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Die Schweiz im zweiten Weltkrieg - Ein Interview mit Irene Arn
eine Geschichtsarbeit im Juni 1998
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Vorwort,
Vor dem krieg
kriegsausbruch,
kriegszeit
kriegsende
Nachkriegszeit,
heute
analyse
soldatenbriefe
Vorwort
Für mein Interview zum Thema "Die Schweiz im zweiten Weltkrieg' habe ich meine Tante Irene Arn (die Schwester meines Vaters) angefragt, worauf sie freundlicherweise bereit war, mir aus Ihrer Jugendzeit in Oberdorf (Kanton Solothurn) und vor allem in Luzern zu erzählen. Sie wurde im Jahre 1927 in Oberdorf geboren und war das erste Kind meiner Grosseltern. Acht Jahre später, also 1935, folgte dann mein Vater. Mein Grossvater, war von Beruf Versicherungsfachmann, weswegen er viel in der näheren Umgebung herumreiste. Im März 1939 zügelte die Familie Arn aus dem kleinen und ländlichen Oberdorf in die Stadt Luzern in eine Wohnung direkt neben den Bahnhof. Der Umzug hatte keinen Zusammenhang mit der Situation in und um Deutschland. Die damals zwölfjährige Irene musste dabei eine Klasse wiederholen, da der Kanton Solothurn und der Kanton Luzern verschiedene Lehrpläne hatten. Sie schloss 1946 die Handelsmittelschule ab und nahm Ihren erste Arbeitsstelle im selben Jahr in Angriff.
Vor dem Interview möchte ich noch drei kleinere Anmerkungen machen:
1 Um Missverständnisse auszuschliessen rede ich Irene Arn immer mir gross «Du» an, während sie mich im Text mit klein «du» anspricht.
2 Ich habe absichtlich auf einen zusammenhängenden Text verzichtet, weil ich die Interviewform als geeigneter anschaue, denn Irenes präzisen Schilderungen würden an Qualität verlieren.
Vor dem krieg
Hast Du schon in Oberdorf etwas von Hitler vernommen?
Jawohl, und zwar sehr viel. Wir haben in unserem Haus eine Cousine namens Lini mit vier Kindern und einem deutschen Mann gehabt. Sie war völlig "hitlerverrückt'. Ihr Mann wäre ohne sie vermutlich nicht so gewesen, aber dank ihr ist auch er ein Hitleranhänger geworden. Nach einigen Unstimmigkeiten wurden sie in einer Nacht und Nebel Aktion von der Schweizer Polizei nach Deutschland ausgeschafft. Die ganze Familie musste mitgehen. Wegen Pius und René, den ältesten beiden Kindern, tat mir das ein bisschen weh. Sie verstanden die Ausschaffung nicht. Schuld daran war eigentlich meine Cousine Lini.
Wie merktest Du denn, dass Lini so "hitlerverrückt' war?
Sie hörte sich jede Hitlerrede an, die am Radio übertragen wurde. Und zwar in voller Lautstärke. Meine Eltern hatten sich darüber fürchterlich aufgeregt. Für mich war seine eindringliche Stimme nicht sehr angenehm.
Habt Ihr denn auch über diese Reden gesprochen?
Ja sicher. Wir hatten viel über ihn und seine Reden gesprochen. Das war schon ein Thema. Zu sagen ist, dass sich nicht nur meine Eltern aufregten! Alle die Leute der Generation unserer Eltern hatten eine Abneigung gegen Hitler. Ich selber sah jedoch nicht so recht, was auf mich zukam. Die Erwachsenen haben dies sicherlich gesehen.
Was denkst Du: War die Bevölkerung im Durchschnitt eher für oder gegen Hitler und die Deutschen?
Ja, es hat schon die Hitlerfreunde gegeben. Aber diesen hat man's irgendwie angesehen und sie waren dann sehr verhasst. Die Masse war gegen Hitler und so wie ich es in der Schule erlebt habe, hatten wir überhaupt keine Probleme mit den Juden! Wir hatten ein Mädchen, das in Deutschland aufgewachsen war. Es störte und machte dumme Sprüche. Das hat mich geärgert. Aber wir waren sicherlich gegen Hitler!
Hatten denn die Deutschen auch in der Schweiz Nazipropaganda gemacht?
Das weiss ich nicht mehr, vermutlich schon, aber ich war damals noch so jung.
Wie war es denn mit dem Essen: Gab es vor dem Krieg keine Nahrungsknappheit?
