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Eine Novelle
Der Autor:
Gerhart Hauptmann wurde am 15.November 1862 in Obersalzbrunn geboren. Er schloß sich, nach einem gescheiterten Versuch in Rom als Bildhauer zu leben, in Berlin unter dem Einfluß H. Ibsens der "Freihen Bühne" der literarischen Avantgarde an. Seit 1891 lebte er abwechselnd in Schreiberhau (Schlesien) und in Berlin. 1904 wechselte er, nach der Heirat mit seiner 2. Frau Margarete Marschalk, seinen Wohnsitz und zog nach Agnetendorf, wo er auch am 6.6.1946 starb.
Hauptmann verhalf mit seinem frühen naturalistischen Dramen dem Naturalismus zum Durchbruch auf der deutschen Bühne.
Sein Dichtertum gründet in einer elementar sinnlichen Welterfahrung, einer Sicht des Lebens als "Urdrama". Hauptmann war auch offen für das Mythische, Märchen- und Traumhafte.
1912 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur überreicht.
Weiter, bekannte Werke:
"Vor Sonnenaufgang" (1889)
"Die Weber" (1892)
"Der Biberpelz" (1893)
"Florian Geyer" (1896)
"Fuhrmann Henschel" (1898)
"Rose Bernd" (1903)
"Die Ratten" (1911)
Das vorliegende Werk
Der Bahnwärter Thiel, ein sehr ruhiger, ordnungsliebender und von seinem Außeren betrachtet sehr stämmiger Mann, erleidet durch den Tod seiner Frau, Minna, die er über alles liebt, einen schweren Schicksalsschlag. Als einzige Erinnerung an seine Frau bleibt ihm sein Sohn Tobias, auf den er nun seine ganze Liebe konzentriert. Thiel glaubt aber, daß es nicht gut für den Jungen sei, wenn er ohne Mutter aufwachse. So entschließt sich der Bahnwärter Lene, eine dicke, egozentrische und herrschsüchtige Frau, zu heiraten. Es ist keinesfalls eine Liebesheirat zwischen den beiden, sondern nur ein Zusammenleben aus praktischen Gründen. Auch dieser Ehe entspringt ein Kind. Thiel beginnt nun immer mehr aus dem Zusammenleben mit Lene zu fliehen. An seinem Arbeitsplatz, einem einsamen Bahnwärterhäuschen, weit entfernt von seinem Heimatdorf, ist er mit seinen Gedanken allein. Dort denkt er viel an Minna und flüchtet sich in eine Traumwelt. Auch versucht der Bahnwärter sich viel mit Tobias zu beschäftigen, dem die nicht angebrachte Liebe seiner Pflegemutter sehr fehlt. Zwei Ereignisse beginnen nun das "geordnete" Familienleben dieser vier Personen zu verändern. Das erste ist, daß Thiel seiner Frau vorschlägt, ohne die Folgen zu erkennen, das kleine Stück Land, neben dem Bahnwärterhaus, das ihnen gehört, zu bebauen.
