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Frank Wedekind, eigentlich Benjamin Franklin Wedekind, wurde 1864 in Hannover geboren und verstarb 1918 in München. Wedekind experimentierte mit unkonventionellen Themen und bühnentechnischen Mitteln und gilt daher nicht nur als Wegbereiter des Expressionismus in Deutschland, sondern auch des Absurden Theaters. Wedekind studierte in München und Zürich, brach sein Studium jedoch ab und war zeitweise in der Werbebranche und als Journalist tätig. In den späten achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts stand er einige Zeit unter dem Einfluß des deutschen Dramatikers Gerhart Hauptmann. Später wandte er sich von dem von Hauptmann vertretenen Naturalismus ab und bevorzugte neue dramatische Formen, wie sie der schwedische Dramatiker August Strindberg und Georg Büchner schufen. Wedekind lebte ab 1895 als freier Schriftsteller abwechselnd in Berlin, München, Zürich, Dresden und Leipzig und hielt sich öfter in London und Paris auf. Um die Jahrhundertwende trat er als Schauspieler in seinen eigenen Stücken auf und stand als Lautensänger und Rezitator auf Kabarettbühnen, u. a. im Münchner Kabarett Die Elf Scharfrichter, wo er auch eigene Balladen und Chansons vortrug. Daneben war er Mitarbeiter der satirischen Zeitschrift Simplicissimus. Nach seiner Heirat 1908 ließ er sich dauerhaft in München nieder.
Mit grotesk anmutenden Darstellungen wollte Wedekind das Publikum schockieren und provozieren. Die Aufführung vieler seiner gegen das erstarrte Bürgertum gerichteten Werke war zeitweise verboten, da sie als unsittlich galten. Noch heute werden die Stücke des "Bürgerschrecks" Wedekind häufig gespielt.
Frühlings Erwachen - damit ist die aufbrechende Sexualität unter Jugendlichen gemeint. Sie leiden unter der Dressur der Schule im Obrigkeitsstaat Wilhelms II., sie revoltieren gegen die Prüderie im Elternhaus, sie quälen sich mit den immer gleichen Fragen und Nöten herum, verheddern sich, abgewiesen von der Elterngeneration, in Schuldkomplexe und Verdrängungen. Die 14jährige Wendla Bergmann will endlich von ihrer Mutter aufgeklärt werden: »Du kannst doch im Ernst nicht verlangen, daß ich bei meinen 14 Jahren noch an den Storch glaube.« Geniert weicht Frau Bergmann aus, wimmelt die Fragen der Tochter ab. Auch die Gymnasiasten Melchior Gabor und Moritz Stiefel versuchen den Tabus um Zeugung und Geburt auf die Spur zu kommen. Melchior, der bei seiner liberalen Mutter einigen Rückhalt hat, verfaßt für seinen Freund eine Aufklärungsschrift »Der Beischlaf«. Moritz, verträumt und ängstlich, durchdrungen von selbstzerstörerischer Besessenheit, wird noch mehr verunsichert. Er versagt in der Schule, überläßt sich seinen Obsessionen, träumt davon, in Amerika unterzutauchen vor dem Druck der Umwelt, jagt sich schließlich eine Kugel durch den Kopf. Auch die lebensfrohe Ilse, die von den Bürgern zwar als verworfenes Geschöpf gebrandmarkt ist, aber in ihrer Welt der Kneipen und Künstler ihre Lebens- und Liebeslust frei ausleben kann, vermag Moritz nicht aus seinen Angsten zu retten.
Melchior und Wendla entdecken beim heimlichen Stelldichein auf dem Heuboden die Liebe. Wendla erwartet ein Kind. Um den Skandal zu vertuschen, redet die Mutter dem Mädchen ein, es habe die »Bleichsucht«. Sie stirbt durch eine verpfuschte Abtreibung, die ihre Mutter aus Furcht vor der Schande arrangiert hat. Da Melchior inzwischen als der Verfasser der Schrift entdeckt wurde, wird er von seinen Eltern in eine Besserungsanstalt eingewiesen, der Vater sieht ihn als »im innersten Kern seines Wesens angefault«. Die Lehrerkonferenz - ein Bestiarium aus grotesken Figuren, versehen mit hämischen Namen wie Sonnenstich, Hungergurt, Affenschmalz - hat nach dem Schülerselbstmord nur die eine Sorge, ob die Lehrer durch »ein hohes Kultusministerium für das hereingebrochene Unglück« zur Verantwortung gezogen werden. Sie machen Melchior zum Sündenbock. - FILM - Melchior flüchtet aus der Anstalt und versteckt sich nachts auf dem Friedhof zwischen den frischen Gräbern von Wendla und Moritz. In gespenstischer Vision erscheint ihm sein toter Freund. Er trägt den Kopf unterm Arm und will Melchior bewegen, ihm zu folgen. Da tritt ein vermummter Herr in elegantem Abendanzug und Zylinder dazwischen - die Verkörperung des Lebens - und nimmt den Jungen mit sich in die Welt der Lebenden zurück.
