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Geschichte, Religion und Literatur stellen den Protagonisten des Revolutionsdramas ein Repertoire von Rollen und Verhaltensmustern zur Verfügung, die eine stilisierende Vermittlung des eigenen und eine Deutung fremden politischen Handelns erlauben. Den größten Anteil an den auffällig zahlreichen literarischen und historischen Anspielungen und Zitaten hat die Welt der Antike. Das gilt für das griechische Kost m der Dantonisten nicht weniger als für die römische Toga ihrer Gegner im jakobinischen Lager. Die antiken Zitate verdichten sich tendenziell zu einem eigenständigen Code der politischen Kommunikation. Die Selbst und Fremdwahrnehmung der politischen Akteure im Drama greift konsequent auf die normativ hochbesetzten heroischen Deutungs und Legitimationsmuster der Antike zurück. Gegen die auf ihn gemünzte taciteische Tyrannenschelte setzt Robespierre Sallusts Verschwörung des Catilina , die in der Tat das Legitimationsmodell für die Liquidierung der dantonistischen Konspiration< abgeben wird. Der Dolch des Brutus wechselt gar die Seiten: Dantons Kampf gegen die jakobinische Diktatur soll er zur Hand gehen , aber auch St. Just reklamiert ihn für den Kampf der Feinde der Tyrannei . . .] in Europa und auf dem ganzen Erdkreise« . Das Volk erscheint im mythischen Denken der bürgerlichen Revolutionäre als »Minotaurus« , die Revolution dagegen »wie Saturn, sie fri t ihre eignen Kinder« . Das integrative Bezugsmodell für die im Zitat angeeigneten Rollen und Verhaltensmuster ist die Theatermetapher, die das Handeln, besonders das Handeln im öffentlichen Raum, als Rollenhandeln ausweist. Die Revolution selbst erscheint im Horizont der Theatermetaphorik als politische Inszenierung, als die kollektive Aufführung eines vorbestimmten dramatischen Texts. Robespierre beschwört in seiner Anklage gegen die Hébertisten »das erhabne Drama der Revolution« 4 f.), und besonders Danton begreift und reflektiert den politischen Handlungsraum der Revolution im Bild des Welttheaters. Die Welt als Theater, der Mensch als Rollenträger, sein Handeln als fremdbestimmtes Spiel: der Topos des Welttheaters ist immer schon als Aussage darüber zu lesen, was Wirklichkeit ist.« Büchner fand die Theatermetaphorik in den Quellen zur Geschichte der Franz sischen Revolution vor. Ihr Einsatz im Drama legt gezielt den ideologischen Gehalt tradierter literarischer und historischer Muster frei, wobei die Kritik primär die gesellschaftliche Wirksamkeit der erborgten Rollen und Handlungskonzepte erfa t. Aus dem anachronistischen Repertoire der klassischen Muster speist sich die historisch unangemessene politische Stilisierung der revolutionären Führer, und noch die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Bewußtsein der >kleinen Leute< ist durch eine Theatralisierung der Politik bestimmt. Karl Marx hat in seiner Analyse des . Brumaire die ideologische Funktion dieser heroischen Kostümierung nachgewiesen und den Totendienst der bürgerlichen Revolutionshelden scharf kritisiert. Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft.« Die Theatermetaphorik in Dantons Tod erfüllt eine doppelte Aufgabe: sie demonstriert die ideologische Verblendung der politischen Akteure, kritisiert aber mit der Theatralisierung der Politik zugleich eine ästhetisierende Aneignung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Im Drama erscheint die Theatermetapher als potenziertes Zitat: zitiert wird das historisch verbürgte Zitat, wobei der Akzent weniger auf dem Zitierten als auf dem Gestus