Erst später erkennt Thiel, daß er von nun an nicht mehr ungestört in seinem Wärterhäuschen seinen Gedanken nachgehen kann. Dann erfährt er auch noch durch Zufall, daß Lene hinter seinem Rücken Tobias schlägt und ihn beschimpft. In dieser angespannten Lage kommt nun Lene mit den beiden Kindern zum Wärterhäuschen, um dort Kartoffel anzubauen. Während die Frau auf dem Acker schuftet, passiert das Unglück. Tobias der sich immer nahe den Gleisen aufhält, wird von einem vorbeifahrendem Zug erfaßt und bleibt schwer verletzt am Gleiskörper liegen. Der Zug hält quietschend an und die Eltern eilen zum Unfallsort. Ohne viel Zeit zu verlieren wird Tobias vorsichtig in den Zug gelegt und zum Bahnarzt gebracht. Lene begleitet ihn. Der Bahnwärter bleibt an seinem Arbeitsplatz zurück. Die Zeit des Wartens auf den Zug der Tobias bringen soll wird zur Qual. Thiel fällt in Ohnmacht und in der Zeit nach seinem Erwachen befindet er sich in einem Zustand zwischen Traum und Realität. Er ist dem Wahnsinn nahe, und sein Haß gegen Lene, der er die Schuld an diesem Unfall gibt, staut sich immer mehr auf. In seiner Raserei versucht er sogar Lene's Kind zu töten. Dann kommt der erwartete Zug. Vom letzten Wagen hebt man den toten Kinderkörper. Dann steigt Lene vom Wagen. Bei diesem Anblick bricht Thiel zusammen. Man entscheidet den Bahnwärter in sein Haus zu tragen und dann die Leiche des Kindes zu holen. Nachdem hilfreiche Männer den Bewußtlosen nach Hause gebracht haben, lassen sie die Familie allein um Tobias zu holen. Als die zurückkehren, bietet sich ihnen ein grauenhaftes Bild:
Lene und ihr Kind sind ermordet worden, Thiel ist verschwunden. Erst am nächsten Morgen findet man ihn auf den Gleisen der Unfallstelle sitzen. Nur mit Gewalt kann man ihn von dort wegbringen. Der Bahnwärter Thiel wird sofort in eine geschlossene Anstalt eingeliefert.
Nach dem Tod seiner ersten Frau, Minna, die ihm einen Sohn namens Tobias geschenkt hat, heiratet der Bahnwärter Thiel ein zweites Mal. Auch dieser Ehe, die nur praktischen Überlegungen und nicht aus Liebe geschlossen worden ist, entspringt ein Kind.
Der Bahnwärter Thiel beginnt mehr und mehr sich in eine Traumwelt zu flüchten. Durch den tödlichen Unfall seines geliebten Sohnes Tobias, wird Thiel aus seiner Lebensbahn geworfen und er bringt seine zweite Frau Lene und sein zweites Kind im Affekt um.
Diese novellistische Erzählung gibt die traurige Geschichte des Bahnwärters Thiel wieder, der nach dem tödlichen Unfall seines Sohnes aus erster Ehe, seine zweite Frau und sein zweites Kind in einem Zustand völliger geistiger Verwirrung tötet.
Die Handlung dieser Erzählung spielt sich vorwiegendermaßen an zwei Orten am Ende des 19. Jahrhunderts ab. Einerseits im Haus des Bahnwärters Thiel, das in dem kleinen Ort Schön-Schornstein an der Spree liegt, und andererseits am Arbeitsplatz des Bahnwärters (in und um), ein kleines Wärterhäuschen an der Bahnstrecke.
Erzählperspektive:
Die Novelle wird in Form einer 3. Person erzählt. Der Erzähler steht über dem Geschehen.
In Hauptmann's Novelle wird die Natur sehr oft in den Vordergrund geschoben, Stimmungsbilder mit der Natur verdeutlicht! (Naturalismus)
Personencharakterisitk:
Bahnwärter Thiel:
Der Bahnwärter Thiel ist ein Mann von "herkulischer Gestalt" (S.3), was besagt, daß er äußerst kräftig gebaut ist. Seine Haut ist sonnengebräunt und auf seine Wangen wuchert ein Bart. Das ergrauende Haar hat er zu einem Scheitel frisiert.
Sein äußeres Erscheinen paßt aber nicht zu seinem Inneren. Sein inneres Phlegma und seine Zuneigung zu seiner ersten Frau und zu seinem Sohn lassen ihn als liebenswert charakterisieren. Thiel ist sehr ordnungsliebend, und sein Leben läuft in geregelten Bahnen ab. Nach außen zeigt er wenig Gefühlsregungen, doch in seinem Inneren "brodelt" es oft wenn seine Gefühle nach außen kommen, zeigt er sie sehr deutlich und oft in überschäumenden Maße, da er alles was aufgestaut hat, nun abreagieren muß. Der Tod seiner Frau hinterläßt bei ihm eine tiefe Wunde, die er durch große Liebe zu seinem Sohn Tobias vergessen will. Als er das Leben mit seiner Frau nicht mehr aushält, flieht er in eine Traumwelt, die ihm, nachdem sie in sich zusammenbricht, zum Verhängnis wird, und ihm zum Wahnsinn treibt.
