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(EINE SUBGESCHICHTE DER LITERATUR)
Die Schweizer Presseagentur verlautete am 2. Mai 2001:
Wie die Züricher Stadtregierung bekannt gab, wird eine bisher unbenannte Nebengasse in der Züricher Altstadt nach dem Schweizer Schriftsteller Friedrich Glauser benannt. Er hatte hier gelebt.
Kennen Sie Glauser? Und wenn: Wissen Sie, was diesen Glauser "gesellschaftsfähig" macht? Vermutlich kennen Sie ihn nicht. Den Schweizer Schriftsteller Friedrich Glauser kennt man nicht. Man entdeckt ihn - zufällig. Möglicherweise liegt es auch am spektakulären Leben des Autors, dass er in der Literaturwissenschaft bis heute nahezu ein Unbekannter ist. Beim Anblick seiner verkrachten Existenz vergisst man leicht den handwerklich brillanten Schriftsteller.
Glausers Lebensgeschichte ist ungewöhnlich und kurz. Es ist ein Leben eines Außenseiters, durch Disziplinierungsmaßnahmen einer Gesellschaft gezeichnet, die mit ihm, und mit der auch er nichts anfangen konnte - für die einen ein morphiumsüchtiger Exzentriker, der wegen "liederlichen und ausschweifenden Lebenswandels" entmündigt wurde, für die anderen ein Autor, der seine Leser mit berührenden und packenden Szenen in seinen Bann ziehen konnte.
Tatsächlich bietet die Biographie des Schweizer Autors genau den Stoff, aus dem Künstlerlegenden sind. Schriftsteller sind erstens: Menschen, die am Leben leiden und zweitens: sie schreiben sich den Schmerz von der Seele.
Glauser war beides in Extremform: unglücklich und ein Schriftsteller.
1896 als Sohn einer österreichischen Mutter und eines Vaters aus der Schweiz in Wien geboren, fühlt er sich schon als Kind in die Rolle des "Leidsuchers" gedrängt. Seine geliebte Mutter stirbt, als er erst vier Jahre alt ist. Es bleibt ihm ein überstrenger Vater - Dr. phil.Charles Glauser, Französischprofessor in Mannheim - der solange die Werte der Ordnung und Disziplin in seinen Sohn prügelt, bis dieser anfängt zu lügen und zu stehlen.
Was folgt, ist eine lebenslange Flucht: vor dem autoritären Vater (der mehr und mehr zur kalten Instanz wird), vor den Anforderungen der sittenstrengen Bürgerwelt, vor den Internierungen in Landeserziehungsheimen, Gefängnissen, psychiatrischen Anstalten.
Mit 13 Jahren reißt er zum ersten Mal von zuhause aus. Mit 17 Jahren folgt der erste Selbstmordversuch (insgesamt sind es fünf). Mit 19 entdeckt der Lungenkranke die künstlichen Paradiese des Morphium, später kommen Opium und Kokain dazu. Die Entmündigung auf Betreiben des Vaters folgt.
Alle Versuche, danach ein "Normalleben" zu führen, scheitern immer wieder an den Drogen.
Als der Getriebene mit 42 Jahren stirbt, hat er mehr als die Hälfte seines Lebens hinter Gittern verbracht: vorwiegend in psychiatrischen Anstalten. Ausgerechnet in den Kliniken findet Glauser jedoch die Ruhe zum Schreiben. Jemand wie er schreibt natürlich Gedichte und stark autobiographisch gefärbte Erzählungen. Doch seine Erinnerungen lassen sich schwer verkaufen. Und Glauser braucht Geld für die Drogen. Also schreibt er Kriminalromane.
"Wäre Glauser entdeckt worden, damals", schreibt der Schriftsteller Peter Bichsel, "er gehörte zu den ganz großen Schweizer Autoren. Weil er aber nicht entdeckt worden ist, ist er nur eine Legende - der Legionär, der Kohlengrubenarbeiter, der Drogensüchtige, der Schwindsüchtige, der Arme, der Geprügelte, der Untergehende."
Der Knabe Frederic Charles Glauser scheitert im k.u.k. Elisabeth-Gymnasium, im vierten Wiener Gemeindebezirk, wird aus dem Landeserziehungsheim Glarisegg am Bodensee wegen "Aufmüpfigkeit" (Selbstmordversuch) entfernt, fliegt aus dem College de Geneve, weil er das Gedicht eines Lehrers in der "Independance Helvetique" lächerlich gemacht hat und aus der Rekrutenschule in Thun und Interlaken wegen absoluter Unfähigkeit, seinen Rang zu bekleiden.
Inzwischen herrscht Krieg außerhalb der Landesgrenzen.