des Zitierens liegt. Als Geschichtszitat problematisiert die Theatermetaphorik in Dantons Tod historisch dominante Formen der Wirklichkeitsaneignung; dabei erscheint das Theater nicht so sehr als Kunst, sondern als eine Vermittlungsform gesellschaftlicher Realität. Als Metapher für die Produktion und Rezeption von Wirklichkeitsbildern steht das Theater für einen spezifisch defizitären Zugang zur gesellschaftlichen Realität. Mit dem potenzierten Einsatz der Theatermetaphorik verschärft Büchner die Ideologiekritik des politischen Diskurses und überführt diese zugleich in eine fundamentale Kritik der gesellschaftlichen Produktion von Wirklichkeit. Die Aporien des politischen Handelns werden über ihre ideologische Begründung hinaus auf elementare Formen der Aneignung von Realität zurückgeführt. Die KunstFigur Simon, mit der Büchner die Grenzen eines realistischen Figurenkonzepts bewußt überschreitet, demonstriert die fatalen Folgen einer universalen Theatralisierung der Wirklichkeit. Die komische Diskrepanz resultiert nicht allein aus der unfreiwilligen Verwechslung der zitierten Rollen, sie ergibt sich ebenso aus dem lächerlichen Verfehlen der lebensweltlichen Realität. Der betrunkene Souffleur, der die der Not geschuldete Prostitution seiner Tochter auf der Folie antiker und bürgerlicher heroischer Muster stilisiert Kabale und Liebe, VirginiaMotiv, Emilia Galotti, Lukretia, Philemon und Baucis, Porcia, Hamlet , setzt einen bezeichnenden Rahmen für den anschlie enden >Auftritt< Robespierres. Die pathetische Gebärde, die der Politiker Robespierre dem erhabnen Drama der Revolution« schuldig zu sein glaubt, erscheint vor diesem Hintergrund erborgt, hohl und unzeitgemä . Die überraschende Nähe zwischen dem berufsmä igen Ein und Vorsager und dem jakobinischen Revolutionsführer wird an anderer Stelle bestätigt: Bei der Verhaftung Dantons , die Simon mit
ShakespeareReminiszenzen und geflügelten Worten aus den Befreiungskriegen aufpoliert, bedient sich der Souffleur der gleichen vaterländischen Rhetorik, die Robespierre in der folgenden Szene wirkungsvoll an das Ende seiner Rede vor dem Konvent setzt . Die SimonFigur zeigt in komischer Übertreibung einen theatralisch bedingten Wirklichkeitsverlust, der tendenziell alle politischen Akteure der bürgerlichen Revolution bedroht.Erscheint die Theatermetaphorik bei Simon, und in gewisser Hinsicht auch bei Robespierre, in reflexionsloser Gestalt, so erfährt sie bei Danton eine reflexive und kritische Wendung. Im Bild des Welttheaters thematisiert Danton die individuell erfahrene Entfremdung vom historischen Prozeß der Revolution. Zugleich aber wird ihm die Theatermetapher zu einer avancierten Chiffre für die Wahrnehmung des eigenen Verlusts von Wirklichkeit: »wir stehen immer auf dem Theater, wenn wir auch zuletzt im Ernst erstochen werden« .
Keineswegs zufällig findet das Bild vorn Revolutionstheater zuerst im Zusammenhang der öffentlichen Spektakel des Todes Verwendung. Der Tod als äußerste menschliche Grenzerfahrung verstärkt den Bedarf an Sinn für die Lebensgeschichte der individuellen Existenz. Danton radikalisiert die Legitimationsproblematik gesellschaftlicher Sinnwelten, indem er, restlos desillusioniert, nach der Wirklichkeit der Wirklichkeit fragt. Im Bild des Welttheaters formuliert er die an sich selbst erfahrene Ohnmacht des Subjekts und die Fremdbestimmtheit des menschlichen Eingriffs in den historischen Prozeß der Revolution:
»Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst « . ) In der Todeszelle schlie lich
büßen die öffentlichen Rollen ihre letzte Legitimation ein. Hier ist es Camille, der die Maskenhaftigkeit der in der Phrase überlebenden politischen Existenz seiner Freunde entlarvt: »wir sollten einmal die Masken abnehmen, wir sähen dann, wie in einem Zimmer mit Spiegeln, überall nur den einen uralten, zahllosen, unverwüstlichen Schafskopf, nichts mehr, nichts weniger« . Die forcierte Verwendung der Bühnen und Rollenmetapher signalisiert die Entfernung der Revolutionäre von der Revolution. In der Theatermetapher wird die Divergenz von geschichtlichem Prozeß und individuellem Handeln festgehalten, aber nicht auf den Begriff gebracht. Ihre Verwendung indiziert also nicht nur hellsichtig das Fehlen historisch angemessener Formen politischen Handelns; sie zeugt zugleich vom Unvermögen, diesen Mangel als politischen zu begreifen. Noch die kritische Wendung, die die Theatermetaphorik bei Danton erfährt, bezeichnet einen eingeschränkten Bewußtseinsstand, der auf der Figuren und Handlungsebene des Dramas nirgends überschritten wird. Ihr Erkenntniswert bleibt
