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FRANZ KAFKA
EIN LANDARZT
Erzählung (1917)
1919 in die gleichnamige Sammlung der kleineren Erzählungen aufgenommen
Ein älterer, erfahrener Landarzt, den die Nachtglocke zu einer eiligen Fahrt ans Bett eines Schwerkranken seines Bezirkes ruft, benötigt dringend ein neues Wagenpferd, da sein eigenes durch Überanstrengung während des langen, eisigen Winters, gerade verendet ist. Er schickt sein Dienstmädchen Rosa ins Dorf, um ein Pferd auszuleihen. Als sie unverrichteter Dinge zurückkehrt, bemerken beide im Dunkel des schon seit Jahren unbenutzten Schweinestalles einen Pferdeknecht, der anbietet, zwei Pferde, 'mächtige, flankenstarke Tiere', die ebenso überraschend erscheinen, anzuspannen.
Der Landarzt, erfreut über 'so ein schönes Gespann', will schon abfahren, als er mitansehen muß, wie der Knecht sich dem Mädchen mit roher Gewalt nähert und der sich verzweifelt Wehrenden - offenbar als Kaufpreis für die Fahrt - ins Haus nachläuft. Aber schon wird der Wagen 'fortgerissen, wie Holz in die Strömung' und erreicht nach einem Augenblick das Haus des Patienten, wo sich eine verwirrte Familie um das Bett eines Jungen drängt, der sich 'mager, ohne Fieber, nicht kalt, nicht warm, mit leeren Augen, ohne Hemd' an den Hals des Arztes hängt und ihm zuflüstert: 'Doktor, laß mich sterben.'
Die Untersuchung ergibt, daß der Junge zwar 'ein wenig schlecht durchblutet (), ansons- ten aber gesund' ist und 'am besten mit einem Stoß aus dem Bett zu treiben.' Erst auf den zweiten Blick findet der Landarzt, daß der Junge wirklich krank ist. In seiner rechten Seite, in der Hüftgegend hat sich eine handtellergroße Wunde aufgetan: 'Rosa, in vielen Schattierun- gen, dunkel in der Tiefe, zartkörnig, mit ungleichmäßig sich aufsammelndem Blut, offen wie ein Bergwerk obertags.' Bei näherer Betrachtung zeigen sich darin Würmer 'rosig aus eigen- em und außerdem blutbespritzt. Armer junge, dir ist nicht zu helfen ; an dieser Blume in deiner Seite gehst du zugrunde..'
Angesichts dieser Wunde, die nicht mit ärztlichen Mitteln geheilt werden kann, wird der Arzt selbst Patient und wird - von der Familie und den Dorfälttesten entkleidet - zu dem Kranken ins Bett gelegt, während ein Schulchor singt: 'Entkleidet ihn, dann wird er heilen/ und heilt er nicht, so tötet ihn!/ 'Sist nur ein Arzt!' Auch der kranke Junge erkennt, daß der Arzt an der selben Wunde leidet: 'Weißt du, mein Vertrauen zu dir ist sehr gering. Statt zu helfen, engst du mir mein Sterbebett ein. Am liebsten kratzte ich dir die Augen aus.'
Der Landarzt, dem nun bewußt wird, daß er sich anstatt der eigenen Rettung lieber um die von Rosa kümmern sollte, springt auf, rafft schnell Kleider, Pelz und Tasche zusammen und besteigt die Kutsche. Die beiden Pferde aber, die auf dem Hinweg so schnell waren, ziehen jetzt 'wie alte Männer' durch den Schnee, während der 'neue, aber irrtümliche Gesang der Kinder' lange hinter ihm klingt: 'Freuet euch, ihr Patienten,/ der Arzt ist euch ins Bett gelegt!' Ohne Hoffnung, nach Hause zu kommen, 'nackt, dem Froste dieses unglücklichen Zeitalters ausgesetzt, mit irdischem Wagen, unirdischen Pferden' aus allen Bindungen herausgerissen, bleibt ihm nichts als das Gefühl des Betrogenseins: 'Betrogen! Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt - es ist niemals gutzumachen.'
Das Symbol der auszeichnenden, aber letalen Wunde ('Mit einer schönen Wunde kam ich zur Welt; das war meine ganze Ausstattung') bildet das Zentrum der Erzählung; es bezeichnet die allgemeine Schuldhaftigkeit, die auch den Helden in 'Der Prozeß' und 'Das Schloß' anhaftet.
Vor dem Hintergrund von Kafkas wissenschaftskritischer Beschäftigung mit Schulmedizin und Naturheilkunde kann die Erzählung wörtlich genommen werden: Kranksein führt für Kafka zu einer Gefahr für die Menschenwürde. 'Ein Landarzt' enthält alle Punkte der Medizinkritik, die in Kafkas autobiographischen Schriften zu finden sind:
1. die zufällige Veranlagung des Arztes entscheidet über das Wohl des Patienten
2. Fehldiagnosen sind wegen Routinearbeit, Spezialistentums und Oberflächlichkeit des eiligen Geschäftemachers wahrscheinlich
3. der Arzt klärt seinen Patienten nicht auf und behält sein Wissen über dessen Zustand für
sich
4. die Schulmedizin behandelt nur Folgen; ihr fehlt die Ganzheitlichkeit
Als der Landarzt mit seinen schulmedizinischen Kenntnissen nicht mehr weiterkommt, schlägt sein Hausbesuch in eine rituelle Heilungzeremonie magischer Medizin um, die von Praktiken von Schamanen und Medizinmännern inspiriert wurden, die Anfang dieses Jahrhundert von der noch jungen Ethnologie erforscht wurden. Die ganze Dorfgemeinschaft muß am Ritual teilnehmen. Durch das Entkleiden wird der Arzt seiner zivilatorischen Hülle entledigt und damit aus seiner Funktion als Amtsarzt herausgerissen und in den nackten Urzustand des Schamanen zurückversetzt.
Die persönliche Gegenwart, die 'Heilung von Mensch zu Mensch' und nicht das angeeignete Wissen soll Erfolg versprechen, doch als die beiden allein im Bett gelassen werden, entwickelt sich ein Dialog, durch den der schamanistische Zauber sofort verschwindet und der Landarzt in seine alte Rolle wieder zurückfällt.
Er flieht nackt in seiner Kutsche vor seiner eigenen Unvollkommenheit, daher ist ihm auch eine Rückkehr in das herbeigewünschte Zuhause, in die unveränderte berufliche und private Identität nicht mehr möglich. Im Gegensatz zum blitzschnellen Hinweg erfolgt nun die Rückfahrt wie eine asymptotische Annäherung im Unendlichen.
Der Landarzt erfährt nun die Machtlosigkeit des Menschen, auch in der Zeit der wissenschaftlichen Zivilisation. In dieser Hinsicht kann man 'Ein Landarzt' auch als zeitkritisch gegenüber der Fortschrittsideologie verstehen.
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