiteten, auf anderen Sektoren lagen als das der arbeitenden Nichtjuden. Besonders deutlich wird dies, wenn man sich den prozentualen Anteil der Juden von 0,77% an der Gesamtbevölkerung ansieht und ihn mit der Anzahl der arbeitenden Juden in verschiedenen Wirtschaftsabteilungen vergleicht.
So lag die Anzahl der Juden, die ihr Geld in der Land- und Forstwirtschaft verdienten, mit 0,04% deutlich unter dem Durchschnittswert von 0,77%, was sicherlich mit der oben bereits erwähnten immer stärker werdenden Urbanisierung der in Deutschland lebenden Juden zusammenhing. Da es nur sehr wenige Juden gab, die auf dem Land lebten, konnte die Zahl der Bauern in ihren Reihen nicht so hoch sein wie bei dem Rest der deutschen Bevölkerung, von der prozentual weit mehr in ländlichen Gegenden lebten.
Dieser geringe Prozentsatz der auf dem Land arbeitenden Juden wurde jedoch durch den im Vergleich zum Durchschnitt hohen Prozentsatz von 2,37% der Juden, die in der Wirtschaftsabteilung Handwerk und Verkehr arbeiteten, ausgeglichen. Daß die Juden in diesem Bereich im Vergleich zum Durchschnitt von 0,77% deutlich überrepräsentiert waren, hing mit den verschiedenen wirtschaftlichen Traditionen zusammen.
"Die Gesamtbevölkerung differenzierte sich in ihrer wirtschaftlichen Betätigung von der Landwirtschaft her, die Juden vom Handel aus."(Kahn 1936:12) schrieb Herbert Kahn bereits 1936 in einem Aufsatz, der deutlich machte, daß diese Verteilung innerhalb der Berufsstruktur völlig normal war, was die Nazis bestritten. So benutzten diese das Bild des jüdischen Händlers, um diesen zu diffamieren, indem sie sagten, daß jeder Jude ein Halsabschneider und Betrüger sei, was daran festzumachen ist, daß so viele Juden im Handelsgewerbe tätig sind, was durch den oben genannten traditionellen Ansatz natürlich nicht haltbar ist.
Die nun folgende Tabelle macht die unterschiedlichen Arbeitsplätze von Juden und Nichtjuden noch einmal besonders deutlich, da in ihr direkt verglichen wird.
Vergleich der Wirtschaftsstruktur der Glaubensjuden und der Gesamtbevölkerung Mitte 1933:
(aus: Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik 1936:15)
Dieses Schaubild stellt noch einmal deutlich die bereits oben beschriebenen Verhaltensweisen jüdischer Arbeitnehmer im Vergleich zu ihren nicht jüdischen Volksgenossen dar. Da bereits oben alles erklärt wurde, dient es nur noch einmal dazu, die Richtigkeit der oben beschriebenen Fakten zu belegen.
Reaktionen der Juden auf die Maßnahmen Hitlers - Flucht oder nicht?
Angesichts der, im Vergleich zur Gesamtbevölkerung, verschwindend kleinen Anzahl von Juden in Deutschland, ist es kaum nachzuvollziehen, daß ein Großteil der nationalsozialistischen Politik auf diese kleine Minderheit, die nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung ausmachte, ausgerichtet war.
Ahnlich dachten wohl auch die meisten der ortsansässigen Juden, die den Terror zu Beginn des Naziregimes zwar ernst nahmen, sich jedoch in der eigentlichen Harmlosigkeit der Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte bestätigt sahen, da diese Phase bereits nach kurzer Zeit wieder aufhörte.
Phasen zur Kategorisierung der Maßnahmen des Regimes gegen jüdische Mitbürger gab es nach heutigen Erkenntnissen sechs, die nun im folgenden beschrieben werden:
Die oben erwähnte erste Phase dauerte vom 30.Januar bis zum Sommer 1933 und war durch lauten Terror gekennzeichnet. Diese Phase wurde von einer schleichenden Verfolgung abgelöst, die bis zum Frühjahr 1935 andauerte und der Grund dafür war, daß die meisten Juden dachten, wenn sie die erste Terrorphase überstanden hätten, könnten sie in Deutschland bleiben, da sie in der Zeit der zweiten Phase keine gewaltsame Ablehnung erfuhren.
Doch diese scheinbare Ruhe kehrte sich in kürzester Zeit in das Gegenteil um, als die antijüdische Politik der Nazis erneut zum Instrument des Terrors zurückkehrte. Diese Periode dauerte von Frühjahr bis September 1935 und war dadurch gekennzeichnet, daß an deren Ende der Erlaß der "Nürnberger Gesetze" stand, die neue Maßnahmen gegen die Juden ermöglichten, da nun nicht mehr einzelne Gruppen der NSDAP Randale zu machen brauchten, sondern in großem Stile, unter Berufung auf Gesetze, der Terror gerechtfertigt werden konnte.
Spätestens nach dieser zweiten Phase des Terrors mußte jedem in Deutschland lebenden Juden klar geworden sein, daß die Politik der Nazis allmählich von der zuerst betriebenen Ausweisungspolitik, die eher höher gestellte Regimegegner traf, und die mit den vielen unbekannteren jüdischen Normalbürger nicht durchzuführen war, zu einer den Leib und das Leben bedrohenden Politik umschwenkte, die von den pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen der Nürnberger Rassengesetze gerechtfertigt werden sollte.
Das Problem der meisten Juden in Deutschland war jedoch, daß sie sich weder entschließen konnten, aus ihrer Heimat zu emigrieren, in der die meisten Familien schon seit Jahrhunderten lebten, noch wußten, wohin sie gehen sollten, wenn sie Deutschland verließen.
Diese geringe Entschlußkraft der meisten Juden (natürlich gab es auch etliche, die Deutschland verließen, weil sie sahen, was geschehen würde) wurde noch durch die Politik der Nazis genährt, da diese, nach einem halben Jahr des Terrors mit der am Ende dieser Periode verabschiedeten "Nürnberger Gesetze", nun wieder zu einer ähnlichen Politik, wie die in der zweiten Phase praktizierten, zurückkehrten.
Diese relative Ruhe, die bis Herbst 1937 dauerte, war schließlich auch der Grund dafür, warum diejenigen unter den Juden, die vielleicht an eine Flucht aus Deutschland gedacht hatten, wieder in die Lethargie des Abwartens verfielen, die ab dem Herbst 1937 jäh vorbei war, als im Zuge der Kriegsvorbereitungen die fünfte Phase eingeleitet wurde, die in der Reichskristallnacht vom 9. Auf den 10.November 1938 gipfelte und den Beginn der letzten Phase bildete, die bis zum Emigrationsverbot von 1941 durch die nun völlige Entrechtung der in Deutschland verbliebenen Juden gekennzeichnet war.