begrenzt. Zwar erlaubt sie Danton zeitweise die Identifikation mit einer Zuschauerrolle im historischen Prozeß, einer Rolle, die den aufgezwungenen Handlungsverzicht reflexiv zu bewältigen versucht, doch fehlt Dantons WeltTheater im Vergleich zu seinem barocken Vorgänger jede verbindliche Verankerung in einem transzendenten Sinnsystem. Erweitert zum Spiel , bewirkt die Theatermetapher eine erneute, wenn auch reflektierte Asthetisierung der sozialen und politischen Wirklichkeit und verstellt letztlich den Weg von der Reflexion zur geschichtlich verantwortlichen Tat. Sie wirkt im Grunde als ein zusätzliches
»Quietiv«. Im Kost m des Zuschauers bleibt Danton in den engen Grenzen des Bildes vom Revolutionstheater befangen. Erst im Horizont des eigenen Todes wird das Theater als metaphorisches Vehikel der Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit ausdrücklich außer Kraft gesetzt. Die Kritik einer universalen Theatralisierung der Alltagswelt ist in einem neuen Wirklichkeitsbegriff fundiert, der im ästhetischen Diskurs von Dantons Tod selbst entfaltet wird. Die Stra enszene Eine Promenade , II,2) verknüpft auf subtile Weise den politischen und den ästhetischen Diskurs des Stücks. Durch die Erweiterung der Theatermetaphorik zum Organ der Wirklichkeitskonstitution gewinnt auch die anschlie ende kunsttheoretische Reflexion 5 f.) eine außerästhetische Bedeutung. Die Stra enszene führt exemplarisch die lebensweltliche Funktion bürgerlichidealistischer Kunst vor. In der Form eines hart gefügten Simultantheaters verstärkt sich noch die bereits in den alltagsweltlichen Szenen angelegte Theatralik. Ein ästhetisierender Zugang beherrscht nicht nur die Überlegungen zur republikanischen Namensgebung, die noch einmal den kultischen Ursprung der klassischen Muster und ihre Nähe zum Personenkult (Robespierre) illustrieren. Auch die stilisierte Abendstimmung und die idealisierende Verklärung der Natur, die sich im Gespräch der bürgerlichen Dreiergruppe bemerkbar macht, greift auf literarische Muster der Wirklichkeitswahrnehmung zurück. Besonders deutlich bezeichnet der Dialog der beiden Herren die lebensweltliche Antithese von Kunst und Wirklichkeit. Das eitle Gerede von technischer Revolution und menschlichem Fortschritt erweist sich im Hinblick auf die Unfähigkeit, eine banale Alltagssituation - die >gefährliche< Pfütze - zu bewältigen, als haltloses Geschwätz. Die angenommenen Phrasen einer modernen Halbbildung können zudem durchaus mit einem pseudowissenschaftlichen Aberglauben - »Ja, die Erde ist eine dünne Kruste, ich meine immer, ich könnte durchfallen, wo so ein Loch ist« ) - bestehen. Die Lebensfremdheit des falschen Allgemeinen betrifft nicht minder die Kunst. Das Theater definiert sich geradezu über seine Distanz zur Lebenswelt. Die theatralisch angerichtete geistreichkühne Verwirrung, die offenbar auf Unverständnis trifft und Schwindel auslöst, wird zum bestimmenden Merkmal einer Kunst, deren Schöpfung folgerichtig nur einem >bizarren Kopf< gelingen kann. Das bürgerlichidealistische Theater, das hier karikiert wird, verdankt seine Triumphe einer kalkulierten Distanz zum Leben. Die in solcher Kunst vorgefundenen idealisierenden Konstitutionsformen von Wirklichkeit verfehlen zwar auf groteske Weise die Realität, erlangen aber gleichwohl eine reale gesellschaftliche Wirksamkeit. Sie verhindern die Ausbildung eines praxisbezogenen Wirklichkeitssinns und damit jede realistische lebensweltliche Orientierung; sie verstärken im Gegenteil die Lebensunt chtigkeit eines Publikums, das die Grenzen des Theaters auch im Leben nicht zu überschreiten vermag. Indem die Stra enszene die Entfernung von Kunst und Lebenspraxis vor Augen führt, kritisiert sie nicht allein die tradierte Form des bürgerlichen Theaters, sondern auch dessen prekäre Wirkung. Mit der Kritik der Theatralisierung der Alltagswelt st t Büchner auf die fundamentale Erkenntnis der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit. Die
