Literarische Figurencharakteristik
Ingeborg
Bayer: "Die vier Freiheiten der Hanna B."
Die Autorin des 1990
herausgegebenen Jugendromans "Die vier Freiheiten der Hanna B.", indem es um
Drogen, Jugendkriminalität und Strafvollzug geht, heißt Ingeborg Bayer. Die
Hauptperson Hanna B., die mit 15 Jahren erstmalig straffällig wird, macht im
Gefängnis verschiedene Erfahrungen. Nach ihrer Entlassung versucht sie den
Einstieg in ein neues "normales" Leben.
Die Zentralfigur Hanna
Bogner wird am 14.11.1957 als Tochter von Karl Bogner, Wäschevertreter und
Malermeister, und Dorothea Bogner geboren (S.12; Z.5ff.). Sie ist ein schlankes
junges Mädchen, welches aus der Mittelklasse stammt (S.22; Z.22). Ihre Sprache
ist hochdeutsch und sie verwendet keine auffälligen Wortphrasen. Hanna ist oft
mit ihren Gedanken woanders und stellt Vergleiche an. "Ich lag in meinem Bett und konnte nicht
schlafen. Zu Hause konnte ich immer schlafen," ist nur ein Beispiel von vielen
(S.20; Z.12f.). Die Gefangene Gisela bezeichnet sie als "ein Klugscheißer", was
bedeuten könnte, dass Hanna Brillenträgerin ist, aber das ist sie nicht (S.13;
Z.31). Falls der Leser sie sich so wie auf dem Titelbild abgebildet vorstellen
soll, dann trägt sie kastanienbraunes, leicht gewelltes, bis zur Schulter
reichendes Haar, braune Augen, eine schmale Nase, normalgeformte Lippen und ein
schmales Gesicht, mit gut erkennbaren Wangenpartien. Hanna ist nicht wie es eigentlich sein
sollte in einer harmonischen Familie
aufgewachsen. Für sie ist es aber noch akzeptabel, dass es keine richtig
glückliche Beziehung zwischen den Eltern ist. Die einzige Bindung, die zwischen
ihnen besteht ist Hanna. Die folgende Scheidung, der tödliche Verkehrsunfall
der Mutter, die ihr einziger Zufluchtsort ist, und die neue Freundin des Vaters
Evelyn, welche Hanna nicht ausstehen kann, hinterlassen tiefe Narben und
unauslöschbare Spuren.
Wahrscheinlich sucht sie
deswegen Trost, Geborgenheit und Halt bei Jan. Am Anfang ihrer heimlichen Beziehung zu Jan ist sie eine
durchschnittliche Schülerin, aber von ihm lässt sie sich so sehr beeinflussen,
dass die Schule immer nebensächlicher und Jan wichtiger werden. Das wird an ihrem Schulabschluss, der eher ein
besserer Rausschmiss mit schlechten Zensuren und zwei Ehrenrunden ist, und mit
Jans Aussage: "Wozu überhaupt Beruf, () ein Abitur oder die mittlere
Reife?", deutlich (S.41; Z.28ff.). Für Hanna klingt Jans hinzugefügtes "Du hast
mich, genügt dir das nicht?" unsagbar schön, für Außenstehende eher naiv.