"Sie durchzuwalken war Thiel trotz seiner sehnigen Arme nicht der Mann. Das, worüber sich die Leute ereiferten, schien ihm wenig Kopfzerbrechen zu machen. Die endlosen Predigten seiner Frau ließ er gewöhnlich wortlos über sich ergehen, und wenn er einmal antwortete, so stand das schleppende Zeitmaß sowie der leise, kühle Ton seiner Rede in seltsamstem Gegensatz zu dem kreischenden Gekeif seiner Frau. Die Außenwelt schien ihm wenig anhaben zu können: es war als trüge er etwas in sich, wodurch er alles Böse, was sie ihm antat, reichlich mit Gutem aufgewogen erhielt.
Trotz seines unverwüstlichen Phlegmas hatte er doch Augenblicke, in denen er nicht mit sich spaßen ließ.
Es war dies immer anläßlich solcher Dinge, die Tobiaschen betrafen" (Seite 5/Zeilen 23-37)
2 Zitate aus jener Situation, da Thiel Lene erwischt, wie sie mit Tobias schreit:
"Einen Augenblick drohte es ihn zu überwältigen. Es war ein Krampf, der die Muskeln schwellen machte und die Finger der Hand zur Faust zusammenzog. Es ließ nach und dumpfe Mattigkeit blieb zurück." (Seite 14)
"Thiel hörte kaum, was sie sagte. Seine Blicke streiften flüchtig das heulende Tobiaschen. Einen Augenblick schien es, als müsse er gewaltsam etwas Furchtbares zurückhalten, was in ihm aufstieg; dann legte sich über die gespannte Miene plötzlich das alte Phlegma, von einem verstohlen begehrlichen aufblitzen der Augen seltsam belebt. Sekundenlang spielte sein Blick über den starken Gliedmaßen seines Weibes
Eine Kraft schien von dem Weibe auszugehen, unbezwingbar, unentrinnbar, der Thiel sich nicht gewachsen fühlte." (S.15/16)
"Den Morgen darauf fand ihn (ihn = Bahnwärter Thiel) der diensthabende Wärter zwischen den Bahngleisen und an der Stelle sitzend, wo Tobiaschen überfahren worden war. Er hielt das braune Pudelmützchen im Arm und liebkoste es ununterbrochen wie etwas, das Leben hat. Der Wärter richtete einige Fragen an ihn, bekam jedoch keine Antwort und bemerkte bald, daß er es mit einem Irrsinnigen zu tun habe."! (Seite 40)
Minna:
Minna, Thiels erste Frau, wird nun am Anfang des Buches kurz erwähnt, und als blaß, hager und kränklich aussehend beschreiben, spielt aber dann noch eine wichtige Rolle, da sie immer wieder in den Gedanken und Träumen des Bahnwärters auftaucht. Sie stirbt nach kurzer Ehe mit Thiel, während der Geburt von Tobias. Thiel hat seine Frau sehr geliebt und kann ihren frühen Tod nicht verkraften.
"Eines schönen Tages war er dann in Begleitung eines schmächtigen und kränklich aussehenden Frauenzimmers erschienen." (Seite 3)
"Eine verblichene Photographie der Verstorbenen vor sich auf dem Tisch, Gesangbuch und Bibel aufgeschlagen, las und sang er abwechselnd die ganze Nacht hindurch, und geriet hierbei in eine Ekstase, die sich zu Gesichter steigerte, in denen er die Tote leibhaftig vor sich sah." (Seite 7)
Lene
Lene, Thiels Gattin, ist ein sehr korpulentes und kräftiges "Weib" von großem Arbeitseifer. Thiel heiratet die um eine Ersatzmutter für Tobias zu haben, doch Lene ist herrschsüchtig, aufgebracht und egozentrisch. Nach der Geburt ihres Kindes ist sie wie eine Löwin, die mit allen Mitteln versucht ihre Brut zu verteidigen. Für Tobias fühlt sie nur mehr Haß und Abneigung, und auch der Bahnwärter wird von ihr gnadenlos unterdrückt.