Nein, aber man bekam sie nach Kriegsausbruch schnell zu spüren. Dann erhielt man auch ein Zirkular auf dem stand, wieviel Zucker und Mehl pro Person Pflichtvorrat sein musste. Und du musst wissen, es wurde gehamstert. Diejenigen die Geld hatten, kauften so viel wie möglich. Dies konnte zum Glück schnell mit den Lebensmittelmarken unterbunden werden.
Kriegsausbruch
Wollen wir doch zum Kriegsausbruch übergehen. Wie hast Du zum ersten mal vom effektiven Kriegsausbruch vernommen und wie hast Du ihn erlebt?
Mit grosser Sicherheit durch das Radio. Vielleicht gab es auch noch Plakate. Für mich war es ganz schlimm, denn man wusste nicht wie es weitergehen würde und was auf uns zukam. Die Männer mussten in den Dienst, auch mein Vater. Es war wirklich hart nicht zu wissen, ob mein Vater wieder heimkehren würde. Grosse Angst und Ungewissheit machten sich breit.
Hast Du begriffen was der Satz für Folgen haben würde: "Der Krieg ist ausgebrochen'?
Ja, vermutlich schon. Sicherlich kannte ich nicht alle Folgen, aber das Grundsätzliche wusste ich.
Und wie war das in der Schule? Habt ihr da auch über dieses Thema geprochen?
Ja klar! Wir hatten auch bei Beginn grosse Angst, ja es war wirklich furchtbar. Wir hatten keine Schule und die meisten Männer, auch mein Vater, mussten in den Dienst gehen. Meine Mutter hat geweint und alle waren traurig, denn man hat ja nicht gewusst, wie's weitergeht. Diese Ungewissheit war bedrückend und traf alle tief.
Eine Folge, die die Schule betraf war, dass wir eigentlich 1939 die "Landi', die Landesausstellung in Zürich hätten besuchen können. Stell Dir vor, wir wären mit dem Zug nach Zürich gereist!!! Die Ausstellung wurde dann aber abgesagt, leider.
Kriegszeit
Du hast gesagt, dass nach dem Kriegsausbruch die Lebensmittelmarken eingeführt wurden. Kamen die schnell, was ja hiesse, dass diese schon vorbereitet gewesen wären?
Ja, die kamen ziemlich kurz darauf. Es war Bundesrat Stampfli, vor allem aber Bundesrat Obrecht zu verdanken: Sie haben bei Kriegsausbruch geschaut, dass jeder mehr oder weniger genug zu essen erhält. Und dazu wurden eben die Nahrungsmittelmarken eingeführt. Ich habe hier auch noch einige mitgebracht. Ein Beispiel zu dieser Nahrungsknappheit kann ich aus unserer Familie nennen: Dein Vater und deine Grossmutter hatten unheimlich gerne Milch. Sie tranken manchmal vier bis fünf Liter Milch pro Tag. Und als ich nach Ausbruch des Krieges in den Konsum ging und viereinhalb Liter Milch verlangte, erhielt ich von der Verkäuferin, Frau Hofstetter, die Antwort: "Hör mal, liebe Irene, wir können Dir nicht mehr so viel Milch geben. Das geht nicht mehr.' Als ich zu Hause angekommen war und sagte, dass wir nur noch dreieinhalb Liter Milch bekämen, war das eine riesen Sache, das war verrückt.
Nahrungsmittel-, Seifen- und Schuhscoupons, siehe nächste Seite.
Und dank dieser Karten erhielt jede Person gleichviel, egal ob reich oder arm?
Jawohl. Und hier habe ich noch eine Ausweiskarte und nur mit dieser konnte man die Nahrungsmittel beziehen. Ja, in den für uns ungewissen und damit schrecklichen Krisenjahren 1940 und 1944 wurden viele Männer in den Dienst eingezogen, so dass wir Jungen gefragt wurden, ob wir Lebensmittelmarken austeilen gingen. Diese Arbeit verrichtete ich in den Ferien und verdiente so mein erstes Taschengeld. Und jeden Monat hatten die "blinden Coupons' der Lebensmittelmarken, das heisst diese waren nur mit einem Buchstaben bedruckt, einen anderen Mengen- und Warenwert. Z.B. gab der eine Coupon im Monat Mai ein Kilogramm Zucker. So konnte die Regierung entscheiden, welche Esswaren genügend vorhanden waren und damit zusätzlich verkauft werden konnten. Und von meiner späteren Arbeit weiss ich auch, dass jeder Verteiler und die Geschäfte noch lange nach dem Krieg ein Pflichtlager haben mussten. Vor allem mussten sie Zucker und Öl vorrätig haben, denn wir waren ja völlig abgeschlossen von der Aussenwelt. Dann hatten wir Bundesrat Wahlen, einen ganz tollen Mann, welcher den "Plan Wahlen' ins Leben gerufen hatte. Dieser beinhaltete, dass auf jedem freien Stück Land Gemüse angepflanzt werden musste. So hatte es auf unserem schönen Quai anstatt Blumen Kartoffeln und Kabisköpfe. Er rechnete dabei aus, wieviel Platz noch frei war in der ganzen Schweiz. Und mit dieser Massnahme kamen wir durch den Krieg, denn z.B. mit Kartoffeln kann man viel machen. Ich glaube auch, dass die Kartoffeln nicht rationiert waren.