3. Die Flucht der Juden aus Deutschland
Obwohl es, aufgrund des gerade beschriebenen Verhaltens der Juden in Deutschland, den Anschein haben könnte, daß es beinahe niemanden gab, der aus Deutschland geflohen ist, so entspricht dies nicht der Wahrheit, da es, obwohl der Großteil der Juden tatsächlich in Deutschland blieb, natürlich auch genügend jüdische Menschen gab, die geflohen sind.
3.1. Auswanderung deutscher Juden von 1933 bis zur Reichskristallnacht
Den jüdischen Menschen, die sich dazu entschlossen hatten, vor dem nationalsozialistischen Terror zu kapitulieren und Deutschland zu verlassen, standen ab 1935 drei verschiedene Organisationen zu Verfügung, die sich mit ihren Problemen befaßten.
So gab es zum einen das sogenannte "Palästina-Amt", welches sich ausschließlich mit den Problemen der Juden befaßte, die nach Palästina emigrieren wollten und bei der Durchführung half. Die zweite Organisation war der "Hilfsverein der Juden in Deutschland", der bei der Organisation von Fluchten nach Übersee (außer Palästina) oder innerhalb Europas half. Darüber hinaus existierte noch die "Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge", die mit der Aufgabe betraut wurde, ausländische Juden, die in Deutschland lebten, bei ihrer Rückkehr in die ursprüngliche Heimat zu unterstützen. Dies waren allesamt jüdische Organisationen, die nicht von den Nazis kontrolliert wurden.
Allein diese drei Organisationen waren in der Zeit von 1933 bis November 1938 mit der Abwicklung der Angelegenheiten von 75551 jüdischen Flüchtlingen betraut, was einen Prozentsatz von rund 45% an den 169.000 aus Deutschland emigrierten Juden zu dieser Zeit ausmacht. An diesen Zahlen wird die Wichtigkeit dieser Organisationen deutlich, ohne die, für die meisten zur Ausreise entschlossenen Juden, eine Emigration gar nicht möglich gewesen wäre.
Die oben bereits angesprochene Überalterung der in Deutschland lebenden Juden, bekam in den fünf Jahren von 1933 bis 1938 einen zusätzlichen Schub, da die meisten der Emigranten jung waren. Dies belegt eine 1936 veröffentlichte Studie über das Alter der Deutschland verlassenden Emigranten von Michael Traub von 1936, die besagt, daß aufgrund der größeren Bereitschaft junger Leute zur Emigration, die Prozentzahl der unter 20-jährigen im Vergleich zur Volkszählung von 1933 weiter fällt.
So macht diese Bevölkerungsgruppe nicht mehr, wie noch 1933 21% der jüdischen Bevölkerung in Deutschland aus, sondern nur noch16%. Die Altersgruppe der 20 bis unter 45-jährigen stellt im Vergleich zu noch 39% in 1933 inzwischen nur noch 33%. Die Altersgruppe der über 45-jährigen jedoch macht 1936 bereits 51% der Juden in Deutschland aus, gegenüber nur 40% in 1933.
Um diese Tendenz zu bestätigen, braucht man sich nur die Altersverteilung der jüdischen Emigranten, die aus Deutschland kamen, anzusehen. Dort nämlich zeigt sich logischerweise das umgekehrte Bild. So waren von 100 Emigranten aus Deutschland 25 unter 20, 60 zwischen 20 und 45 und nur 15 über 45 Jahre alt, was sicherlich mit der bei weitem höheren Mobilität jüngerer Menschen zu erklären ist, die noch nicht ihr gesamtes Leben in einer bestimmten Stadt verbracht haben, welche ihnen über die Jahre zur Heimat geworden ist und die sie im Alter nicht mehr verlassen wollen.
Die bevorzugten Länder der deutschjüdischen Flüchtlinge waren Palästina, die U.S.A. und die Länder, die direkt an Deutschland grenzten, weil die meisten Flüchtlinge glaubten, nach kurzer Zeit wieder in ihr eigentliches Heimatland zurückkehren zu können, was sich aber im Laufe der Zeit als nicht richtig herausstellte.
Wurde bisher immer nur die Regel beschrieben bzw. wie die meisten Juden flohen, so gab es aber natürlich auch hier Ausnahmen, die nicht die Hilfe einer Flüchtlingsorganisation in Anspruch nahmen und auch in keines der favorisierten Länder emigrierten, sondern nach England
3.2. Auswanderung deutscher Juden nach Großbritannien
Die nun folgende Text soll zeigen, inwieweit jüdische Wissenschaftler, Mediziner, Künstler, Rechtsanwälte und Geschäftsleute Vorteile gegenüber ihren nicht gelehrten Glaubensgenossen bei der Flucht aus Deutschland hatten. Mußten sich die sogenannten einfachen Menschen an Flüchtlingsorganisationen wenden, mit denen sie in fremde Länder ohne eine berufliche Perspektive kamen, so nutzten bekanntere Persönlichkeiten ihre Verbindungen zu Persönlichkeiten aus anderen Ländern, was im folgenden am Beispiel Englands beschrieben wird. Anhand dieser Beschreibung wird auch das Verhalten Englands gegenüber den deutschen Emigranten beleuchtet.
Allgemein kann man sagen, daß diejenigen Persönlichkeiten, die als erste in England eintrafen in einer sehr glücklichen Position waren, da sie, im Gegensatz zu den späteren Emigranten noch Geld und persönlichen Besitz mit sich führen durften, was ihnen den Start in einem fremden Land wie England sehr erleichterte. Diese Gruppe der zuerst eintreffenden deutschen Juden, bestand größtenteils aus bekannten Wissenschaftlern, Geschäftsleuten mit guten Verbindungen und bekannten Künstlern.
Den Wissenschaftlern wurde in England von Organisationen wie dem Academic Assistance Council (AAC), das später in Society for the Protection of Science and Learning (SPSL) umbenannt wurde und sich schließlich mit der "Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland" verbündete, geholfen, erneut Arbeit zu finden, die sie bereits in Deutschland ausübten.
Ein gutes Beispiel für diese länderübergreifende Hilfe der Akademiker untereinander ist die Geschichte des Biochemikers Professor C. aus Berlin, der sich durch Studienaufenthalte in London vor 1933 bereits gute Kontakte aufgebaut hatte, die ihm bei seiner späteren Flucht aus Deutschland zugute kamen, da sich seine englischen Kollegen an ihn erinnerten und ihm einen Job verschafften.