Während einer Reise nach Arles lernt sie seine Drogendealerfreunde Ali, Hiob
und Knut und zu Weihnachten Raoul, Chris und Do kennen (S.60-61;
Z.36,1f.). Dass Hanna beim Verteilen des
Haschischs mitmacht, liegt an ihrer unglücklichen Kindheit, am Einfluss Jans,
an der Haushälterin Frau Bär und besonders an Evelyn. Alles führt dazu, dass sie nur noch den einen Gedanken hat: Weg
von zu Hause (S.63; Z.8f.). Dadurch dass die Dealer und Hanna innerhalb von
zwei Monaten ungefähr 500 Kilogramm Haschisch umsetzen, kann sie diesen Wunsch
verwirklichen. Zu diesem Zeitpunkt denkt sie nicht einmal daran, was passiert
wenn sie erwischt werden. Jan behalten und Geld verdienen, das ist ihr wichtig
(S.64; Z.16ff.). Dass sich Hanna durch ihre Leichtfertigkeit ihre Zukunft
verbaut, ist ihr egal und die Talfahrt durch das Rauschgift beginnt. Diese
endet mit ihrem letzten Bruch in einer Apotheke, wobei sie eigentlich nicht
dafür ist, aber die fehlende Sendung mit Rohopium und die Tatsache, dass Jan,
inzwischen beim Fixen gelandet, dringend einen Schuss braucht, gibt den
Ausschlag (S.79; Z.8ff.). Der Einbruch geht gut, aber die Folgen sind
verheerend: Jan stirbt an einer Überdosis Heroin und der Rest muss sich vor
Gericht dem Gesetz stellen. Knut und Hiob, dessen elf Monate werden zur
Bewährung herabgesetzt, haben anfangs weniger Glück. Hanna weiß, dass Alis
Feigheit an Jans Tod schuld ist, jedoch teilt das Gericht nicht ihre Ansicht
und spricht ihn frei (S.79; Z.17ff.). Hanna fühlt sich bei ihrer Verhandlung
von oben herab, zu zwei Jahren fünf Monate Gefängnis, behandelt: "Sie haben
mich zermatscht. Wie die Hand eines Riesen einen Käfer zermatscht" (S.10;
Z.20f.). Der Riese ist für Hanna stellvertretend der Richter, der Staatsanwalt
und die Zeugen und sie selbst der Käfer, wobei der Riese nur ihre Hülle, mehr nicht,
erhält (S.10; Z.34). ", weil mir
in dieser Sekunde klar (wird), dass es von jetzt ab nicht mehr viel geben
wird, was ich entscheiden darf. Es wird für mich entschieden werden. ()
Andere, die besser wissen, was für mich gut ist oder nicht", stellt sie bei
ihrem Einzug ins Gefängnis daran fest, dass die Beamten ihre Kleidung
vorschreiben, beispielsweise ein Nachthemd entweder mit kurzem oder langen
Armeln (S.6; Z.10,13ff.). Sie zeigt
damit deutlich, dass sie sich nicht gerne unterordnen lassen möchte, aber sie
resigniert, weil sie keine andere Wahl hat. Sie ist nur noch eine Akte. Nicht
mehr als eine Nummer 324 (S.95; Z.17). Aus dem Stoß von Sachen sucht sie sich ein blaukariertes Kleid, schwarze
Schuhe und ein Nachthemd mit kurzen Armeln aus. Beim Blick auf das Kleid stellt sie fest, dass sie es ein
Einheitslook und "ein halber Maxilook" ist, was ihren Galgenhumor erkennen
lässt (S.6; Z.12,22,26).
Hanna ist verblüfft und
teilweise schockiert als sie in ihre Zelle zum ersten Mal blickt: "Große
Katzen, kleine Katzen, teure, struppige, magere, (Siamkatzen) und ein
Ekseption-Gruppenbild ein Schrank,
ein eisernes Bett, ein Tisch, ein Stuhl und ein Kübel" (S.7; Z.11ff.). Sie beschließt vieles in der Stunde: Den Kübel nicht zu
benutzen, die Katzen herunterzureißen, weil sie diese nicht leiden kann, keine
Bergromane ins Regal zu stellen, nicht zu schreien, nicht zu heulen und viele
andere nicht erwähnte Sachen, die sie aber alle nicht einhält (S.7; Z.35f.,
S.8; Z.1ff.). Nach einer gewissen Eingewöhnungsphase hat sie ersten Kontakt zu
ihren Mitinhaftierten Gisela, Heidi, Gerdi, Frau Greenhorn, Helga, Ingrid,
Susi, Erika, Hannelore und Gertrud, die feststellen, dass sie das typische
Verhalten einer Neuen zeigt, da sie beispielsweise die Zeit bis zur Entlassung
zählt (S.9; Z.12ff.). Dabei scheint sie sich aber nicht ganz wohl zu fühlen,
weil sie sich bei der Sozialarbeiterin Frau Mollenhauer erkundigen will, ob sie
hier abends mit dabeisitzen muss oder darf (S.14; Z.14f.). Nach und nach
gewöhnt sie sich aber an die abendlichen
Gesprächen oder während der Arbeit über Tabak, Pflegestellen, den Etat des
Gefängnisses und über die Zukunft des Einzelnen und lernt die anderen Häftlinge doch noch näher kennen.