historisch vorgefundene Theatermetaphorik und die im Zitat überlieferten Lebensformen aus zweiter Hand demonstrieren exemplarisch die prinzipielle Vermitteltheit gesellschaftlicher Realität. Das Bewußtsein erscheint als gesellschaftliches
Produkt, ebenso aber die Wirklichkeit, auf die es sich richtet. In Dantons Tod werden dominante Formen der gesellschaftlichen Konstitution von Wirklichkeit kritisch überprüft. Büchner setzt dabei bewußt an den tradierten Formen der Selbstdeutung der historischen Subjekte an. Das gilt für die das gesamte dramatische Werk des Autors bestimmende Sprachkritik nicht weniger
als für die Theatermetaphorik, der im Revolutionsdrama ein besonderes Gewicht zukommt. Das Theater als Konstitutionsform gesellschaftlicher Wirklichkeit verbindet den politischen und den ästhetischen Diskurs in Dantons Tod. Die Fundamentalkritik gesellschaftlicher Produktion von Wirklichkeit bestimmt daher auch das Kunstgespräch< 5 f.), das - in der Negation idealistischer Kunst - erste Ansätze einer politischen Asthetik des Realismus erkennen lä t. Camilles kunsttheoretischer Exkurs thematisiert die zuvor szenisch entfaltete Theatralisierung der Wirklichkeit. Mit der bürgerlichidealistischen Kunst
werden die ihr zugehörigen Rezeptionsformen kritisiert. Die vehemente Zurückweisung der herrschenden Kunstformen
verweist implizit auf ein neues Konzept des ästhetischen Realismus. Von der Schöpfung, die glühend, brausend und leuchtend, um und in ihnen, sich jeden Augenblick neu gebiert, hören und sehen sie [die Leute] nichts« . Die Aufgabe kommender Kunst wäre die Ausbildung eines neuen Wirklichkeitssinns, der die gesellschaftliche Produktion einer Wirklichkeit befördert, die in Camilles Bild von einem permanenten und allgegenwärtigen Prozeß der Schöpfung nur recht vage Umrisse gewinnt. Die neue Kunst betreibt eine gesellschaftliche Schulung der deformierten menschlichen Sinne; sie schult das genuin soziale Vermögen, Wirklichkeit zu konstituieren. Freilich kann die emphatische Beschwörung der neuen Wirklichkeit für eine politisch fundierte Strategie des ästhetischen Realismus kaum einstehen. Auch Dantons Kritik an dem sachlichunbeteiligten, emotionslosen politischen Naturalismus des Malers JacquesLouis David gelangt über eine eher marginale Festlegung der realistischen Manier nicht hinaus. Es hat sich in der Forschung eingebürgert, die kunsttheoretische Reflexion in Dantons Tod um das Kunstgespräch in Büchners Erzählfragment Lenz zu erweitern und beide Textpassagen gemeinsam als das realistische Programm des Autors auszugeben. Selbst dann, wenn die methodische Crux dieses Verfahrens außer Betracht bleibt (die Abstraktion vom ästhetischfiktionalen Kontext, die Aufhebung der streng durchgehaltenen
erzählerischen bzw. dramatischen Perspektive , erscheint eine solche Bewertung fragwürdig. Lenz' Position wird in der Erzählung ausdrücklich als eine historische eingeführt: Die idealistische Periode fing damals an.« Das Konzept eines prononciert antiidealistischen Realismus ist einem noch unproblematischen, vergleichsweise naiven Wirklichkeitsbegriff verpflichtet. Die Nachahmungsvorstellung und der Rekurs auf die Mitleidsästhetik knüpfen durchsichtig an Positionen der Aufklärung an, deren Reflexionsniveau Büchner längst überschritten hat. Die an Beispielen entwickelte Realismuskonzeption unterschätzt nicht nur die Vermitteltheit gesellschaftlicher Realität, sondern auch die Mittelbarkeit der Kunst, den konstruktiven Charakter eines ästhetischen Realismus.