Aber obwohl es hier so scheint, als ob England ein Land war, das jüdischen Emigranten aus Deutschland wohl gesonnen war, es war nicht der Fall. England interessierte sich bei der Aufnahme der Emigranten eigentlich nur für seine eigenen Vorteile, so daß jeweils nur die Besten ihrer Gebiete mit offenen Armen empfangen wurden, der Rest jedoch mit Argwohn und sogar Antisemitismus von Seiten der englischen Kollegen zu kämpfen hatte.
"This is not to say, however, that the refugee scholars were always received with open arms by their British colleagues. One of the main principles of the highly selective admissions policy of the SPSL had been to avoid friction with the latter. But even after having overcome this barrier, the foreign scholar was often faced with xenophobia or antisemitism."(Bergham 1984:80)
Im folgenden soll nun belegt werden, daß nicht alle gelehrten Juden aus Deutschland die großen Vorteile hatten wie Professor C., auch wenn die meisten immer noch bessere Chancen als die jüdische Normalbevölkerung Deutschlands hatten.
Die Zahl der Arzte, die nach England kommen durften, um dort zu praktizieren, wurde durch den Einspruch der British Medical Association (BMA) von ursprünglich 500 auf 50 reduziert, so daß die meisten in England ohne Job blieben, zumal ihre in Deutschland erworbene Ausbildung nicht anerkannt wurde. Die Folge hieraus war, daß hunderte deutscher Arzte ihre Ausbildung in England noch einmal wiederholten. Viele dieser Juden brachen jedoch die Ausbildung ab, da sie das Geld dafür nicht aufbringen konnten und außerdem noch ihre Familie ernähren mußten. Diese Einschränkungen, welche die aus Deutschland emigrierten jüdischen Arzte zu ertragen hatten, verschärften sich nach 1938 noch, und es dauerte bis nach 1945, bis sie in England eine Gleichbehandlung erfuhren.
Noch schlimmer ging es den jüdischen Personen mit einer juristischen Ausbildung, die nach England kamen, da ihnen das in Deutschland erworbene Wissen über das deutsche Rechtssystem so gut wie gar nichts nutzte, denn das britische Rechtssystem unterscheidet sich grundsätzlich vom deutschen. Die einzigen, die es nicht ganz so schwer hatten, waren diejenigen, deren Spezialgebiete sich über das deutsche Recht hinaus erstreckten und internationales oder englisches Recht umfaßten.
Die Folgen für die Juristen, die auf das deutsche Recht fixiert waren, bestanden darin, daß sie entweder erneut anfangen mußten, englisches Recht zu studieren, oder sich Arbeit in anderen Bereichen der Gesellschaft zu suchen. Dort gab es relativ viele Möglichkeiten, wie zum Beispiel die Arbeit als Bankangestellter, als Journalist oder als Schriftsteller, von denen aus einige nach dem Krieg wieder in ihre eigentlich erlernte Arbeit als Jurist wechselten.
Die nächste hier zu beobachtende Gruppe bestand aus Künstlern und Autoren, mit denen ähnlich verfahren wurde, wie mit den oben zuerst angesprochenen Wissenschaftlern. Die berühmten und in England bekannten hatten es relativ leicht, in England ein gutes Leben zu führen, wohingegen die unbekannteren oft hart kämpfen mußten.
"Again the famous ones among the artists were warmly received in Britain. Those less-well known abroad had a much harder time."(Bergham 1984:92)
Wie zur damaligen Zeit in England selektiert wurde, zeigt das Beispiel zweier Künstler aus Berlin. Herr und Frau O. waren beide Bildhauer, als sie mit Hilfe eines Cousins 1937 nach London kamen, um diesen zu besuchen und vielleicht in England bleiben zu können. Die Erlaubnis für diesen Besuch, der später in eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung umgewandelt wurde, bekamen sie aber nur, weil Herr O. ein Holzschnitzer war. Diese Technik war unter britischen Bildhauern praktisch unbekannt, so daß er keinem englischen Künstler Konkurrenz bedeutete, was jedoch zur Folge hatte, daß sie aufgrund von Sprachproblemen so gut wie keinen Kontakt zu einheimischen Künstlern pflegen und aufgrund der Seltenheit der Ausübung der Holzschnitzerei sich in der englischen Kunstszene nur schwer etablieren konnten.
Ein weiteres Problem war die, im Vergleich zu deutschen Künstlern, völlig andere Mentalität, mit der das Bildhauerehepaar in England zurechtkommen mußte:
"In Berlin we had a beautiful studio where we lived. Visitors and friends came at all times, also late at night. But not so in London. People always go to bed early here. What is more, most artists here live in the country."(Bergham 1984:92)
Doch trotz dieser Probleme hatten beide zahlreiche Ausstellungen in England und konnten sogar ein paar ihrer Skulpturen verkaufen, von deren Erlös sie jedoch nicht leben konnten, so daß sie über ihre normale Arbeit hinaus noch Töpfern an einem Londoner College unterrichteten.
Ein weiteres Problem, das jedoch alle Künstler betraf, waren die unterschiedlichen Auffassungen von Kunst in England und Deutschland. Die Bilder deutscher Maler waren sehr viel emotionaler und direkter als die ihrer englischen Kollegen, deren Bilder eher den Charakter des Herunterspielens von Gefühlen hatten, so daß die englischen Kunden, die nur die englische Variante der Kunst gewohnt waren, die Bilder deutscher Maler nicht mochten, was sich darin ausdrückte, daß deren Bilder nach dem Krieg in Deutschland weit besser verkauft wurden als es in England je der Fall war.
Wenn man sich diese Differenzen zwischen England und Deutschland in der Kunst ansieht, so wird klar, mit welchen Problemen deutsche Autoren in England zu kämpfen hatten, die ihre Ideen nicht auf der Leinwand, sondern in Buchstaben in einer Sprache auszudrücken hatten, die sie nicht beherrschten. Denn aufgrund des Verbotes ihrer Bücher in Deutschland, war es sinnlos weiter in der deutschen Sprache zu schreiben, da ihre Leserschaft größtenteils noch immer in Deutschland beheimatet war, wo ihre Bücher nicht veröffentlicht werden durften.
