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Holmes Anatomie des Liberalismus
Der Auflistung der antiliberalen Denker stellt Holmes sein Verst@ndnis vom Liberalismus entgegen. Dabei wirft er den Antiliberalisten einerseits vor, ein falsches Bild vom Liberalismus zu haben und wenig Sensibilit@t fhr die Umst@nde seiner Entstehung aufzubringen. Andererseits kritisiert er ihre vollkommene Ausblendung der Gefahren, die der Kommunitarismus in sich bhrgt. Holmes sieht in ihm die Funktion eines Bet@ubungsmittels; da8 kollektive Handlungen auch monstr`s sein k`nnen wird nicht beleuchtet. Der Umgang mit Nonkonformisten stellt hier ein Problem (ggf. der Diskriminierung) dar.
Demgegenhber wird der Individualismus zwangsweise als antisozial eingestuft. Tats@chlich bringt er aber eine h`here Sensibilit@t gegenhber anderen Menschen als Individuen mit sich.(Siehe S. 312)
1. Atomisierung der Gesellschaft und Ignorieren des Allgemeinwohls?
Den Kritikern des Liberalismus kommt derselbe vor wie eine Aufforderung nach Atomisierung der Gesellschaft und der Verwerfung der Allgemeinwohls. Das Allgemeine whrde dem Privaten geopfert. Den liberalen Kern zeichnet demgegenhber Holmes zufolge aus: a) Die Gesellschaft kann auch auf Grundlage s@kularer Normen zusammengehalten werden. b) Die Formulierung des moralischen Prinzips der Gleichheit vor dem Gesetz als Ziel staatlicher Verfa8theit. c) _ffentlicher Widerspruch und Meinungsvielfalt sind kreative Kr@fte.(Siehe S.326f.) Dem Vorwurf der Atomisierung setzt er entgegen, da8 liberale Ideen wie Toleranz, Meinungsfreiheit, Parlamentarismus und Marktwirtschaft ohne ein enggeknhpftes Netz sozialer Beziehungen gar nicht denkbar ist.(Vgl. S.333)
Antiliberalisten verkennen den historischen Kontext der Entstehung des Liberalismus. Es ging darum, den Machtmi8brauch seitens des steuereintreibenden Staates und der Kirche als Wahrheitsmonopolisten entgegenzutreten. Fhr Liberale ist der Mensch von Natur aus frei und es kann keine grausame Unterordnung von Individuen unter die Zwecke einer Gemeinschaft geben. Holmes stellt sp@ter klar, da8 das Gegenteil von Eigeninteresse nicht Gemeinnutz hei8t. Mit dem Begriff des Eigeninteresses versuchten die Liberalen, selbstverleugnenden Gehorsam, Bevormundung und Staatsverherrlichung zu hberwinden.(Siehe S.436f.) Locke 'betonte die Unabh@ngigkeit, die dem einzelnen von Natur aus zukommt nicht, um die Gesellschaft zu `atomosieren`, sondern um die aus unerdenklichen Zeiten stammenden pers`nlichen Abh@ngigkeitsbeziehungen auszuh`hlen.'(S.336) Der Liberalismus fordert das selbst@ndige Denken und leugnet, 'da8 andere unsere Interessen definieren k`nnen.'(S.342)
Trotz der Betonung der Individualit@t widersprechen Liberale nicht dem Aufbau des Gemeinschaftlebens. Zum Allgemeinwohl z@hlt fhr sie die Gerechtigkeit, die Selbstbestimmung und die Frhchte einer friedlichen Koexistenz.(Siehe S.346)[1]
2. Privatssph re vor ffentlicher Verpflichtung?
Mit den liberalen Rechten der Vertragsfreiheit, Vereins- und Verbandsfreiheit, Rede- und Pressefreiheit werden viele Formen gesellschaftlicher Beziehungen erst m`glich gemacht.[2] Die pers`nlichen Rechte dienen der Entfaltung der Talente (es ist Aufgabe des Staates, diese zu f`rdern) und nicht der Schaffung von Egoismen; eines dem einzelnen vorbehaltenden Raumes.(Vgl. S.387f.) Auch Liberale kennen Tugenden (Vernhnftigkeit, Toleranz, Ablehnung kriegerischer Tugenden) und Pflichten (Kindererziehung, Loyalit@t gegenhber den Gesetzen), soda8 gesellschaftliche Pflichten und politische Freiheit durchaus miteinander vereinbar sind.(Vgl. S.391f.)