Ohne Zweifel besaß die in der LenzFigur gestaltete Ablehnung idealistischer Verklärung und die ungeschminkte, von der Liebe zur Menschheit getragene Darstellung >der Wirklichkeit< als historische Position Büchners Sympathie; nichts berechtigt aber zu der Annahme, hier hätte die politische Asthetik des Realismus, die Büchner als drängendes Gebot der eigenen Zeit praktisch entwickelt hat, eine programmatische Formulierung gefunden. Büchners Position ist keineswegs mit der von Lenz, Camille oder Danton identisch. Zwar thematisiert Camille in der Kritik der Theatralisierung der Wirklichkeit bereits den
Wirklichkeitsbegriff, der dem neuen Realismuskonzept zugrunde liegt, doch findet dieses Konzept im Drama keine explizite
programmatische Formulierung: Eingelöst wird es allein auf der Ebene der dramatischen Struktur.Das organisierende Prinzip der ästhetischen Struktur von Dantons Tod ist, wie Albert Meier zu Recht festgestellt hat, die Negation vorgefundener Verzerrungen gesellschaftlicher Wirklichkeit. Das geschichtliche Material, in dem mit den Selbstdeutungen der historischen Protagonisten zugleich herrschende Konstruktionsformen von Wirklichkeit überliefert sind, wird so in den Text eingefügt, daß sich seine immanente Widersprüchlichkeit radikalisiert. Das Drama stellt ein musivisches Gebilde streng perspektivierter disparater Einzelmomente dar, deren widersprüchlicher Zusammenhang sich erst in der eigenen Reflexion auf die Wirklichkeit der Wirklichkeit entdecken lä t. Der in der dramatischen Struktur objektivierte ästhetische Realismus ist politisch fundiert, er ist direkt auf die ideologiekritische Intention und auf die Kritik der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit bezogen. Als Bezugsrahmen der politischästhetischen Strategie des neuen Realismus fungiert eine praxisnah entwickelte Gesellschaftstheorie, die auf eine Beseitigung des Klassengegensatzes von Arm und Reich und auf die Aufhebung gesellschaftlich erzeugter Entfremdung gerichtet ist. Politische Theorie erscheint bei Büchner fast ausschließlich im Modus der Kritik; sie ermöglicht die bestimmte Negation der historisch vorgefundenen politischen und sozialen Ordnung. Büchners Realismus überführt eine strategisch wichtige, aber auf ihr idealistisches Gegenüber negativ fixierte bürgerliche Position der Kunst (Lenz, Camille, Danton) in eine neue, politisch fundierte Asthetik. Die Kunst steht im Dienst der sozialen Revolution, und Dantons Tod erscheint vor diesem Hintergrund als ein praktisches Manifest der neuen Kunst, die radikal mit der bürgerlichen Tradition bricht. Büchners Theater hat ein anspruchsvolles Programm, denn es begnügt sich nicht mit einer Kritik der Ideologie. Als Schule der Wirklichkeit will es ein neues Sehen und Hören< lehren, mit der Ausbildung realistischer Sinne die Voraussetzung für kollektives politisches Handeln, für die Verwirklichung einer sozialen Revolution schaffen.
3. Dramatische Reflexion über Geschichte
Schon zu Beginn des Dramas erfährt Danton den Prozeß der Revolution als einen fremdbestimmten Vollzug, der unausweichlich das eigene Leben als Opfer fordert. Für den Aktivisten der bürgerlichen Revolution fielen einst der Sinn des eigenen Daseins und der Sinn des revolutionären Geschehens noch unproblematisch zusammen. Noch seine Reden vor dem Revolutionstribunal reklamieren vergeblich das Recht des Namens, den Anspruch der historischen Persönlichkeit. Als Opfer der Revolution verliert Danton eine Identität, die sich ausschlie lich aus dem politischen Handeln im öffentlichen Raum speiste. Der subjektive Anspruch des Individuums geht im objektiven Sinn der Revolution nicht länger auf. Der Sinnverlust erfaßt nicht nur die Gegenwart, die die Einsicht in die historische Notwendigkeit des eigenen Todes fordert. Mit Hilfe der Theatermetapher reflektiert Danton vielmehr die prinzipielle Heteronomie geschichtlichen Handelns. Als groß erscheint das historische Individuum in dem Maße, wie es als Werkzeug einem fremden Gesetz der Geschichte unterworfen ist. Historische Größe ist also nicht länger ein Attribut der Person, sie entspringt einer zufälligen Übereinstimmung mit dem Bedürfnis einer eigenmächtig erscheinenden