Die Möglichkeit der Übersetzung ihrer Bücher aus dem Deutschen in die englische Sprache war auch keine adäquate Lösung, da die sprachlichen Feinheiten nicht in jeder Sprache gleich wiedergegeben werden können, was zur Folge hatte, daß die meisten von Deutschland nach England emigrierten Schriftsteller quasi arbeitslos waren, da sie sich einer potentiellen Leserschaft gegenüber sahen, die sie nicht verstand.
Auch waren die Themen ihrer Bücher teilweise nur Deutschen zugänglich, was ein weiteres Problem darstellte. Ein jüdischer Flüchtling beschrieb 1946 das Dilemma sehr treffend:
"To be a writer is not easy; to be a jew is very difficult; to be a Jewish writer almost amounts to a minor tragedy. But about the Jewish writer who, on top of that, comes from Germany?'(Bergham 1984:96)
Die letzte Gruppe jüdischer Emigranten aus Deutschland, auf die hier näher eingegangen wird, ist die Gruppe der Geschäftsleute. In ihrem Fall war die Situation in England eine andere, obwohl auch ihnen zunächst Ablehnung von Seiten der englischen Bevölkerung zuteil wurde, als diese merkten, daß die meisten wohl in England bleiben wollten.
Hier an der Gruppe der Geschäftsleute läßt sich wiederum die Einwanderungspolitik der britischen Regierung deutlich aufzeigen, die nur von der Suche nach dem eigenen Vorteil bestimmt war. Nach kurzer Zeit erkannte die Regierung nämlich bereits, daß unter den aus Deutschland emigrierten jüdischen Geschäftsleuten eine große Menge von fähigen Managern war, deren Fähigkeiten sie sich zunutze machen konnten.
Die englische Wirtschaft befand sich in einer Rezession, die besonders deutlich in den sogenannten Depressed Areas zum Vorschein kam. Diese waren die Gebiete im Nordosten Englands, in Wales und in Schottland. Wenn nun ein jüdischer Flüchtling aus Deutschland kam, so mußte er sich bereit erklären, in eines dieser Gebiete zu gehen, um dort zu helfen, es wirtschaftlich wieder anzukurbeln. War er mit dieser Bedingung einverstanden, so konnte er in England bleiben.
Im Zuge dieser Ansiedlung deutscher Flüchtlinge in den wirtschaftsschwachen Gebieten, entstanden dort in den dreißiger Jahren 163 Fabriken, die sich hauptsächlich mit der Produktion von Konsumgütern beschäftigten. Diese Ansiedlung war einer der Hauptgründe, warum die Arbeitslosigkeit in diesen Gebieten innerhalb kürzester Zeit zurückgingen.
Die Einwanderungspolitik Großbritanniens in den dreißiger Jahren wird an diesen Beispielen deutlich. Trotzdem wird später noch einmal näher darauf eingegangen.
4. Die Britische Flüchtlingspolitik
Die nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar eingeleiteten Schritte veranlaßten bereits zu diesem frühen Zeitpunkt der Repressionen gegen Andersdenkende und verschiedene Minderheiten etliche Juden dazu, Deutschland zu verlassen. Der überwiegende Teil floh in die Nachbarländer ihrer Heimat, nach Polen, Frankreich oder in die Niederlande. Dieser Umstand ist sicherlich damit zu erklären, daß sie auf ein baldiges Ende des Naziregimes und eine somit mögliche Rückkehr hofften.
Eine Flucht über den Armelkanal nach Großbritannien war eher die Ausnahme, bis April 1934 kamen lediglich zwischen 2000 und 3000 Flüchtlinge ins Land (Bergham, 1984: 75). Und auch danach blieben die Emigrantenzahlen auf einem relativ niedrigen Niveau.
Viele Juden zögerten einfach nur, ihre Heimat zu verlassen. Zwar wurden seit dem 1. Mai 1938 79271 Visa für Großbritannien an deutsche Juden vergeben, jedoch wurden von diesen um 50000 nicht genutzt. Nach den Pogromen im November Stieg die Zahl der nach Großbritannien eingereisten Juden auf circa 40000, von denen wiederum jedoch der weitaus größte Teil Transmigranten, also nur Durchreisende, vor allem in Richtung Vereinigte Staaten, waren (alle Zahlen nach Bergham, 1984). Als Reaktion auf diese Stark ansteigenden Flüchtlingszahlen verschärfte Großbritannien, ebenso wie alle anderen europäischen Länder, seine Einwanderungsbestimmungen, insbesondere für deutsche und österreichische Juden. Im Gegensatz zu anderen Staaten in Europa, war dieser Umstand jedoch kein wirkliches Novum, denn bereits 1933 hatte ein Treffen des Kabinetts eine Resolution verabschiedet, die als die Ziele der britischen Einwanderungspolitik im Hinblick auf jüdische Einwanderer nannte:
" [] Try and secure for this country prominent Jews who were being expelled from Germany and who had achieved distinction whether in pure science, applied science, such as medicine, or technical industry, music or art. This would not only obtain for this country the advantage of their knowledge and experience, but would also create a very favourable impression in the world, particularly if our hospitality were offered with some warmth."
Großbritannien sah sich selbst lediglich als ein Übergangsland für Flüchtlinge, die in andere Teile der Welt weiterreisen wollten, lediglich Juden, die für Großbritannien einen Profit darstellten, waren wirklich gerne gesehen, . Nach Kriegsausbruch schließlich verschärfte sich die Flüchtlingssituation drastisch, die deutsche Führung war zu diesem Zeitpunkt durchaus gewillt, Juden auswandern zu lassen: "Between 1939 and mid-1941 expulsion, in addition to expropriation, persecution, and sporadic murder, was one of the central goals of Germany's Jewish policy" (Hilberg 1961: 3). Eine Auswanderung in andere europäische Länder, sofern diese nicht besetzt waren, war den Ausreisewilligen jedoch kaum möglich, der Flüchtlingsstrom nach Großbritannien brach fast vollkommen ab, nicht jedoch in andere Regionen des britischen Einflußbereiches. Am Ende des ersten Kriegsjahres 1939 sandte das deutsche Wirtschaftsministerium unter Goering über den Umweg über die Amerikanische Botschaft eine Stellungnahme an die britische Regierung, die die deutsche Politik der jüdischen Auswanderung bekräftigte (Memorandum an das British Foreign Office, London, 3. Oktober 1939). Adolf Eichmann, Kopf des Zentralen Reichsbüros für die Jüdische Emigration, witterte eine große Chance, Juden in großen Zahlen aus Europa zu vertreiben, in der Zionistischen Bewegung, deren Vertreter, der Jewish Agency, ohne Probleme Ausreisevisa in neutrale Staaten in Richtung Palästina ausgestellt wurden, wie L. Herrmann, Vertreter der Jewish Agency, Sir Henry Bunburry vom Tschechischen Flüchtlingsverband in einem Brief vom 12. September 1939 mitteilte.