Dem Vorwurf der _konomisierung des geistigen Lebens und der Entfesselung des wirtschaftlichen Egoismusses h@lt Holmes die historische Erfahrung entgegen, nach der das beste Mittel gegen die Probleme des Mangels ein reguliertes Privateigentum und der Handel ist.(Vgl. S.370)[3]
Dennoch ist eine Gleichsetzung von Liberalismus mit einem 'Extrem-Individualismus' falsch. Holmes verneint, da8 Freiheit bedeute, alle erdenklichen Bedhrfnisse zu erfhllen. Es gibt einen Primat der moralischen Normen hber subjektive Neigungen. 'Die Liberalen vertraten keinen zhgellosen Selbstgenu8.'(S.400)
Obwohl dem Staat seitens der Liberalen immer Zweifel entgegengebracht werden (ihm also quasi systemimmanent immer zuzutrauen sein mu8, seine Macht zu mi8brauchen und daher auf Kontrollmechanismen Wert zu legen ist[4]) schreiben sie ihm auf der anderen Seite wichtige Aufgaben zu. Er ist fhr die Infrastruktur und das Bildungswesen, fhr Armenfhrsorge und den Justizapparat zust@ndig. Der liberal orientierte Staat setzt vor allem ein einheitliches Rechtssystem und eine einzige Norm der Gerechtigkeit durch.(Vgl. S.351)
Da8 der Liberalismus in den Augen seiner Kritiker die allgemeinen Ziele, die die Menschen verfolgen sollten, niedriger h@ngt, hat damit zu tun, da8 er sich vorrangig der Voraussetzungen der Verfolgung der Ziele (d.h. Frieden, Gerechtigkeit, Wohlfahrt etc.) verschrieben hat.[5] Individuen und Untergruppen k`nnen sich dann um die 'erhabenen' Ziele khmmern.(Vgl. S.378; siehe hier auch Anmerkung 8)
Auch der Vorwurf moralischen Skeptizismusses geht ins Leere. Das Recht eines jeden, seine moralische Wahrheit zu suchen korrespondiert mit einer Selbstdisziplinierung aufgrund des Respektes vor dem anderen. Auch die Organisation der Machtkontrolle mittels Gewaltenteilung ist letztlich moralisch, da sie darauf abstellt, ma8volle und gerechte Gesetze hervorzubringen.(Vgl. S.411) Der Staat schafft hberdies mit dem Rechtssystem eine einheitliche gesellschaftliche Norm. Alle Liberalen ordnen das Eigeninteresse einer verbindenen und einklagbaren Norm der Gerechtigkeit unter. Daher sind Liberale keine radikalen Subjektivisten.(Vgl. S.407f. und S.410) Das Verbot, sich selbst von den Gesetzen auszunehmen ist das zentrale Gebot liberaler Theorie. 'Der Ausschlu8 von ererbten Herrschaftsmonopolen ist zugleich eine Best@tigung der Chancengleichheit:'(S.411) Fhr den liberal Denkenden ist wichtig, da8 der Stand, in dem man hineingeboren wird, nicht der Schlhssel zum Leben ist.(Vgl. S.340)[6]
3. Diskussion
Holmes versteht den Liberalismus als Produkt von L`sungsvorschl@gen auf konkrete geschichtliche Probleme (Bhrgerkrieg, gberwindung der Monarchie). Die St@rkung des Individuums ist als Abwehrstrategie gegen einen willkhrlich handelnden Staat zu begreifen. Dieser wiederum hat sich nicht mehr einzumischen als unbedingt erforderlich (zu schnell whrde er sonst in die Schutzbereiche der pers`nlichen Rechte eingreifen). Der Staat hat ganz im Gegenteil dafhr zu sorgen, da8 diese pers`nlichen Rechte gew@hrleistet sind (einklagbare Norm der Gerechtigkeit). Er ist dafhr verantwortlich, da8 die Spielregeln fhr das friedliche Zusammenleben eingehalten werden. Der Gesellschaft selbst wird aufgetragen, sich um die politischen Ziele zu khmmern. Der Liberalismus stellt gewisserma8en nur den Rahmen dar, den Pinsel fhr das zu zeichnende Bild liegt in der Hand des Volkes (bzw. seiner Repr@sentanten). Auch k`nnen und sollen an diesem Bild immer wieder ?nderungen vorgenommen werden. Der Liberalismus schl@gt lediglich die (aus seiner Sicht) optimale Verfa8theit zur Erreichung politischer Ziele vor, nicht diese selbst. Genau hier greift nun der Antliberalismus an. Er beklagt die Ziellosigkeit liberaler Gesellschaften und ihr Unverm`gen, dem einzelnen darin einzuweisen, was 'Gutes Leben' hei8t. Der Liberalismus hinterl@8t nichtzuletzt aufgrund seines Zweifels gegenhber der Religion eine Orientierungslosigkeit und ein moralisches Loch. Der Entwurzelung der Menschen folgt kein Umtopfen sondern der alleinige Hinweis darauf, da8 jeder fhr sich die Wahrheit finden mu8.