Mit »Frühlings Erwachen« hat Wedekind den Dramentypus der Kindertragödie begründet, ohne dafür ein Vorbild zu haben. Nur mit seiner Kritik am zeitgenössischen Erziehungswesen nahm er ein Thema der Sturm-und-Drang-Dramatik - man denke an Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-92) Drama »Der Hofmeister« (1774) - wieder auf. Es ist möglich, daß Wedekind den Impuls zur Abfassung seines Dramas von Arno Holz und Johannes Schlafs Erzählung »Der erste Schultag«, die 1889 in der Sammlung »Papa Hamlet« erschien, empfangen hat; als Quellen im engeren Sinne kommen jedoch eher die folgenden Texte in Frage:
Die Paktszene in Goethes »Faust« I ist in vieler Hinsicht Vorbild für die letzte Szene von »Frühlings Erwachen« (III,7). Wie Mephistopheles verspricht, Faust ins Leben zu führen, so verspricht auch der vermummte Herr dies Melchior gegenüber (67,26 f.; 67,34f.; 68,7 f.). Wie Mephisto trägt auch der vermummte Herr weltmännische Kleidung.
Georg Büchners (1813-37) Dramenfragment »Woyzeck« (posthum 1879) mit seiner Bilderreihung und seiner Sozialkritik hat starken Einfluß auf »Frühlings Erwachen« ausgeübt. Eine spezifische strukturelle Parallele stellt der Einschub eines Märchens dar, das bei Büchner einen negativen, bei Wedekind einen positiven Ausgang hat, das aber in beiden Fällen zum Mord (Maries) bzw. Selbstmord (Moritz) in Beziehung steht.
Die Gestalt der Ilse geht auf die an Lokalsagen angelehnte Personifizierung des Flüßchens Ilse in Heinrich Heines (1797-1856) »Reisebild« »Die Harzreise« (1824) zurück.
Mit Szene II,3 (Hänschen Rilow >ermordet< Gemäldereproduktionen) knüpft Wedekind an die Szene V,2 in Shakespeares »Othello« an, in der Othello seine fälschlich für untreu gehaltene Frau Desdemona ersticht. Wedekind hat eine Reihe von Zeilen wörtlich von Shakespeare übernommen.
Frühlings Erwachen endet bei Frank Wedekind mit Jugendstil-Symbolik: auf einem Friedhof unterm Novembermond. Auf dem Grabstein der Wendla Bergmann, die nur vierzehn Jahre alt geworden ist, steht die Lüge »gestorben an der Bleichsucht« sie ist aber gestorben an den Folgen einer Abtreibung, die ihre Mutter aus Furcht vor der Schande arrangiert hat. Wendlas Geliebter ist der vierzehn Jahre alte Schüler Melchior Gabor, er ist aus der Korrektionsanstalt geflohen und wird an ihrem Grab von seinem Mitschüler Moritz Stiefel, der seinen Kopf unterm Arm trägt, angesprochen: Moritz hat sich erschossen, weil er nicht versetzt worden ist und diese Schande seinen Eltern nicht zumuten will. Zwei Tote in Frühlings Erwachen: Wendla ist das Opfer einer falschen Erziehung, sie stirbt als werdende Mutter und weiß nicht einmal, auf welche Weise sie Mutter geworden ist, sie meint, ohne Heirat könne man gar kein Kind bekommen, und Moritz ist das Opfer einer falschen Erziehung, er gibt sich den Tod, bevor er noch die körperliche Liebe erlebt hat, einer seiner letzten Sätze ist: »Es hat etwas Beschämendes, Mensch gewesen zu sein, ohne das Menschlichste kennengelernt zu haben.«
Unterm Novembermond auf dem Kirchhof, zwischen zwei Toten, zwei Opfern der Furcht vor der Schande - bei diesem erstickenden Ende bleibt es nicht: es erscheint der »Vermummte Herr« und wie der Selbstmörder Moritz Stiefel den unglücklichen Melchior zum Sterben verführen will, so will der »Vermummte Herr« Melchior zum Leben verführen, und es gelingt ihm. Er ist das Leben selber mit all seinen abenteuerlichen Möglichkeiten, er sagt zu Melchior: »Du lernst mich nicht kennen, ohne dich mir anzuvertrauen«, und er zieht Melchior von den Gräbern fort: wenigstens für Melchior erwacht der Lebensfrühling dann doch noch, wenn auch zwischen Toten, in einer Novembernacht.