Der sich nun immens verstärkende Flüchtlingsstrom nach Palästina war dort gar nicht gerne gesehen, bereits zu Beginn des Jahres 1940 beschwerte sich der britische Hochkommissar für Palästina beim Colonial Office darüber, daß deutsche Schiffahrtslinien sowie das Immigration Department der Jewish Agency, die ebenfalls, in Zusammenarbeit mit der Regierung Palästinas, für die legale Auswanderung zuständig war, Reisen für illegale jüdische Emigranten eben dorthin organisieren. Aber auch von Häfen des Schwarzen Meeres und der Agäis aus starteten mit Flüchtlingen völlig überladene Schiffe in Richtung Palästina, nachdem in der Zwischenzeit fast alle anderen Fluchtrouten, wie zum Beispiel die vorher sehr häufig gewählte über Schanghai, verschlossen waren in das Land, das neben den Vereinigten Staaten, die nach wie vor Flüchtlinge, wenn auch in stark eingeschränktem Umfang, aufnahm, die einzige Alternative zu sein schien. Britische Versuche, die Flüchtlinge auf andere Kolonien oder Dominions umzuleiten, verliefen weitestgehend im Sande, zum einen, weil die Jewish Agency für Palästina als angestammte Heimat der Juden warb, zum anderen aufgrund der Weigerung der eigenen Verwaltungen in den alternativen Siedlungsgebieten, Flüchtlinge aufzunehmen:
"Apart from the obvious difficulties in the way of getting to any Colony, the hard fact remains that they are not wanted by any Colonial Government for a number of very good reasons, the most important of which perhaps are that they are certain sooner or later to become a charge on public funds. [] The introduction of a body of people, however small, which is entirely alien in every sense of the word, would be greatly resented by the working classes in the Colony and might well lead to serious trouble."
(K. E. Robinson an P. J. Dixon vom Foreign Office, 13. Januar 1941)
Dennoch suchten die britische sowie die US-amerikanische Regierung den ganzen Krieg über nach einem Land zur Ansiedlung der jüdischen Flüchtlinge, 1940 war zum Beispiel in einem internen Papier des Foreign Office von Britisch-Guiana als "Second Jewish National Home" die Rede, der Plan wurde, ebenso wie ähnliche Entwürfe für Athiopien, Eritrea, Mindanao oder aber Nord-West-Australien, wieder fallengelassen, da man eine starke Opposition erwartete, und ähnliche Erfahrungen wie in Palästina vermeiden wollte. Großbritannien stellte von vornherein klar, das es in keiner Weise verpflichtet sei, jüdische Siedlungen innerhalb Großbritanniens oder seiner Kolonien errichten zu helfen.
Die britische Verwaltung, besonders das Colonial Office, entwickelte indes eine immer stärkere Ablehnung gegen die ins Land strömenden Juden, von denen ein Großteil aus dem Feindesland stammte, was wiederum zu der Behauptung führte, es bestünde "the possibility of there being agents of the German government amongst them and [] consequent danger to the internal security of Palestine" (Memorandum von J. E. M. Carvell, 5. Februar 1940). Tatsächlich wurde nie ein solcher angeblicher Agent unter den Flüchtlingen entdeckt.
Die Motive der Flüchtlinge wurden von britischer Seite ohnehin in Frage gestellt, in völliger Verkennung der Not und des Elends der Vertriebenen wurde den Juden eine "organised invasion of Palestine for political motives, which exploits the facts of the refugee problem and unscrupulously uses the humanitarian appeal of the latter to justify itself", zwar seien einige wenige wahre Flüchtlinge unter den Einreisenden, aber die Tatsache, das die deutsche Regierung teilweise bei dieser Flucht behilflich war, wurde so erklärt, daß es das ihr Interesse sei, die Juden loszuwerden - was sicherlich zutreffend ist, jedoch Hauptgrund sei "causing embarrassment to His Majesty's Government" (gemeinsames Memorandum von Colonial- und Foreign Office, datiert auf den 17 Januar 1940).
Die Gangart den illegalen jüdischen Einwanderern gegenüber wurde weiter verschärft, zahlreiche englische Politiker und Beamte sahen sie nur noch als eine Plage und Last an, ein ganzes Volk, das sich auf eine Reise begibt, und das nur, um England Probleme zu machen. Diese Auffassung schlug sich vor allem massiv in den Außerungen der Angestellten des Colonial Office nieder und schließlich resultierte hieraus auch härteste Maßnahmen zum kompletten Stop der Flüchtlingsströme. So schrieb 1940 der stellvertretende Untersekretär eben dieser Behörde über die Juden und ihre Flucht vor dem Naziterror:
"I am convinced that in their hearts they hate us and have always hated us; they hate all Gentiles. [] So little do they care for Great Britain as compared with Zionism that they cannot even keep their hands off illegal immigration, which they must realise is a very serious embarrassment to us at a time when we are fighting for our very existence."
Der innerhalb des Colonial Office vorrangig für Palästina zuständige Sekretär, H. F. Downie, ging im März 1941 mit seiner Meinung, ebenfalls auf das Problem der illegalen Einwanderung angesprochen, noch um einiges weiter:
"This sort of thing makes one regret that the Jews are not on the other side in this war." (Protokoll des Colonial Office, !5. März 1941)
Zwar waren so radikale Ansichten nicht die Regel, sie machen jedoch deutlich, wie die Einstellung der Briten zur Frage der jüdischen Siedlungswünsche und zur jüdische Situation im allgemeinen war.