Geschichte. Wenn das politische Handeln im gechichtlichen Raum subjektiver Bestimmbarkeit entzogen ist, wird die Geschichtsmächtigkeit des Subjekts radikal in Frage gestellt. Die aus der Einsicht in die Aporien politischen Handelns resultierende Handlungsverweigerung setzt Danton frei für eine radikale Reflexion über Geschichte; er sucht nach einer Vermittlung von subjektivem Anspruch und objektivem Sinn, der in der Geschichte Gestalt gewinnt. Diese Suche aber ist identisch mit einem Prozeß der Desillusionierung, der alle verfügbaren Legitimationen politischen Handelns im Horizont der Geschichte restlos entwertet. Die geschichtliche Figur Danton war prädestiniert zum Träger des historischen Diskurses im Drama. Die dramatische Figur besaß für Büchner eine eminent wichtige strategische Bedeutung. Der Autor projizierte die im Verlauf der Winterkrise / 4 entstandenen Zweifel an der Möglichkeit eines sinnhaften subjektiven Eingriffs in den historischen Prozeß in die KunstFigur Danton. Die menschlichen Verhältnisse, so Büchner im März 4 in einem Brief an Minna Jaeglé, sind einer fremden unabwendbaren Gewalt unterworfen, die jede Selbstbestimmung als vermessen und absurd erscheinen läßt: Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich.« Die Entdeckung des »grä lichen Fatalismus der Geschichte« verdankt sich einem intensiven Studium der Geschichte der Revolution, in dessen Verlauf das bürgerlichidealistische Geschichtskonzept, das noch die Schülerreden Büchners durchgehend beherrscht, aufgegeben werden muß. Die Existenz eines von der Intention handelnder Subjekte unabhängigen historischen Verlaufs stellt das überkommene, vom jungen Büchner noch in Anspruch genommene Legitimationsmodell der bürgerlichen Geschichtsphilosophie in Frage: das große Individuum, eine idealistische Handlungstheorie, das Konzept der >Weltgeschichte< und eine Fortschrittstheorie, die auch der Französischen Revolution ihren legitimen Ort zuweist. Ein solches bürgerlichidealistisches Geschichtskonzept wird in Dantons Tod bezeichnenderweise von
St. Just 3 ff.) und - in Ansätzen - von dem Ersten Herren in der Stra enszene ) vertreten. Der historische Diskurs in
Dantons Tod gewinnt seine Bedeutung auf drei Ebenen: . Er erlaubt die ästhetische Objektivation einer von Büchner selbst
erfahrenen Krise historischen Denkens, jenseits des Handlungszwanges der politischen Arbeit, die der Autor auch nach dem FatalismusErlebnis verstärkt fortführt. Die dramatische Reflexion der Krise ist dabei keineswegs identisch mit ihrer Aufhebung; der existentielle Grundzug der DantonFigur, die im Drama trotz ihrer politischen Borniertheit nicht denunziert wird, mag hierin eine Erklärung finden. . Die selbstkritische Revision der eigenen geschichtsphilosophischen Position wird von Büchner in eine fundamentale Kritik der bürgerlichidealistischen Geschichtsauffassung überführt. Der historische Diskurs des Dramas ist hierin dem ästhetischen, der eine Kritik der bürgerlichidealistischen Kunst betreibt, vergleichbar. . Ausgehend von dem unvermeidlichen Scheitern der sozialen Revolution und den unaufhebbaren Aporien politischen Handelns, sucht Büchner in Dantons Tod mit der transzendental gerichteten Reflexion über Geschichte nach der Bedingtheit menschlichen Handelns im historischen Raum. Die Entfremdung vom geschichtlichen Prozeß der bürgerlichen Revolution ist der geheime Bezugspunkt der fundamentalen Existenzkrise, die Danton im Drama durchlebt. Die mit der DantonFigur thematisierten philosophischen Konzepte einschließlich des Nihilismus gewinnen keine eigenständige Funktion, sie entfalten ihre Bedeutung erst auf der Ebene des historischen Diskurses. Die schon in der ersten Szene angelegte Problematisierung der ZeitKategorie, die den Anachronismus der eigenen Existenz in der Divergenz von historischer und persönlicher Zeit formuliert , wird zu Beginn des zweiten Aktes wieder aufgenommen. Camilles drängende Forderung: »Rasch, Danton, wir haben keine Zeit zu verlieren«, bescheidet Danton lakonisch: »Aber die Zeit verliert uns« . Die Langeweile und das Gefühl eines Ennui sind unverkennbar Folgen des historischen Sinnverlusts der eigenen Existenz, der die Routine