Als Glauser 20 und damit volljährig ist, bricht er den Kontakt zum Elternhaus ab, zieht nach Zürich, holte die Matura nach und studiert ein Semester Chemie, dann Romanistik. Er macht Schulden und nimmt Drogen.
ERSTE BEKANNTSCHAFT MIT DEN DADA-KREISEN
In Zürich lernt er Hugo Ball, Hans Arp und Emmy Hennings kennen. Im März und April 1917 trägt Glauser auf den Dada-Soireen Gedichte vor, die jedoch leider nicht mehr erhalten sind.
DADAISMUS (1916-1918):
Am 5. Februar gründete der Poet und Philosoph Hugo Ball in einer Züricher Bar das Cabaret "Voltaire" - eine Mischung aus Nachtclub und Kunstsalon, in das junge Dichter und Künstler eingeladen wurden, ihre Werke vorzutragen, Bilder aufzuhängen oder selbst zu musizieren.
Der Name "DADA" entstand angeblich beim zufälligen Blättern durch ein deutsch-französisches Wörterbuch: "DADA", der erste verbale Ausdruck eines Kleinkindes, sollte einen Neubeginn ausdrücken, die Einfachheit darstellen und den Anfang aller Kunst symbolisieren.
Die Dadaisten hatten kein formuliertes Programm. Angeekelt von den "Schlächtereien des Weltkrieges" (Hans Arp), war es ihr Ziel, die verlogenen und scheinheiligen Werte und Ideale der bürgerlichen Gesellschaft zu enttarnen und zu zerstören. "Dada ist der Ekel vor der albernen verstandesmäßigen Erklärung der Welt", so Arp.
Ebenso sagten die Dadaisten den etablierten Kunstformen den Kampf an. Durch eine ironische Synthese von Primitivem, Banalem und moderner Technik versuchten sie die Sinnlosigkeit von Logik, Intellekt und bürgerlicher Kultur zu verdeutlichen.
Lärmmusik, Simultanvorträge, Zufallsgedichte, Photomontagen und Collagen aus Zeitungsausschnitten, Photos und Alltagsgegenständen gehörten zu ihren Ausdrucksmitteln.
( Hugo Ball, Tristan Tzara, George Grosz, Max Ernst, Kurt Schwitters, Marcel Duchamp.)
Die Dadaistin Emmy Hennings über Glauser im März 1939:
"Er war ein liebenswürdiger Junge, sehr hübsch und offenherzig. Ein junger Mann, in den Frauen sich gern verlieben. Er hatte bereits damals ein starkes und feines Formgefühl, viel Sinn für dichterische Schwingungen. Er verstand es knapp zu prägnieren, an- und ausklingen zu lassen. Was mir jedoch so gefiel an Glauser: Es lag ihm mehr daran zu leben als zu schreiben. Er nahm in Unbefangenheit und gierig das Leben auf, ohne an die literarische Verwertung zu denken. Er schrieb wie zum Spiel, zum Zeitvertreib, so nebenbei."
Mit dem Studium ist es längst nichts mehr. Frederic führt ein Künstlerleben ohne geregelte Beschäftigung. Der Vater beauftragt Advokat und Polizei mit der Beaufsichtigung und Observation des Sohnes. Dieser hängt bereits an der Nadel und gerät in die verhängnisvolle Spirale von Flucht, Sucht, Diebstahl, Haft und neuerlicher Flucht. . Mit 22 Jahren lässt der eigene Vater ihn wegen "liederlichem und ausschweifendem Lebenswandel" entmündigen. Er hatte Rezepte gefälscht. . Glauser ist 22 Jahre alt.
Nach erfolglosem Einspruch gegen die Entmündigung flieht er nach Ascona.
Rückkehr nach Genf, neuerliche Verhaftung und Einweisung in die psych. Anstalt. Dort wird er als "willenschwach" und "moralisch ungenügend" entwickelt entlassen und heuert bei der Fremdenlegion an. Er wird nach Marokko verlegt.
Nach zwei Jahren wird er wegen eines Herzleidens entlassen. Er verdingt sich als Tellerwäscher und landet als Kohlenkumpel in der Grube von Charleroi in Belgien. Er ist tief unten, im doppelten Sinn des Wortes. Leberkoliken. Spitalsaufenthalte. Morphium. Selbstmordversuch. Nachdem er im Delirium sein Zimmer in Brand steckt, wird er ins Irrenhaus von Tournai, westlich von Brüssel, eingeliefert.