Konkrete Maßnahmen wurden ergriffen, um diese ,Invasion' aufzuhalten, nachdem mehr als deutlich geworden war, daß die für Palästina aufgestellten Einwanderungsbestimmungen und -zahlen das Papier nicht mehr wert waren, auf dem sie gedruckt waren. Zum blockieren der Fluchtrouten wurden nun sämtliche diplomatischen und militärischen Mittel ausgeschöpft, die Regierungen der südosteuropäischen Staaten durch das Foreign Office zur Kooperation aufgefordert:
"The Foreign Office has asked countries of transit to refuse transit visas; [] it has asked the nations where the owners of such [illegal immigrant] ships reside to take action against them; it has asked the nations whose Ports are used by such ships to put administrative difficulties in the way of their sailing; and it has explored the possibilities of evading the legal provisions concerning freedom of transit on the Danube and through the Straits in order to enable the riparian governments at our request to hinder the traffic. Representations have been made to twelve European and Mediterranean governments. In Roumania, Turkey, Greece, Bulgaria and Yugoslavia these representations have been carried to a point which has made the question of illegal immigration a factor constantly present in our relations with those countries." (Memorandum von J. E. M. Carvell vom 5. Februar 1940)
Die Einflußnahme Großbritanniens auf die Politik dieser Länder hatte in der Realität jedoch nur wenig Erfolg, die Zahl der Flüchtlinge ging keineswegs zurück, lediglich die Ticketpreise und Bestechungsgelder an Beamte der Transitländer schnellten in die Höhe. Als man in London und Jerusalem die Wirkungslosigkeit der Maßnahmen erkannte, war das Colonial Office bereit, noch weiter zu gehen und dabei sogar internationales Seerecht zu brechen: Schiffe der britischen Marine wurden vor die Küste Palästinas abgestellt, um dort Schiffe mit illegalen Einwanderern aufzubringen, ein Vorgehen, das in keiner Weise rechtlich gedeckt war und zunächst ohne Wissen der Regierung praktiziert wurde (Wasserstein,1979: 54f).
Die auf den Schiffen vorgefundenen Emigranten wurden in Lagern in Palästina interniert, und zwar so lange, bis das Lager zu voll wurde. Die ursprünglich geplante Abschiebepraxis kam jedoch aus verschiedenen Gründen nicht zustande, zum Teil wegen großer Proteste von englischen Wohltätigkeits- und Flüchtlingsverbänden, zu Teil wegen entschiedener Proteste der in bereits in Palästina lebenden Juden, häufig jedoch auch, weil sich die Länder, aus denen die Schiffe gestartet waren weigerten, die Flüchtlinge wieder aufzunehmen.
Daß der Flüchtlingsstrom dann im Laufe der Jahre 1942/43 langsam erstarb, hat aber andere Gründe als die restriktive britische Politik den vor ihrer Ermordung fliehenden Juden gegenüber: Die deutsche Wehrmacht hatte ganz einfach inzwischen fast ganz Europa überrannt, die Nationalsozialisten waren nicht mehr an der Ausreise der Juden interessiert und das europäische Festland war eine Falle geworden, aus der zu entkommen fast unmöglich war.
5. Einzelschicksale
An den Einzelschicksalen von Menschen, ihren konkreten Erzählungen und Erfahrungen, läßt sich wohl am eindrucksvollsten und treffendsten Schildern, wie die Demütigungen und Angste in Deutschland auf die Betroffenen gewirkt hat, wie sie ihre Flucht wahrgenommen haben, das fremde Land in dem sie sich plötzlich wiederfanden, faktisch ohne Chance auf eine Heimkehr.
Wie haben sich diese Menschen eingelebt, die so aus ihren Wurzeln gerissen wurden, plötzlich ohne Heimat und in einem Land waren, das sie eigentlich gar nicht haben wollte ?
Drei Beispiele sollen dies verdeutlichen, zwei Frauen, die bereits in jungen Jahren nach Großbritannien kamen, jedoch eines ohne seine Eltern und ohne jede Verwandtschaft, die sie nie wiedersah. Und schließlich das Beispiel eines jüdischen Widerstandskämpfers, der über Umwege nach London kam, jedoch als einziger der drei nach Kriegsende wieder nach Deutschland zurückkehrte, um dort zu leben.
"Nur jetzt nach all den Jahren denke ich daran" - Claire Allen
(geb. Miriam Claire Plaut)
Miriam Claire Plaut wird 1923 in Berlin als Tochter von Paul und Thekla Plaut geboren. Ihr Vater ist Psychologe, Arzt und Gerichtsgutachter in Jugendstrafprozessen, in psychologischen Kreisen verhältnismäßig angesehen durch sein 1929 erschienenes Buch ,Die Psychologie der produktiven Persönlichkeit', für das er so angesehene, im Dritten Reich dann jedoch ebenfalls verfemte Personen wie Heinrich und Thomas Mann oder Max Pechstein befragt.
Als im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse hoch dekoriertem Frontkämpfer kann er sich nicht vorstellen, im mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten neu entstandenen ,Soldatenstaat' verfolgt zu werden. Er verleugnet, im Gegensatz zu seiner Frau Thekla, bis 1938 die, durch die immer drastischere Formen annehmende Judenhetze, wachsende Gefahr für sich und seine Familie.
Thekla engagiert sich schon seit einigen Jahren für den ,Kindertransport', eine Initiative, die jüdischen Kindern zur Ausreise aus Deutschland verhilft und sich um ihre Unterbringung in Familien kümmert. Bei ihren Sammlungen lernt sie einen wohlhabenden Juden kennen, der sie davon überzeugt, nach England auszuwandern. Sie gibt ein bereits erhaltenes Visum für die USA an ihren Bruder ab und bemüht sich fortan, zügig Englisch zu lernen.
Zwar sträubt sich Paul Plaut noch immer gegen eine Emigration, doch ist im Juni 1938 die Lage der Juden inzwischen fatal, die ,Reichskristallnacht' kündigt sich bereits an. Miriam mußte zu Jahresbeginn ihre Schule verlassen, die Drangsalierungen im Alltag sind kaum noch zu ertragen.
Thekla Plaut erkennt die lebensbedrohliche Situation sehr klar, und hat in der Zwischenzeit während einer Englandreise für ihren Mann durch beständiges Vorzeigen der Bücher und Arbeiten ihres Mannes für diesen eine neue Anstellung gefunden: er wird in London als Gerichtsgutachter die Aussagen jugendlicher Straftäter beurteilen. Nun endlich ist Paul Plaut bereit, Deutschland zu verlassen.
Die Flucht führt zunächst nach Amsterdam, wo die Plauts noch einige Wertsachen deponiert haben, die sie in hohlen Regalbrettern nach England schmuggeln. Miriam nimmt die Reise kaum als Flucht wahr, sie hat vielmehr das Gefühl eines normalen Umzuges, da die Eltern durch eine besonnene Planung und lange Vorbereitungen einen Großteil des Privatbesitzes mitnehmen können.
Sicher in England angekommen, bleibt der Familie kaum Zeit, sich gemeinsam einzugewöhnen. Miriam wird noch 1938 für vier Jahre von den Behörden in eine von Quäkern geführte Boarding-School, ein Internat also, geschickt, die außerhalb Londons liegt, so daß sie nur am Wochenende und in den Ferien ihre Eltern sieht. In der neuen Umgebung jedoch gibt es keine Möglichkeit, der neuen Sprache auszuweichen, Unterhaltungen auf Deutsch sind den Emigrantenkindern streng untersagt und Miriam hat ausschließlich englische Freunde gefunden.