alltäglicher Verrichtungen als absurd erscheinen lä t. Der pensionierte Revolutionär findet die Ruhe nicht, die ervorgeblich sucht. Aus der Bahn der Geschichte geworfen, verfällt Danton dem Zweifel an ihrem Sinn wie am Sinn der menschlichen Existenz überhaupt. In der Metapher des Welttheaters formuliert der resignierte Akteur die Entfremdung des Menschen vom geschichtlichen Proze , und die Sinnlosigkeit der Geschichte wird unvermittelt auf die individuelle Existenz übertragen: »das ist mir der Mühe zuviel, das Leben ist nicht die Arbeit wert, die man sich macht, es zu erhalten« (31). Unterstellt Danton zunächst einen anthropologischen Defekt ) als Ursache für die katastrophale Bilanz der menschlichen Geschichte, so gelangt er in der Straßenszene zu einer grundlegenden Erweiterung der Anthropologie historischer Subjekte. »Ich wittre was in der Atmosphäre; es ist, als brüte die Sonne Unzucht aus. - Möchte man nicht drunter springen, sich die Hosen vom Leibe rei en und sich über den Hintern
begatten wie die Hunde auf der Gasse « ) Danton reklamiert in seinem vitalistisch anmutenden Protest die F lle des Lebens gegen die zivilisatorische Einschränkung der menschlichen Natur. Der subjektive Faktor erscheint damit in Büchners Revolutionsst ck in einer neuen, antiidealistischen Gestalt. Die Körperlichkeit, die Triebnatur und die Bedürfnisse des Leibes werden in die Darstellung der historischen Akteure umfassend einbezogen. Aber der Büchners Zeitgenossen irritierende sexuellobszöne Diskurs dient nicht allein der Destruktion geschichtlicher Helden, er verleiht zugleich einer Revolte der Subjektivität Ausdruck, die gegen den geschichtlichen Zwang das Recht auf die volle Entfaltung der menschlichen Natur setzt.
Der Gestus des Obszönen demonstriert allerdings die spezifische Deformation einer gesellschaftlich tabuisierten Sinnlichkeit.
Die Revolte bleibt eigentümlich ziellos; sie wird im »Lachen« ) aufgehoben, das aufs neue die absurde Dimension in der gesellschaftlichen Existenz des Menschen zum Vorschein kommen lä t. Der ausdrücklich als ziellos ausgewiesene Weg Dantons ) findet seine Entsprechung in der verzweifelt kreisenden Bewegung der geschichtlichen Reflexion, die ihn umtreibt. Der Tod als nahende Aufhebung des Hier und Jetzt der individuellen Existenz gibt der Sinnsuche des politischen Flaneurs eine zunehmend rückwärtsgewandte Tendenz. Neben das kollektive Gedächtnis der Geschichte tritt unfreiwillig das private Gedächtnis des politischen Individuums, das dem Erinnerungszwang im Gedächtnisschwund des Todes zu entrinnen hofft. Die private Aneignung der politischen Existenz, die bereits Dantons Monolog auf dem »freien Feld« (II,4) bestimmt, verstärkt sich noch in dem unmittelbar folgenden Gespräch mit Julie (II,5). So führt der Sinnverlust der Geschichte im Fall der Septembermorde des Jahres 2 zu einer Verzweiflung am eigenen politischen Handeln, das jetzt im Zeichen der Schuld vor der Instanz des Gewissens aufgerufen wird. In halluzinatorischen Phantasien von dem Schrei seiner Opfer verfolgt, erfährt Danton im erträumten Ritt auf der Erdkugel den »grä lichen Fatalismus der Geschichte . Die in beinahe katechetischer Form vorgenommene Entschuldung Dantons endet konsequent in einer Art Notwehrlegitimation . Ein universaler Befehlsnotstand bestimmt das Verhältnis des Menschen gegenüber dem ehernen Gesetz« der Geschichte. Der Mensch ist das blinde Werkzeug einer historischen Notwendigkeit, die ihm in Form von Handlungszwängen fremd und fordernd entgegentritt. Mit seiner negativen Reflexion über das »Muß« der Geschichte formuliert Danton deutlich die Antithese zu der von St. Just vertretenen idealistischen Geschichtsphilosophie, die den historischen Prozeß als eine fortschreitende Realisierung der Vernunft begreift. Diese Antithese erschöpft sich indessen in einer einfachen Negation, die die Geschichte selbst einer zunehmend nihilistischen Verzweiflung preisgibt. Die nihilistische Dimension gewinnt im Verlauf des Dramas zunehmend an Bedeutung; sie bleibt jedoch bis zum Schluß auf den negativen historischen Diskurs bezogen. Das Nichts artikuliert noch immer das Bedürfnis nach einer Verdrängung der eigenen Geschichte (vgl. III,7). Die Hoffnung auf eine vollständige Vernichtung des Ich wird durch eine materialistische Interpretation des organischen Todes widerlegt. Die Ruhe im Tod als