Es scheint, als hätte Glauser nun genug Stoff gesammelt, um endlich ans "Gestalten" schreiten zu können. Er ist 29 Jahre alt und beginnt wieder zu schreiben. Aus dem Irrenhaus schickt er Erzählungen an Zeitschriften, deren positive Reaktionen ihm Mut machen, Hoffnung auf eine Karriere als Schriftsteller und Journalist. Wieder Entlassung. Rückfall. Morphium. Internierung. Glauser erträgt keinen Druck ohne Drogen. Erzählungen entstehen und Skizzen zu seinem vielleicht wichtigsten Buch, dem Irrenhausroman "Matto regiert".
Glauser stellt ein Entlassungsgesuch. Sein Vormund lehnt ab, er möchte erst eine "Anstrengungen" seines Mündels sehen.
Glauser verliebt sich in die Psychiatrieschwester Berthe Bendel, weswegen diese ihren Dienst quittieren muss. Er schöpft erneut Hoffnung, schreibt sich das Leben, das er versäumte, von der Seele: "Draußen", steht in einem Brief, "würde ich in kleine Beizen hocken und in Bahnhofbuffets (die sind sehr ergiebig), ich würde an politische Versammlungen gehen und schauen, schauen, schauen. Und nie das Erstaunen vergessen."
DIE STUDER_ROMANE
Er schreibt schnell, rauschhaft, vertraut auf das, was sich "in einem angesammelt hat, von dem man gar nichts weiß und das plötzlich eines Tages ausbricht."
1936 erscheint sein erster Kriminalroman "Wachmeister Studer". Glauser bricht hier mit den herkömmlichen Schablonen des Kriminalromans. Er beschreibt keine Sensationen, er beschreibt Zwischenmenschlichkeit. Die Spannung ist Anreiz, aber nicht Selbstzweck. Glauser selbst formulierte die in diesem Sinne nur scheinbar ketzerische Frage: "Wie aber, wenn es uns gelingen könnte, die Spannung des Buches so zu gestalten, dass es dem Leser fast gleichgültig ist, wer der Täter ist?" Die programmatische Frage beantwortete er in einem Brief gleich selbst: "Wir sind da zu erzählen. Wir sind nicht dazu da, Rätsel zu erklären. Die Lösung ist immer irrelevant."
Sein Wachmeister Studer von der Berner Kantonspolizei ist absichtlich nicht konzipiert im Range eines Sherlock Holmes, der seine Fälle schnell und unbeteiligt löst wie ein Kreuzworträtsel. Studer ist ein poetischer Fahnder, der sich Zeit nimmt für die kleinen "Sächli, die den Fall erhellen". Der brummige Wachmeister sucht keine Täter, er sucht nach Motiven. Schließlich will er verstehen, nicht verurteilen. Eine dubiose Bankaffaire knickte einst seine Karriere. Seitdem weiß Studer: Auf Gesetz und Ordnung ist kein Verlass und handelt nach Gewissen, nicht nach Gesetz. Wachtmeister Studer bringt zwar Ordnung in die Verhältnisse, doch heißt dies nicht, dass er die Täter um jeden Preis der Justiz ausliefert. Er hat Verständnis für die Gestrauchelten, die "armen Hunde". Mit Jakob Studer schuf Friedrich Glauser eine versöhnliche Vaterfigur, den Gegenentwurf zum übermächtigen, strengen Vater Friedrich Glausers. (Vorbilder für Dürrenmatt, "Tatort-Krimis")
"Verbrechen sind Alltäglichkeiten und Verbrecher sind Alltagsmenschen." Wie poetisch dieser Alltag sein kann, hat Friedrich Glauser in seinen Romanen meisterhaft gezeigt.
Seine Fähigkeit, mit wenigen Worten und knappen Gesten äußerst treffend Personen und ihr Lebensumfeld zu skizzieren, sein sperriger, erdiger, dialektgefärbter Stil - gerade darin liegt ein Stück jener "Vermenschlichung" der Literatur, die er einmal gefordert hatte - weisen Glauser als großartigen, vollendeten Erzähler aus, dem ungeheuer dichte und wunderbar exakte Beobachtungen gelingen, als einen, der, wie Peter Bichsel schreibt, immer das Erzählen selbst erzählt.
Glauser selbst meint: "Es ist mir, auch wenn es mir ganz schlecht gegangen ist, immer gewesen, als hätte ich etwas zu sagen, etwas was außer mir keiner imstande wäre auf diese Art zu sagen."
Der "Wachmeister Studer-Roman" ist höchst erfolgreich, wie überhaupt in diesem Jahr 1937 die Nachfrage nach Glauser-Texten ihren Höhepunkt erreicht. Die führenden Zeitschriften in der Schweiz bestellen, nachdem Studer zum Liebling des Publikums und der Kritik geworden ist, Erzählung um Erzählung beim labilen Schriftsteller. Es folgen noch vier weitere "Studer-Romane" und der Legionsroman "Gourrama". Jedoch direkter als die Romane vermitteln die rund 150 Erzählungen das Bild eines Autors, der auf erzählerischem wie autobiographischem Feld suchte und die beiden Felder miteinander verknüpfte. Das literarische Werk ist gleichsam eine lebensgeschichtliche Inventur.