Um an Deutschland zu denken, bleibt ihr kaum die Zeit: "Da war so viel zu lernen in den vier Jahren, wahrscheinlich muß man da viel arbeiten. Ich denke, ich habe nicht viel dran gedacht." Die Lebenszeichen von Freunden und Verwandten, welche die Flucht aus Deutschland nicht geschafft haben, werden auch immer seltener, bis sie nach und nach alle enden. "Als die Briefe dann plötzlich aufhörten, habe ich, glaube ich, gewußt, warum." Miriam vermutet, das sie jedoch zu dem Zeitpunkt der Schulalltag wesentlich mehr beschäftigt hat, als das ferne Deutschland.
Als sie 1942 ihren Schulabschluß erlangt hat, beginnt sie bis einen Diplomkurs an der kriegsbedingt von London nach Oxford ausgelagerten Kunstschule. Während dieser Zeit, und auch während der folgenden einjährigen Lehrerausbildung, die 1947 in eine berufliche Anstellung mündete, vermied sie es, ein Namensschild vor sich aufzustellen, da sie sich für ihren deutschen Namen schämte. Jedoch all ihren Bemühungen zum Trotz, nicht als Ausländerin erkannt zu werden, für die englischen Behörden bleibt sie es: während des gesamten Krieges unterliegt sie als sogenannter "enemy alien" starken Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit. So darf sie im Winter nur bis 21.30 Uhr im Freien aufhalten, im Sommer bis 22.30 Uhr, darf nicht einmal ein Fahrrad besitzen. Diese Ausgangs- und Bewegungsfreiheitseinschränkungen treffen Miriam besonders schwer.
Als sie Mitte zwanzig ist, trennt sie sich von ihrem langjährigen Freund, ebenfalls ein Jude, und geht völlig überhastet eine Ehe mit dessen englischem Freund ein, die jedoch nur 18 Monate hält. Im nachhinein glaubt Miriam, sie habe nur von zu Hause weggewollt nach dem Abschluß ihrer Ausbildung. Sie lebt anschließend beinahe zehn Jahre, bis zu ihrer Scheidung von ihrem ersten Mann, allein in London, wo sie sich ein Haus gemietet hat.
Im Gegensatz zu ihren Eltern, die bis zu ihrem Tode fast ausschließlich mit anderen Emigranten verkehren, hat Miriam in ihrem privaten Umfeld vorrangig Engländer.
Mit ihrem zweiten Mann, ebenfalls ein Nichtjude, bekommt sie 1964 eine Tochter, Rebecca, die nicht religiös-jüdisch erzogen wird. Miriam, die sich jetzt selber bei ihrem zweiten Namen Claire nennt, ist selber auch nicht religiös, geht nur einmal im Jahr mit ihren Eltern am Jom Kippur in die Synagoge. Für sie selber hat als einziger jüdischer Feiertag Jom Kippur eine Bedeutung, an diesem Tag fastet sie. Wie Claire selber sagt jedoch nicht aus eben einer religiösen Motivation, sondern "[] zur Erinnerung an alles, was war". Mehr ist von ihrem Judentum einfach nicht geblieben, da, wo sie nun lebt, "gibt es so etwas nicht, und ich würde es auch nicht mehr verstehen."
Sie hat zu ihrer Vergangenheit ein, wie sie von sich sagt, recht kompliziertes Verhältnis, doch läßt sie sie nun im Alter zu, vielleicht gebe es, so räumt sie ein, im Alter dich so etwas wie die Sehnsucht nach den eigenen Wurzeln:
"Ich denke jetzt viel an die Vergangenheit, und werde versuchen, es alles für meine Tochter aufzuschreiben. [] Bis jetzt haben mir meine eigenen Leute wohl nicht so gefehlt. Man hat so sehr versucht, alles zu vergessen und im Hintergrund zu lassen. Aber das ist wohl nicht natürlich, ziemlich spät kommt die Zeit, auszukramen. Erst jetzt, nach all den Jahren denke ich daran."
Claire sagt von sich, sie sei Wurzellos, doch das sei nicht weiter schlimm. Heute würden viele Menschen sowieso keine Wurzeln mehr haben wollen. Und, auf die Frage, wann sie begonnen hat, sich in England heimisch zu fühlen, antwortet sie lachend: "Immer noch nicht!"
(Zitiert nach: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Das Exil der kleinen Leute - Alltagserfahrung deutscher Juden in der
Emigration. München, 1991: Verlag C. H. Beck: "Nach all den Jahren denke ich daran" von Bernd Ulrich und Angelika Tramitz (188ff)
5.2. "Nur ein Photo von den Eltern - Mit dem jüdischen Kindertransport nach England" - Liesl Heilbronner
Liesl Heilbronner wird 1924 in Düsseldorf geboren und verlebt, wie sie von sich selbst sagt, eine Kindheit in einem sorgenfreien und liebevollen Elternhaus, war sportlich sehr aktiv. Mit der Machtergreifung ist es jedoch schlagartig mit der glücklichen Kindheit vorbei, sie wird gezwungen, eine Kölner Mädchenschule zu besuchen, verliert ihre gesamte vertraute Umgebung, ihre Freunde. Ungläubig steht sie nach der Reichskristallnacht vor den Trümmern der Wohnung ihrer Eltern, die bis dato schon mehrmals versucht haben, Deutschland zu verlassen, jedoch keine Visa erhalten haben. Im August 1939 treffen sie eine schwere Entscheidung, die ihrer Tochter das Leben rettet, und schicken sie mit den Kindertransporten nach Großbritannien.
Liesl kommt in ein Internat bei Hastings, das sie jedoch 1940 als "enemy alien" wieder verlassen muß. Eine Londoner Handelsschule nimmt sie auf, anschließend arbeitet sie als Stenotypistin und Halbtags in einem Krankenhaus.
1948 erhält sie die britische Staatsbürgerschaft und heiratet einen nichtjüdischen Hochschullehrer, mit dem sie zwei Kinder hat. Da sie in ihrer Kindheit schon in einem liberalen Klima aufgewachsen ist, findet sie auch in England nicht zum praktizierenden Judentum, sucht auch nicht die Gesellschaft anderer, insbesondere Exiljuden: "Ich finde es befremdend, mit Juden zusammen zu sein. Ich glaube an einen Gott, aber weiter würde ich nicht gehen, obwohl ich auch nie meinen ursprünglichen Glauben ändern würde."