Am Besten versteht sie sich mit Gertrud, welche stets nach ihrem Kübeldienst
riecht. Gisela, die der Chef der Clique ist und wie "der Anführer eines Rudels
Wölfe aussieht", ist Hanna ein Dorn im Auge (S.13; Z.33). Das liegt vorallem am
Gertrudspiel: "Es (beginnt) immer mit den gleichen Worten, sobald eine Neue
(kommt). Und es (wird) stets mit den gleichen Worten gespielt. Gertrud (kann)
nichts dagegen tun. Wer petzt, ist tot" (S.16; Z.34, S.17; Z.1f.). Im Laufe der Zeit baut sie eine Art Hassliebe zu dem Katzenposter auf, welches
sie an Agypten erinnert und sie es deswegen Kleopatra nennt. Es ist die, die
wie eine heilige Katze der Agypter aussieht, aschgrau mit leichten braunen
Streifen und glitzernden Augen, sobald Licht darauffällt (S.10; Z.8ff.). "Friss
ihn, lass seine Federn flattern und stör dich nicht an seinem Piepen, das
niemand versteht. Du bist mächtig, Kleopatra, so mächtig wie -" (S.10;
Z.14ff.).
Es verdeutlicht die Liebe
zu der ägyptischen Katze. Dieses "wie -" sagt aus, wie beeindruckt Hanna von Kleopatra ist,
da sie nichts mit der Schönheit und Anmutigkeit jener heiligen Katze
vergleichen kann. Zu sehr vielen Dingen hat sie stets den richtigen Vergleich,
nur beim Katzenposter nicht. Es fehlen ihr einfach die Worte. "Ich liege im Bett und kann nicht schlafen.
Der Mond scheint zum Fenster herein. Er malt die Stäbe wie einen groben
Fußraster auf das einzige Katzenbild, das ich nicht abrupfen würde, weil es
die balgenden Jungkatzen zeigt Im Balgen schauen sie aus dem Gitter
heraus. Das ärgert mich so, dass ich aufstehe und Kleopatra hineinsperre in
das Gefängnis. Kleopatra mit ihrem hochnäsigen Blick und ihren arrogant nach
oben gezwirbelten Schnurrbarthaaren" (S.68; Z.6ff.). Dieses Ereignis zeigt
ihren Hass auf diese Katze. Sie erträgt es nicht, wenn Kleopatra frei ist und
Hanna eingesperrt im Gefängnis. Hanna
braucht jemanden mit dessen Schicksal sie spielen kann, denn Vater Staat und
die Justiz, dessen Verhalten und Vorgehen sie ablehnt, entscheiden über sie.
"All das gibt (ihr) ein bisschen Lust, ein bisschen Rache, []," etwas
Abwechslung vom Knastalltag (S.68; Z.15f.). Außerdem wird Hanna fröhlich und
stark bei dem Gedanken an ihre vier Freiheiten. Sie kann sich entscheiden
zwischen einer großen Tube Zahnpasta in einer gelben Schachtel oder einer kleinen
in einer roten Schachtel. Zwischen einer Wochenillustrierten und einem Stück
Pflaumenkuchen. Die dritte Freiheit besteht aus der Wahl zwischen einem Stück
Seife und einem Päckchen Tabak. Das Nachthemd mit dem kurzen oder langen Armeln
macht aus den drei Freiheiten vier an der Zahl (S.69; Z.31; S.70; Z.4f.). Die Zeit vergeht wie im Flug. Sie übersteht
die Wochenenden, Besuchstage und Feiertage geduldig, obwohl diese ihr am
wenigsten gefallen, aber sie wartet auf die Freilassung und zählt die noch zu
überstehende Zeit (S.76; Z.33ff.; S.77; Z.3). Und eines Tages steht sie auf
Bewährung unerwartet hinter den Toren des Gefängnisses. Anderthalb Jahre
Gefängnis haben äußerlich Spuren hinterlassen. Ihr rotgestreiftes Kleid ist an
ihr viel zu weit. Sie kommt sich fast wie ein Kind vor, das laufen lernt, als
sie erstmals wieder die Welt ohne Gitterstäbe erblickt. An diesem Tag
beschliesst sie sich zu ändern. Sie schafft es ohne Zwang wie bei Mr. Supermann
über sich nachzudenken (S.95; Z.15ff.). Der Einstieg in ein normales und
geregeltes Leben beginnt. Den Anfang macht sie mit dem Nachholen der mittleren
Reife, jedoch mit viel Eifer und aus eigenen Antrieb, an einer Abendschule. In
einem Blumengeschäft findet sie Arbeit zur Finanzierung (S.101; Z.33; S.102;
Z.8,19). Hannas Schulfreundin Thea Morgenthaler überlässt ihr die Wohnung, da
sie selbst drei Monate in Athiopien verbringt. Die Nachbarin von Thea Frau
Wamsler ist zwar in Bezug auf Hannas Leben neugierig, aber trotzdem sympathisch
und stellt keine unangenehmen Fragen oder geht ihr aus dem Weg. Eine weitere
sympathische Person ist die Bewährungshelferin Frau Kampe. Wie zwei Freundinnen
unterhalten sie sich über Schule und
Freundeskreis (S.103; Z.1,3). Hanna lernt Fred, der Raucher und ziemlich bequem
ist, in der Abendschule, kennen. Er weiß nichts vom Knast bis beide Gisela in
einer Bar treffen, die Hanna auf das Gefängnis anspricht. Fred ist anfangs sehr
schockiert über Hannas Vergangenheit, aber will ihr trotz allem helfen
(S:112;Z.33). Ganz unerwartet erscheint Gertrud drei Mal. Sie findet in einer
Fischfabrik Arbeit, jedoch erzählt sie ihren Kollegen nichts vom Knast. Es
fliegt allerdings durch Frau Kampe auf. Aus Verzweiflung und Wut wendet sie
sich an Hanna, die sie als eine echte Busenfreundin tröstet (S.105; Z.6).