"Wenn Thiel den Wunsch gehegt hatte, in seiner zweiten Frau eine unverwüstliche Arbeiterin, eine musterhafte Wirtschafterin zu haben, so war dieser Wunsch in überraschender Weise in Erfüllung gegangen. Drei Dinge jedoch hatte er, ohne es zu wissen, mit seiner Frau in Kauf genommen: eine harte, herrschsüchtige Gemütsart, Zanksucht und brutale Leidenschaflichkeit. Nach Verlauf eines halben Jahres war es ortsbekannt, wer in dem Häuschen des Wärters das Regiment führte. Man bedauerte den Wärter." (Seite 5)
Tobias:
Tobias, der Sohn Thiels, wird von seinem Vater sehr geliebt, da er für ihn die einzige wirkliche Erinnerung an Minna ist. Tobias konnte seine Mutter nie kennenlernen, da sie bei seiner Geburt gestorben ist. Er leidet stark darunter, daß es keine richtige Mutterfigur in seinem Leben gibt, denn Lene, die keine Gefühle für ihn zeigt, kann er nicht als Mutter annehmen. Seine einzige seelische Stütze ist sein Vater, der ihm seine ganze Liebe schenkt, doch auch ihm, der doch seine "Leidensgenosse" ist, vertraut er nicht an wie er von Lene behandelt wird. Der Autor läßt dem Leser die Frage offen, ob Tobias keinen Ausweg mehr sah und sich vor den Zug warf, oder ob sein Tod ein Unfall war.
Tobias' Außeres wird ähnlich dem seiner Mutter dargestellt. Der Leser erhält keine Informationen über das Kinderleben Tobias, da er immer nur in den Situationen des harten Alltags gezeigt wird, bekommt der Leser den Eindruck, als ob er es mit einem Erwachsenen zu tun hätte.
Gerhart Hauptmann verfaßte diese novellistische Studie in Prosa. Das Werk ist in drei Kapitel gegliedert, die aber keine starken inhaltlichen Abgrenzungen bilden.
Dich sachliche Sprache die der Autor verwendet, benützt er, um zwei verschiedene Dinge auszudrücken, einerseits zu naturalistischen Studien in denen er den Bahnkörper und den Wald in romantischer, oft fast auf mythische Weise beschreibt.
"Stücke des blauen Himmels schienen auf den Boden des Haines herabgesunken, so wunderbar dicht standen kleine, blaue Blüten darauf. Farbigen Wimpeln gleich flatterten und gaukelten die Schmetterlinge lautlos zwischen dem leuchtenden Weiß der Stämme, indes durch die zartgrünen Blätterwolken der Birkenkronen ein sanftes Rieseln ging." (Seite 28)
Wenn der Leser zum Endes dieses Buches gelangt ist, stehen für ihn viele Fragen offen. Hauptmann liefert zwar eine Erzählung mit vielen Denkanstößen, doch der Leser muß sich seine eigene Meinung bilden, da Hauptmann durch seinen Objektive und zurückhaltende Schreibweise dem "Verbraucher" keine vorgefaßte Meinung weitergibt. Die Frage nach Schuld und Moral muß der Leser unbeeinflußt, nur den Fakten nach, nach eigenem Wissen und Gewissen, entscheiden . Hauptmann stellt zwei verschiedene Charaktertypen, Thiel den Phlegmatiker und Lene die Cholerikerin dar, mit denen sich der Leser identifizieren kann. Auch hier läßt der Autor den Leser entschieden, welcher dieser Charaktertypen für ihn mehr positive Eigenschaften innehabt.
Ich war von diesem Stück sehr beeindruckt. Zwar ist das Lesen nicht sehr berauschend, doch die Konflikte und tieferen Aussagen werden einem erst nach längerem Nachdenken klar.
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