Es stellt sich daher die Frage, wieviel Lenkung der Mensch (durch wen) zu erfahren hat. Besonders interessant sind hier die Einstellungen von de Maistre und Strauss, die sich bewu8t fhr Mythen z.B. der Religion (Strauss) oder Lhgen und Dogmen (de Maistre) aussprechen, um soziale Stabilit@t zu gew@hrleisten und eine 'massenhafte Enthemmung'(Strauss) zu verhindern.(S.o.)
Wie sehr ist der Mensch in der Lage, auf sich selbst gestellt vernhnftig und 'sinnerfhllt' zu leben? Braucht er ein von au8en vorgegebenes Ziel?
Die liberale Antwort auf die Frage ist mittelbar: Da die Lenkung von au8en in der Regel immer frhher oder sp@ter zu Mi8brauch von Macht fhhrt und die Rechte des einzelnen entweder historisch noch gar nicht entwickelt waren oder eben mit Fh8en getreten werden, bedarf es der St@rkung der Einzelperson gegenhber dem Staat. Mit anderen Worten: Der Liberalismus sagt nicht, da8 der Mensch keine Orientierung brauche, er h@lt aufgrund der Erfahrungen Kirche und Staat fhr nur sehr bedingt geeignet, die Funktion des Orientierungsgebenden einzunehmen. Er st@rkt im Gegenzug lieber die Rechte des einzelnen, um ihn gegenhber Angriffen von au8en zu immunisieren. Darhberhinaus hat der Liberalismus die Erfahrung umgesetzt, da8 'die eine Wahrheit' immer gef@hrlich ist. Sie sagen daher (und fordern jeden entsprechend dazu auf, kritisch zu sein), da8 keiner sagen kann, im Besitz der Wahrheit zu sein. Im Grunde ist der Liberalismus um das Wohl der Menschen besorgt und schlie8t daraus Schlhsse, die jedem zu diesem Wohl verhelfen sollen.
Fhhrt nun die St@rkung der pers`nlichen Rechte und die Ausrichtung der Staatsorganisation auf das Individuum zu einer Atomisierung der Gesellschaft? Der Vorwurf der Antiliberalen lautet, da8 mit der Grhndung eines liberalen Staates der Zusammenhalt der Gemeinschaft veschwindet. Es gibt kein gemeinsames Ziel mehr, der 'idyllische Konsens' wird durch einen 'endlosen Disput' ersetzt.(Alasdair MacIntyre; s.o.) Hier hat Holmes sicherlich recht, wenn er den Antiliberalen vorwirft, die Vergangenheit zur Sthtzung ihrer Thesen gnadenlos sch`nzureden. Denn der Liberalismus ist wie gesagt auch die Reaktion auf - wie ich meine - schlechtere, rechtlosere Zeiten. Andererseits sind Ziele, auf die gemeinschaftlich eingeschworen wird, h@ufig als 'besser-nicht-zu-verfolgen' einzustufen. Auch das ist wiederum ein Grund, warum Liberale die Tugend der Vernunft hoch einsch@tzen. Ein jeder mu8 selbst@ndig hberdenken, was fhr ein Ziel ihn da angeboten wird; ein kollektiv-bedingungsloses Folgen kann zwar Gemeinschaftssinn stiften, aber in der Konsequenz auch zutiefst unmenschlich sein.[7] Das Hervorheben der Gemeinschaft auf Kosten des Individuums bhrgt daher immer die Gefahr in sich, da8 Vernunft auf der Strecke bleibt. Es sieht daher ganz so aus, als sei ein Verlust an Gemeinschaftsgefhhl (wie er den Kommunitaristen vorschwebt) auch ein wenig der Preis fhr einen weniger unvernhnftigen Umgang unter den Menschen insgesamt.
Andererseits bleibt es durchaus schwammig, inwieweit der Liberalismus das Allgemeinwohl zu f`rdern gedenkt. Zwar listet Holmes als eine der Voraussetzungen fhr die Verfolgung politischer Ziele die Wohlfahrt auf. Gerechtigkeit und Selbstbestimmung sieht der Liberalismus als Beitrag zum Allgemeinwohl an. Nur ist das nathrlich ein eher schmaler Begriff von Allgemeinwohl, und Holmes gibt auch zu, da8 der Wert eines Individuums nicht daran gemessen wird, ob er etwas zum allgemeinen Wohl beitr@gt. Auch die angegebenen Tugenden und gesellschaftlichen Pflichten umfassen nichts, was wesentlich hber das eigene Wohl (und im Falle der Kindererziehung) das der Familie hinausgeht. Wenn aber keine moralische Verpflichtung besteht, z.B. ehrenamtlich 'Gutes zu tun' und dem Staat aufgegeben wird, sich auf den Kern seiner Aufgaben zu beschr@nken, so kann hier leicht eine Lhcke entstehen.