War denn das Essen nicht recht einseitig?
Nein, das möchte ich nicht sagen, denn man hatte ja Vitamine, Kartoffeln und Gemüse. So habe ich keine schlechten Erinnerungen. Ich weiss aber noch: Mein Vater war vor dem Krieg relativ beleibt und er nahm während der sechs Jahre ganz schön ab. Aber das schadete ja nichts.
Und wie war es mit Reis? War das so eine Sonntagsmahlzeit, etwas Spezielles?
Ja, ich denke schon. Der Reis war ja auch nicht aus der Schweiz. Man hatte schon viel mehr Kartoffeln.
Und Getränke waren kein Problem?
Getränke? Das weiss ich gar nicht mehr [Pause] Man hatte ja auch Wasser. Und man kann ja auch Wasser trinken! Wir haben nicht viel Wein getrunken, aber Wein wäre sicher erhältlich gewesen. Ebenso Bier. Aber für mich war das eben kein Thema, denn ich hatte diese Getränke nicht gerne. An Weihnachten erhielt ich Zuckerwasser mit ein bisschen Wein drin und für mich war das schon ein grösseres Ereignis.
Gab es bei diesem knappen Angebot an Nahrungsmitteln einen Schwarzmarkt?
Ja, ja. Das gab es schon. Ich weiss jedoch nicht, ob wir diesen benützt haben. Wir erhielten nur manchmal Eier oder Fleisch von einer Bauernfamilie, was eigentlich nicht erlaubt gewesen wäre.
Wie kamt Ihr denn dazu? Wie funktionierte das?
Mein Vater arbeitete bei einer Versicherung und musste Verträge abschliessen, weshalb er oft aufs Land ging und Hausbesuche machte. Dort gab es eine Familie Müller, von welcher er Eier oder mal Fleisch heimbrachte. Aber diese Lebensmittel musste er heimschmuggeln, denn Eier waren rationiert. Somit machte er sich eigentlich strafbar. Ja, zu dieser Familie Müller hatten wir wirklich ein sehr gutes Verhältnis.
Somit hatte Dein Vater einen Vorteil mit seinem Beruf?
Ja, nicht nur er, das hatten andere auch.
Unter Freunden habt Ihr Euch also gegenseitig geholfen?
Ja, ja, das ist wahr. Sicherlich viel mehr als heute, denn alle waren in einer Notsituation und so mussten wir uns helfen.
Wie war es denn allgemein: Gab es da keine Kämpfe um Lebensmittelmarken?
Nein, da gab es überhaupt keine Rivalität. Wir sassen ja alle im gleichen Boot. Man merkte auch überhaupt nichts vom Röschtigraben, alle hielten zusammen. Der Dienst verstärkte dies auch, da viele Welsche und Deutschschweizer die entgegengesetzten Dienst- als Wohnorte hatten. In den Jura gingen ganz viele Deutschschweizer. Ja, man hielt wirklich zusammen. Aber ich weiss nicht wie das heute wäre, wenn wir wieder in eine solche Situation kämen. Jetzt haben wir schon viel mehr Ausländer. Das macht sicher etwas aus, die andere Sprache, Kultur und so weiter.
War die Schule wie vorher oder gab es grössere Schulunterbrüche?
Nein, wir hatten immer Schule. Es gab nur wenige spezielle Tage, an denen wir daheim bleiben mussten, z.B. wenn die Soldaten eine Unterkunft in der Schule brauchten.
Wenn wir heute über den 2. Weltkrieg reden, so fällt sicherlich schnell einmal das Wort Luftangriffe, Luftschutzkeller oder Verdunkelung. Wie war denn das genau?