Die Kreativität, deren Glauser bedarf, "um zu schreiben, als werde einem diktiert", braucht pharmakologische Stimulierung. Er steigert die Dosis des Morphiums, das er sich mit gefälschten Rezepten besorgt, um der seit Mitte der dreißiger Jahre gestiegenen Nachfrage nach seinen Texten gerecht zu werden und wird von Panik ergriffen, dass ihm - wie schon so oft - die Polizei auf die Schliche kommen könnte. Einen Großteil seiner Erzählungen rang er sich, in phasenweise hektischer und ungeordneter Produktivität, innerhalb weniger Jahre ab.
Ende 1937 verläßt er mit seiner Lebensgefährtin Berthe Bendel seinen französischen Wohnort Collioure und reist zurück in die Schweiz.
Glauser wirkt Zeit seines Lebens rastlos und heimatlos. Die seltenen Tondokumente, die es von ihm gibt, lassen eine eigenwillige Sprache hören: einen wienerisch gefärbten Schweizer Dialekt, der bei französischen Wendungen keine Mühe kennt, so dass man sich unwillkürlich fragt: "Wo mag der aufgewachsen, wo herumgetrieben worden sein?" (Josef Halperin) Von Vaters Seite her war er bilingue, ein Talent, das er auch seinem knorrigen Wachtmeister Studer mitgibt. Diese hörbare Eigenheit,diese etwas sonderbare Aussprache verkörpert das gebrochene Verhältnis zu seiner Heimat. Glauser wunderte sich einmal, warum gerade er als Schweizer auf die Welt gekommen sei und nun "Schweizer" Romane schreibe, die gar nicht schweizerisch seien, weil alles von außen gesehen sei und er eigentlich wenig innere Beziehung habe zu den Menschen, von denen er schreibe."
Ein wesentlicher Grund seiner Heimatlosigkeit war der frühe Tod der Mutter: "Das einzige, worüber ich mich manchmal beklagen möchte, ist, dass meine Mutter gestorben ist, wie ich vier Jahre alt war". Die vermisste Mutter gerinnt zum Idealbild, das seinen Schatten gleichsam auf alle Frauen wirft. Allen Anschein nach hat der sensible, kluge Außenseiter Glauser auf Frauen durchaus großen Eindruck gemacht. Sie lindern zwar seine ungestillte Sehnsucht und das "ewige Alleinsein", jedoch keiner gelingt es, ihn von seiner Sucht oder von seinem Mutterideal wegbringen. Seinem Ideal am nächsten kommt wohl noch seine Lebensgefährtin Berthe . In ihr erkennt er einen "sicheren Punkt in meinem unsicheren Leben".
An seinem 42. Geburtstag kann er nicht mehr. Er beginnt in der Basler Klinik einen neuen Entzug. Sein Zustand ist jedoch so schlecht, dass die vorgesehene Dauerschlaftherapie nicht durchgeführt werden kann. Auf die neuartige Insulin-Kur reagiert er mit einem epileptischen Anfall, stürzt im Baderaum der Klinik mit dem Hinterkopf auf die nackten Fliesen und zieht sich einen Schädelbasisbruch zu.
Nach der Entlassung im Frühjahr 1938 Umzug nach Italien, nach Nervi bei Genua.
Glauser ist müde. Sein Körper ist ausgemergelt und schmal. Er trinkt viel, raucht unablässig.
Am 6.Dezember 1938, am Vorabend seiner Hochzeit mit Berthe Bendel bricht er bewusstlos zusammen und fällt ins Koma. Zwei Tage später ist Friedrich Glauser tot und seine Leiche wird nach Zürich überführt.
Der Züricher "Tagesanzeiger" berichtet vom Begräbnis auf dem Friedhof Manegg: "Beschämend wenige Menschen gaben Friedrich Glauser an einem kalten Dezembernachmittag das letzte Geleite."
Wachtmeister Studer hätte an dieser Stelle "Chabis" gesagt. Das ist Berndeutsch und heißt soviel wie."So ein Unsinn!"
Einige der "Studer-Romane" wurden erfolgreich verfilmt.
Der Schweizer Schriftsteller Robert Walser 1939: "Nicht wahr, das ist wieder ein Erfolg im Kino, der Wachtmeister Studer von Glauser, der ihn leider nicht mehr mit hat erleben wollen weil er vielleicht an keinen mehr geglaubt hat. So geht `s oft im Leben, dass solche die Helden werden, die zu bescheiden sind, um sich eine derartige Rolle zuzutrauen."
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