dem Übergang ins Nichts bleibt daher ein unerfüllbarer Wunsch: Da ist keine Hoffnung im Tod, er ist nur eine einfachere, das Leben eine verwickeltere, organisiertere Fäulnis, das ist der ganze Unterschied!« ) Auch die »Phrasen für die Nachwelt« (72) und die verbliebenen Masken der politischen Existenz geben den Todeskandidaten keinerlei Halt. Selbst die Religion als Versuch einer transzendenten Auflösung der irdischen Verzweiflung an der Geschichte versagt 2 f.). Die Fragen der Dantonisten nach dem Sinn ihres Opfers, nach dem Zusammenhang ihrer individuellen Existenz mit dem historischen Prozeß der Revolution, bleiben ohne Antwort. Die Welt ist das Chaos. Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott« . Der
Nihilismus ist der konsequente Schlußstein der historischen Reflexion Dantons, der jede Sinngebung für die Geschichte und
die gesellschaftliche Existenz der Menschen versagt bleibt. Die Vermittlung von subjektivem Anspruch und objektivem Sinn scheitert, sowohl im Hinblick auf die Revolution wie auf die Geschichte überhaupt. Der historische Diskurs endet radikal negativ. Dem Tod, der eine letzte Konvergenz von historischem Prozeß und individueller Existenz erzwingt, fehlt jeder einsehbare objektive Sinn. Die Geschichtsreflexion bleibt nicht nur auf der Ebene des avancierten Figurenbewußtseins Danton) negativ; das St ck selbst verweigert jede Form ästhetischer Versöhnung. Das Drama verharrt in der Negation des idealistischen Geschichtskonzepts, das die soziale Identität des Bildungsbürgertums im . Jahrhundert noch entschieden
geprägt hat. Geschichte erscheint in Dantons Tod als eine transzendentale, auf die Bedingungen politischen Handelns
gerichtete Reflexionskategorie. Ein neues, etwa materialistisch fundiertes Geschichtskonzept kommt nicht in Sicht. Das Drama negiert das bildungsbürgerliche Geschichtskonzept auch durch seine Form. Als Geschichtsdrama ist es negativ auf die zeitgenössisch vorherrschenden Muster der Gattung bezogen. Die große Mehrzahl der historischen Dramen zwischen Restauration und Märzrevolution sucht unermüdlich die Unvernunft der geschichtlichen Empirie zu überlisten, indem sie - durchaus in der Absicht, die politische Gegenwart vernünftig zu reformieren - im historischen Stoff den Gang der Weltvernunft zu ihrem Endziel« proklamiert. Dantons Tod ist in erster Linie ein Drama der politischen Existenz. Im
historischen Diskurs ergänzt Büchner die politische Ideologiekritik um eine Kritik der bürgerlichidealistischen
Geschichtsauffassung, die das politische Handeln der bürgerlichen Revolutionäre im Horizont einer temporalisierten Vernunft und Fortschrittskonzeption zu rechtfertigen versucht. An dem Scheitern der Vermittlung von Geschichte und Subjektivität wird unnachgiebig festgehalten. Vor allem widersteht Büchner der Versuchung, der beklagten Negativität des historischen Denkens eine philosophische Krone aufzusetzen. Die philosophische Reflexion in Dantons Tod mündet gerade nicht in ein System mit pessimistischer oder gar nihilistischer Tendenz. Seine fordernde Aktualität behält Büchners Werk gerade wegen seiner konsequenten Verweigerung von Geltungsansprüchen eines abstrakten philosophischen Allgemeinen, gegen das radikal die Rechte einer Subjektivität jenseits der bürgerlichen Konzeption des großen historischen Individuums ins Feld geführt werden. Neben dem politischen Realismus hat wohl die für Büchner charakteristische uneingeschränkte Verteidigung der Lebenswelt gegenüber allen abstrakt formulierten Imperativen des politischsozialen und des kulturellen Systems am wenigsten ihre Bedeutung eingebüßt. Im übrigen hält das im Mikrokosmos von Dantons politischer Existenz entwickelte negative Geschichtsverständnis bereits Momente der modernen Erfahrung einer Auflösung von Geschichte< fest; die Intentionalität handelnder Subjekte ist für die moderne Geschichtsreflexion längst nicht mehr unproblematisch mit dem Funktionszusammenhang historischer Prozesse zu vermitteln.
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