»Den Vermummten Herrn« hat Frank Wedekind bei der Uraufführung selbst gespielt: der Verführer zum Leben ist seine Rolle, nicht nur auf der Bühne in Frühlings Erwachen, auch in der Realität und in der Literatur. Und was übel ist am Leben, das will er ändern: durch Frühlings Erwachen eine falsche Sexualmoral. Er nennt sein Stück eine »Kindertragödie« - die Tragödie seiner vierzehnjährigen Schülerinnen und Schüler ist, daß sie von den Erwachsenen wie Kinder behandelt werden, als sie keine Kinder mehr sind. Frau Bergmann hat es nicht gewagt, ihrer Tochter Wendla zu erklären, wie Kinder entstehen, sie ist beim Storch geblieben, und so hat Wendla gemeint, sie sei krank, während sie doch schwanger war. Und Melchior Gabor, der seinem schamhaften Mitschüler Moritz Stiefel den Beischlaf und die Zeugung schriftlich erklärt hat, wird vom Lehrerkollegium für schuldig am Selbstmord seines Freundes gehalten, vom Gymnasium relegiert und von seinen Eltern in eine Korrektionsanstalt gesteckt. Wer am Ende von Frühlings Erwachen auf dem Kirchhof ist, tot wie Wendla und Moritz oder mit der Absicht zu sterben wie Melchior, der ist unschuldig. Frank Wedekind klagt die Moral der Eltern an: sie mordet die Kinder. Die Richter sind die Verbrecher - dies war, um es mit einem damals modernen Schlagwort Friedrich Nietzsches zu sagen, eine »Umwertung aller Werte«.
Den ersten Entwurf zu Frühlings Erwachen hatte Frank Wedekind in Zürich niedergeschrieben. Frank Wedekinds Witwe Tilly erzählt in ihren Lebenserinnerungen 'Lulu. Die Rolle meines Lebens' (1969), daß Frank und sie durch einen Zufall 1917 in dieselbe Wohnung zogen und daß Frank damals zu einem Bekannten sagte: »Ich wohne wieder in derselben Wohnung, in der ich >Frühlings Erwachen< geschrieben habe. Der Kreis hat sich geschlossen. Ich werde noch in diesem Jahr sterben. « Er starb nur wenig später, als er geahnt hatte. Frühlings Erwachen schrieb er 1890 in München als er 26 Jahre alt war. Es war sein erstes Buch, er ließ es bei dem Verleger Jean Groß in Zürich auf eigene Kosten drucken. Es erschien im Spätherbst 1891 mit einem Titelblatt, das Franz Stuck nach Wedekinds Angaben gezeichnet hatte: keine tragischen Motive, sondern eine Frühlingswiese mit Blumen, Bäumen und Schwalben - symbolische Verführung zum Leben, schon auf dem Jugendstil-Einband.
Frühlings Erwachen war Wedekinds erstes gedrucktes Buch; sein erstes Stück war das Lustspiel Die junge Welt, in dem er seinen Züricher Bekannten Gerhart Hauptmann und den Naturalismus verspottete. Hauptmann hatte die unglücklichen Familienverhältnisse Wedekinds für sein Drama Das Friedensfest, eine »Familienkatastrophe in 3 Akten« rücksichtslos ausgebeutet, und Wedekind karikierte in Die junge Welt den fanatischen Menschen- und Alltagsbeobachter Hauptmann durch den engstirnigen Dichter Franz Ludwig Meier, der mit einem Notizbuch durch die Welt geht: »Wenn sich der Naturalismus überlebt hat, dann werden seine Vertreter ihr Brot als Geheimpolizisten finden.« Hauptmann hatte von Georg Büchner, »Es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich sein«, das Pathos des Mitleids gelernt und Wedekind lernte von Büchner die Verknappung der Situationen, die epische Reihung von Kurzszenen und die groteske Übersteigerung der Satire.