Nach Deutschland ist sie nach dem Krieg nur einmal zurückgekehrt, um Wiedergutmachungsansprüche geltend zu machen und auf dem Friedhof ihrer Heimatstadt für ihre 1942 in Minsk von den Deutschen hingerichteten Eltern und Verwandten einen Gedenkstein zu errichten. Liesl fühlt sich ihren Eltern "für immer zu Dank verpflichtet für ihre Selbstlosigkeit, aber dieses Kapitel meines Lebens ist völlig abgeschlossen."
(Zitiert nach: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Das Exil der kleinen Leute - Alltagserfahrung deutscher Juden in der
Emigration. München, 1991: Verlag C. H. Beck: "Nur ein Photo von den Eltern" von Jenny Kreyssig (203ff)
5.3. "Meine Heimat ist - die deutsche Arbeiterbewegung" - Richard Löwenthal
Richard Löwenthal wird am 15. April 1908 in Berlin geboren. Sein Elternhaus war ein, wie er es bezeichnet, "sehr unjüdisches jüdisches Haus". Der Vater, ein Textilvertreter, war ungläubig, die Mutter hatte eine "ganz vage Allerweltsreligion, die nichts Spezifisches an sich hatte." In diesem Umfeld aufgewachsen, wußte auch Richard wenig vom Judentum, fühlte sich auch nicht in erster Linie als solcher und hatte nicht den Eindruck, in diesem Land fremd zu sein.
Richard Löwenthal war schon als Jugendlicher politisch aktiv, las Marx und war seit 1926 Mitglied der KPD, studierte bei Max Weber und Carl Jaspers Nationalökonomie. 1933 trat er in die illegale Widerstandsbewegung "Neu Beginnen" ein, aus politischer, nicht aus religiöser Motivation, deren Leitung er bald angehörte und deshalb schon früh ins Exil nach Prag gehen mußte, 1938 dann nach Paris und kurz vor Kriegsausbruch nach London: "Das war eine der ganz wenigen Gelegenheiten in meinem Leben, bei der ich von politischer Arbeit persönlich profitiert habe."
Löwenthal hat England sehr gemocht, war beeindruckt von einem Land, das "trotz konservativer Regierung eine im Kern [] sehr gesunde Demokratie" war, und das in so widrigen Zeiten, in der man allein stand, fast ganz Europa von den Deutschen besetzt war: "[] ungeheuer eindrucksvoll! Ich habe zum ersten mal gelernt, was es heißt, in einem liberalen, demokratischen Land zu leben, in dem bestimmte Dinge selbstverständlich sind." Jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, Löwenthal hat auch die Erfahrung gemacht, wie sich England unter dem Druck verändert hat. Hatten die Briten zu Beginn des Krieges nur alle feindliche Ausländer, die bereits zuvor erwähnten "enemy aliens", registriert und in drei Klassen eingeteilt - solche, gegen die nichts vorlag, solche, gegen die etwas negatives vorlag und schließlich solche, über die etwas Positives vorlag, Löwenthal gehörte zur letzten Gruppe, so änderte sich bereits 1940 die britische Politik auf drängen der Bürokratie des Innenministeriums die Fremdenpolitik. Innenminister Herbert Morrison faßte widerstrebend den Beschluß, alle "enemy aliens" internieren zu lassen. Löwenthal hierzu: "Aber es wurde à la Anglais durchgeführt: freundlich und schlampig!"
Die bei weitem überwiegend positiven Erfahrungen in seinem Zufluchtsland, in dem er ab 1942 als Journalist arbeitete, lassen Richard Löwenthal auch heute noch eine enge Bindung an Großbritannien verspüren, er hat die britische Staatsbürgerschaft, die er während seines Aufenthaltes angenommen hatte, nie aufgegeben, obwohl er inzwischen auch wieder einen deutschen Paß besitzt. 1948 kehrt er ins besiegte Deutschland zurück, wie er sagt, "ohne psychologische Schwierigkeiten": "Das was da passiert war, war für mich nicht das Handeln ,der Deutschen', weil ich aus dieser Zeit andere Deutsche als Freunde, als Nazi-Gegner kannte. Das ist eine ganz andere Situation als die der meisten jüdischen Emigranten."
Seit 1961 ist er wieder vollständig in Deutschland zu Hause, hat eine Professur für Politische Wissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin inne und fühlt sich dort "sehr stark zu Hause. Ich bin zwar Kosmopolit, aber nicht wurzellos. Meine Heimat ist die deutsche Arbeiterbewegung."
Zitiert nach: Funke, Hajo. Die andere Erinnerung - Gespräche mit jüdischen Wissenschaftlern im Exil. Frankfurt, 1989: Fischer Taschenbuch Verlag GmbH (402ff)
6. Literaturverzeichnis:
Wasserstein, Bernhard. Britain and the Jews of Europe 1939 - 45. Oxford, London,
1979: Institute of Jewish Affairs, Clarendon Press
Hilberg, Raul. The destruction of the European Jews. Chicago, 1961
Bergham, Marion. German-Jewish refugees in England. London, Basingstoke, 1984: The
Macmillan Press Ltd.
Eckert, Brita. Die jüdische Emigration aus Deutschland 1933-1941 - Die Geschichte einer
Austreibung. Frankfurt am Main, 1985: Buchhändler-Vereinigung GmbH
Benz, Wolfgang. Das Exil der kleinen Leute - Alltagserfahrungen deutscher Juden in der
Emigration. München, 1991: Verlag C. H. Beck
Funke, Hajo. Die andere Erinnerung - Gespräche mit jüdischen Wissenschaftlern im Exil.
Frankfurt am Main, 1989: Fischer Taschenbuchverlag GmbH
Hitler, Adolf. Mein Kampf, Band II - Die nationalsozialistische Bewegung. München, 1929:
Eher Verlag
Feder, Gottfried. Das Programm der NSDAP und seine Weltanschaulichen Grundgedanken.
München, 1933: Eher Verlag
Goebbels, Joseph. Der Angriff - Aufsätze aus der Kampfzeit. München, 1936: Eher Verlag
Kahn, Herbert. Die wirtschaftliche und soziale Schichtung der Juden in Deutschland (Aufsatz) in:
Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik. Berlin, 1936
Der Morgen (Tageszeitung), Berlin, 9. Dezember 1934
Centralverein Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (Hrsg.). Jahrbuch 1932. Berlin, 1932
Traub, Michael. Die jüdische Auswanderung aus Deutschland - Westeuropa, Übersee, Palästina.
Berlin, 1936: Verlag Jüdische Rundschau
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