EPISTULAE MORALES AD LUCILIUM
(lat.; Moralische Briefe an LuciIius).
124 Sendschreiben zur praktischen Ethik von SENECA, entstanden von 62 an. - Die
in zwanzig Büchern, aber unvollständig überlieferten Briefe sind an den jungen Freund
Lucilius gerichtete, für die Publikation bestimmte Abhandlungen in Epistelform.
Man hat das Werk, das ein Werk des Alters und der Zurückgezogenheit ist, zu Recht als 'Anleitung zur Erlangung der Glückseligkeit'
oder als einen 'zwanglos dargestellten Kursus der Moral' bezeichnet.
Die ersten drei Bücher bilden innerhalb des Corpus eine straffer
gegliederte Einheit, im Aufbau etwa einem
»Dialog« vergleichbar. Buch 1 gibt allgemeine Lebensregeln, Buch
2 preist die Philosophie als einzigen Weg zur Glückseligkeit,
Buch 3 spricht von den Hindernissen auf diesem Weg und deren Beseitigung. Jeden
der Briefe ziert der Satz eines Weisen, und zwar ex omni domo, aus allen (nichtstoischen) Lagern der Philosophie. Seneca scheint diese drei Bücher noch selbst und geschlossen publiziert
zu haben, während die folgenden postum und einzeln veröffentlicht worden sein dürften.
Da in ihnen dem jeweiligen Anlaß, der das Nachdenken auslöste, mehr Gewicht zukommt,
sind sie thematisch lockerer gefügt. Bestimmend sind die bei Seneca stets wiederkehrenden Themen. Freundschaft
und Selbstgenügsamkeit, Begierden und Tugenden, Freitod und Unerschütterlichkeit,
Maß und Übermaß, Selbsterkenntnis und weise Nutzung der Zeit, über den Gott und
das Tier im Menschen ('In jedem tugendhaften Mann wohnt ein Gott, doch welcher,
ist ungewiss' 41 ; 'Den Menschen freut es, den
Mitmenschen zu verderben', 103,2). Doch auch speziellere Probleme finden Beachtung:
die Kunst des Lesens (2), der philosophische Unterricht (38), die Furcht (13) und
die Trauer (63), die Sklavenbehandlung (47), Krankheit (78) und Dankbarkeit (81),
selbst naturwissenschaftliche Fragen (65). []
Auch dort, wo die Stoa auf ein Problem
schon die Antwort bereit hat, begnügt sich Seneca nicht mit dem bloßen Wiederholen
von Lehrsätzen. Alles andere als ein Systematiker, skeptisch gegen jedes Dogma,
auch das geschätzteste, stellt er gerade hier, stets dicht am konkreten Problem
bleibend, stets von neuem und stets von einer anderen Seite her den großen Zusammenhang
der Dinge aufreißend, stets aus dem Hier und Jetzt das Bessere gegen das weniger
Gute abwägend, die nachdrücklich geforderte Freiheit der Entscheidung unter Beweis.
In vorher eigentlich kaum diskutierten Fragen, wie der der Sklavenbehandlung und
der Unmenschlichkeit der Zirkusspiele,
kommt er so nicht nur zu sehr selbständigen,
überraschend weitsichtigen Antworten, sondern auch zum freien und
für die Antike einzig dastehenden humanen
Bekenntnis. (nach: Kindlers neues Literaturlexikon)