Glücklich und mit einem Bauernsohn verlobt, bedankt sich Gertrud bei ihr, indem
sie Hanna zur Trauzeugin ernennt (S.116;
Z.13). Im Blumengeschäft steht ihr Vater eines Tages in der Tür. Er bietet ihr
in einem Café seine Hilfe an, die daraus besteht, dass sie kommen kann wann sie
will (S.117; Z.33f.; S.118; Z.13). Der einzige treffende Schlag geht von ihrem
Klassenkameraden Modestus aus. Auf der Suche nach Hess' "Steppenwolf" treffen
sie in der Bibliothek aufeinander. Unter vier Augen setzt er sich kritisch mit
ihrem Fehlverhalten und Charakter auseinander und sagt es Hanna direkt ins
Gesicht, aber er akzeptiert sie so wie sie ist. " Du (hast) immer für
alles einen Grund. Man (findet) dich nie ohne Erklärung [], ist ein
typischer Charakterzug, den er ihr an den Kopf wirft (S.124; Z.22f.). Modestus
ist aber kein Unmensch und, weil er sie sehr mag, bietet auch er wie schon
seine Vorgänger seine Hilfe an (S.125; Z.14f). "Ich (bin) wirklich glücklich. Obwohl ich schlucken (muss) []" zeigt ihre
Gefühle nach dem aufschlussreichen Gespräch (S.125; Z.22). Sie fügt sogar noch
ein "Endlich" dazu. Es bedeutet, dass sie endlich den Abschluss ihrer
Vergangenheit geschafft hat. Hannas' Seele ist frei von Lasten, welche ihr die
Menschheit und Umwelt im Laufe des Lebens auflastet. Ihre neue Meinung über Mr.
Superman und Modestus bringt sie folgendermaßen zum Ausdruck: "He, Mr. Superman
, da gibt's einen, dessen Tiefschläge besser sitzen als die ihren, gezielter
[]. Sie verpuffen nicht im Raum wie die Ihren. Sie treffen haarscharf an die
richtige Stelle [] (S.125; Z.23ff.). Der Schlusssatz aus
Hannas' Akte: "Wir dürfen hoffen, dass Hanna B. den Anschluss an ein normales
und geregeltes Leben wieder finden wird," wird sie ein Leben lang verfolgen. Die
Frage, die sie sich selbst stellt, können wir genauso als Schlusswort stellen:
"Dürfen wir das?" (S.126;
Z.21ff.)
Dieser
Roman ist meiner Meinung nach nicht nur eine gute "Bettlektüre" oder
Unterrichts-stoff, sondern auch ein Nachschlagewerk, ohne Belehrungen, für
Fachkräfte in der Sozialarbeit, Staatsanwälte, Richter und Verteidiger in
Jugendsachen. Es dient als Nachschlagewerk in dem Sinne, dass diesen Menschen
Einblick in die Empfindungen, erlebnismäßig gewonnenen Eindrücke und die
Erkenntnisse des Betroffenen gewährt wird. Was mir persönlich gefällt ist, dass
die Autorin Ingeborg Bayer an die darin behandelten Probleme (Drogen,
Jugendkriminalität und Strafvollzug) nicht sachlich, wie in einer aufklärenden
Erörterung, sondern direkt und individuell herangeht. Das offene Ende veranlasst den Leser zum
Nachdenken. Wie sieht Hannas Zukunft aus? Schafft sie den Einstieg in ein
normales Leben? Baut sie mit ihrem Vater wieder eine gute Beziehung auf? Es
könnte auch ein Schluss der Geschichte geschrieben oder erdacht werden, der
individuell verschieden sein wird.