Wenn Liberalismus von der Idee her nicht 'Extrem-Individualismus' bedeutet, so mu8 man doch fragen, ob er ihn nicht erst erm`glicht. Holmes weist an mehrern Stellen seines Buches darauf hin, da8 man den Liberalismus als politische Theorie und die liberalen Gesellschaften im Konkreten bei der Diskussion auseinanderhalten mu8. So kann man durchaus die einzelnen westlichen Gesellschaften fhr ihren Umgang mit dem Liberalismus kritisieren (Hedonismus etc.). Nur ist das der Fall, kann man wiederum fragen, ob der Mensch geeignet ist, mit ihm umzugehen, seine Freiheit vernhnftig zu gebrauchen. Gibt es einen Automatismus, der dem Menschen gegebene Freiheit immer zu Zhgellosigkeit verleitet? Die Alternative w@re aber, zu bevormunden. Die einzige M`glichkeit scheint daher weiterhin zu sein z.B. mittels Aufkl@rung und 'Appellen an die Vernunft', 'das Beste aus der Freiheit zu machen'. Eine Zwischenl`sung erscheint schwer vorstellbar: Entweder ich vertraue in die Vernunft des einzelnen bzw. darauf, da8 sich diese irgendwann durchsetzen kann, oder ich hbergebe die moralische Lenkung einer @u8eren Instanz (die im hbrigen 'wissen' mh8te, was denn der rechte Weg ist), mit dem hberaus hohen Risiko, da8 diese ihre Macht mi8braucht. (Liberale whrden vermutlich sagen, da8 sie allein deswegen ihre Macht mi8braucht, da sie zur Begrhndung derselben den Anspruch haben mu8, im Besitz der Wahrheit zu sein, diesem Anspruch aber niemand gerecht werden kann.)
Das ist nathrlich eine anderer Begriff von Allgemeinwohl, als sie die Kommunitaristen haben, gehen sie doch davon aus, da8 der einzelne erst in der Gemeinschaft aufgeht und infolgedessen seine Schaffenskraft in die Dienste 'des gr`8eren Ganzen' zu stellen hat.
Was den von Holmes wiedergegebenen Antiliberalen (bis auf Robert Unger) daran mi8fallen dhrfte ist, da8 hier die einheitliche Sto8richtung fehlt. Gesellschaftliche Beziehungen dieser Art whrden sie als fhr den einzelnen funktionalistisch, jedoch ganz und gar unzweckm@8ig fhr das Ganze ansehen. Das Wohl des Allgemeinen soll aber (nach deren Auffassung) Ziel sein.
Eine ungleiche Verteilung ist nach Holmes das unvermeidliche Nebenprodukt eines Prozesses, der den Wohlstand (auch der Armen) insgesamt vermehrt.
So stellt denn auch fhr Holmes der Liberalismus den systematischen Versuch dar, pers`nlichen Mi8brauch von `ffentlichen Institutionen zu beschr@nken. Die _ffentlichkeit hbernimmt die wichtige Funktion des Kontrolleurs.(Vgl. S.358f.) Darhberhinaus ist der Liberale hberzeugt, da8 `ffentliche Auseinandersetzungen intelligentere Entscheidungen hervorbringen. Daher ist der Vorwurf unbegrhndet, nach dem sie eine Ausweitung der Privatssp@hre zuungunsten der `ffentlichen Sp@hre forderten. Das Heraushalten von Religion aus dem politischen Streit hat hingegen Sinn.(Vgl. S.356ff.)
Der Liberalismus bindet sich nach Holmes stark an das Mehrheitsprinzip und weigert sich insoweit, bestimmte politische Inhalte von vorneherein festzulegen.(Siehe S.414f.) Damit ist einem liberal organisiertem Staat mehr Handlungsraum gegeben und er kann auf ver@nderte Bedingungen flexibel reagieren.
Diese Anklage gegenhber starren Schichtstrukturen bei nach unten hin gr`8er werdender Chancen- und Rechtlosikeit lie8e sich ebenso bei sozialistisch Denkenden einordnen. Immer geht es um die st@rkere Einforderung von Rechten, um Teilhabe an Betriebspolitik und gerechtere Verteilung von Geldern. Die Liberalen legen ihren Schwerpunkt vielleicht mehr auf die generellen Aufstiegschancen. Sie wollen, da8 unabh@ngig von seiner Herkunft jeder die M`glichkeit hat, die Karriereleiter zu erklimmen. Daher spielt im Liberalismus die staatliche Verantwortung fhr die Bildung seiner Bhrger eine zentrale Rolle. Sie soll die besagte Chancengleichheit hersellen.
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