Von den Dramatikern des Sturm und Drang, von Lenz, Grabbe und Büchner kommt Frank Wedekind, und ohne ihn sind Carl Sternheim und das expressionistische Theater, sind der junge Bert Brecht und das Gesamtwerk von Friedrich Dürrenmatt nicht zu denken. Der Wiener Gesellschaftskritiker Karl Kraus hatte am 29. Mai 1905 die erste Aufführung von Wedekinds Büchse der Pandora veranstaltet und in seiner Einführungsrede Wedekind gerühmt, bei dem »Weltanschauung und Theateranschauung« absolut kongruent seinen:
»Er ist der erste deutsche Dramatiker, der wieder dem Gedanken den langentbehrten Zutritt auf die Bühne verschafft hat. Alle Natürlichkeitsschrullen sind wie weggeblasen. Was über und unter den Menschen liegt, ist wichtiger, als welchen Dialekt sie sprechen. Sie halten sogar wieder - man wagt es kaum für sich auszusprechen - Monologe. Auch wenn sie miteinander auf der Szene stehen . . . Man kommt dahinter, daß es eine höhere Natürlichkeit gibt als die der kleinen Realität, mit deren Vorführung uns die deutsche Literatur durch zwei Jahrzehnte im Schweiße ihres Angesichtes dürftige Identitätsbeweise geliefert hat.«
Fünfzehn Jahre später berauscht sich Bernhard Diebold, der kritische Wortführer des expressionistischen Dramas, an einem anderen Aspekt von Frühlings Erwachen im Stil der frühen zwanziger Jahre:
»Ein wundervoller lyrischer Duft weht aus der Sprache Wendlas und der Knaben. Die bühnengewohnten Themen wurden in halblaut stammelnder Ahnung zu keuschem Geständnis, wurden ein feines Singen des wachsenden Fleisches.«
Mit dem Fleisch freilich, mochte es noch so fein singen, hatte die Zensur ihre Schwierigkeiten. Noch Diebold, 1921, hatte keine unbeschnittene Aufführung von Frühlings Erwachen gesehen. Wedekind war 26 Jahre alt, als er das Stück schrieb; er war 42 Jahre alt, als es endlich zum erstenmal in den Berliner Kammerspielen am 20. November 1906 aufgeführt wurde. Regisseur war Max Reinhardt.
Nach der Berliner Uraufführung schrieb der Kritiker Julius Bab:
»Hart steht, Szene auf Szene, die Welt der blödsinnig gewordenen, verwesunggrinsenden, mörderischen Konvention wider das keimstarke, erlösungschreiende junge Leben. Und unter den Jungen nun das kampfvolle Widereinander, das dämonische Aufeinanderzu der Geschlechter, und unter den Knaben wiederum in tief erhellendem Wechsellicht der sentimentale Schwärmer, der zugrunde geht, und der energische Realist, der überwindet. All dies stürmt, gleich einer Kette von Schlachten vorüber in Dialogen von wilder Ergriffenheit - Dialoge, die oft genug unbekümmert um alle: Naturtreue von Hauptsache zu Hauptsache hinüberschnellen und so das Wesentliche in epigrammatischer Wucht mit wütender Deutlichkeit emporschleudern. Eine selige Maßlosigkeit, eine wild verschwendende Unreife steckt in diesem Stück.«
Der Kritiker Alfred Kerr rühmte:
»Wundervoll, wie in die Mannesregungen dieser Buben das Geistige verflochten ist; Fragen, die kein Achtziger mit besserer Klugheit stellen kann. . . Die Selbstmordnähe des Geschlechtsanbruchs dämmert auf . . . Da unten sind Hamletinos und Faustulusse. Ringer, die dem Leben erliegen, noch vor dem Leben. Ein Genius hielt sie fest.«
Der Kritiker Siegfried Jacobsohn resümierte:
»Es gibt gar keine Technik, die der Darstellung jener Zeit des Vibrierens und Träumens, des Aufschreckens und Erzitterns, des Knospens und Aufspringens besser taugte als diese. Ein allgemeingültiges tragisches Weltbild hat seinen spezifischen dramatischen Ausdruck gefunden. Das ist die Größe von >Frühlings Erwachen<.«
Max Reinhardt ließ von nun an Wedekind seine Stücke mit dem Ensemble des Deutschen Theaters selbst inszenieren, es gab Berliner Gastspiele mit Frank und Tilly Wedekind, es gab ganze Zyklen von Wedekind-Aufführungen am Deutschen Theater in den Jahren 1911, 1914 und 1916. Nach der Berliner Uraufführung trat Frühlings Erwachen einen Siegeszug durch ganz Deutschland an. Es wurde 1929 vom Aufklärungsfilm-Spezialisten Richard Oswald zu einem Stummfilm verarbeitet, es wurde noch zu Lebzeiten Wedekinds in Japan und 1923 in New York gespielt, dort unter dem Vorsitz der Medizinischen Gesellschaft, um der Zensur zu entgehen, doch die Polizei ließ schließlich das Theatergebäude unter dem Vorwand räumen, es sei feuergefährlich, und dies war, in übertragenem Sinne, gar nicht so unrichtig. Ein so liberaler Kritiker wie Siegfried Jacobsohn lobte 1906 die Zensur, weil sie »drei Szenen herausstrich, die sonst hoffentlich Reinhardt selber gestrichen hätte«; er warf Wedekind vor, er zeige, »wie schon in den Kindern auch die Abarten der Geschlechtsliebe keimen und wuchern: Sadismus und Masochismus; Masturbation; Päderastie«.
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