Jedes Haus musste einen Luftschutzkeller haben. Zu Beginn war dies schon schrecklich, wenn wir in den Keller fliehen mussten. Bis heute ist es mir unangenehm, wenn die Sirenen getestet werden. Vor allem in der Nacht war es schlimm. Eine weitere Anordnung war, dass man Verdunkelung haben musste. Das hiess, dass man schwarze Storen haben musste, um bei Zimmerbeleuchtung schlechter aus der Luft gesehen zu werden. Dazu habe ich auch noch ein kleines Geschichtchen: Eines Tages war Tante Ida bei uns zu Besuch. Sie übernachtete in unserem Erkerzimmer. Dieses war das einzige ohne Verdunkelungsstoren. Nichtsdenkend machte sie in der Nacht die Palastbeleuchtung an, worauf aber ziemlich schnell ein fast wütender Polizist an die Haustüre klopfte und uns fragte was eigentlich los sei. Seine Reaktion war verständlich, denn einen Raum ohne die Verdunkelung zu beleuchten war damals verboten.
Ich denke mir, dass die meisten Alarme Fehlalarme waren und nichts passiert ist. Gingt Ihr immer in den Luftschutzkeller oder nahmt Ihr die Warnungen mit der Zeit nicht mehr so ernst?
Ja, da hast du recht. Zu Beginn gingen wir immer schleunigst in den Luftschutzkeller. Doch mit der Zeit, als nie etwas passierte, zogen wir uns einfach gut an und legten uns aufs Bett bis der Endalarm ertönte.
Wie wurden diese Anordnungen den Leuten mitgeteilt?
Das wurde via Radio, Zeitung oder Wandanschläge getan. Wir hatten auch Quartierpolizisten. Diese mussten auch solche Mitteilungen machen.
Und wie konntet und habt Ihr Euch über den Kriegsverlauf informiert?
Ja, das war so: Jeden Freitagabend um 20.00 Uhr kam am Radio die Sendung Weltchronik. Der Sprecher war von Salis, ein ganz toller Historiker, der vor noch nicht langer Zeit gestorben ist. Da sass jedermann vor dem Radio, denn er berichtete so neutral über die Geschehnisse der vergangenen Woche. So vernahm man sehr viel und gut über den Kriegsverlauf. Man war immer erpicht darauf, diese Informationen zu hören, dieser Tag um diese Zeit war heilig! Auch in der Schule haben wir viel darüber gesprochen.
War dieser Freitagabend, der Informationsabend mit von Salis, bis zum Ende des Krieges immer aktuell?
Ja, da kann ich mich gut erinnern. Das ging auch noch nach dem Krieg weiter mit seinen äusserst neutralen und objektiven Reden. Den von Salis hörte man einfach gerne. Aber auch er musste vorsichtig sein, was er sagte. Was mir noch in den Sinn gekommen ist: Es gab Plakate, die an Wänden in der Stadt aufgehängt wurden und darauf stand: "Wer nicht schweigen kann, schadet der Heimat!' Ja, man musste einfach vorsichtig sein, was man sagte, denn es gab auch Deutschfreundliche. Wenn Du diesen etwas Falsches gesagt hättest, so hätten sie Dich vielleicht verraten und wer weiss, dann wärst Du überfallen worden. Ja, da hatte man keine Ahnung. So musste man möglichst für sich selbst schauen und die anderen in Ruhe lassen in solchen Fragen. Die klaren Informationen und Meinungen musste man zwischen den Zeilen finden.
So konntest Du nur Deinen Bekannten trauen?
Ja, das war schon so. Und was auch noch war: Zu dieser Zeit wurde das sehr bekannte Kabarett "Cornichon' gegründet. Diese Kabarettisten konnten ihre Meinung "durch die Blume' sagen, so dass das Volk ihre Aussagen verstand und das tat schon sehr gut. Natürlich mussten auch sie aufpassen. Ja, heute und schon bald nach dem Krieg hatte das Kabarett nicht mehr den selben Stellenwert wie damals. Oder der Nebelspalter war auch sehr, sehr gut. Auch diese teilten ihre Ansicht zwischen den Zeilen mit. Solche Sachen las man gerne. Auch gab es am Radio viele Sendungen mit demselben Zweck.
Gab es denn auch von Zeit zu Zeit am Radio Ansprachen des Bundesrates oder des Militärs?
Daran kann ich mich nicht mehr erinnern, aber General Guisan war eine sehr wichtige Person. Er wurde verehrt. Er war wirklich ein toller Mann, ja wie ein Vater für uns alle. In fast jeder Stube und in jeder Wirtschaft hing ein Foto von ihm. Und als er nach dem Krieg starb, so hatte man das Gefühl, dass einer aus der eigenen Familie gestorben sei.
Kannst Du denn erklären, wieso General Guisan so beliebt war?
Er hat seine Aufgabe einfach sehr gut gemacht. Er war äusserst volksnah, er war nicht ein hoher unantastbarer General, nein im Gegenteil, er scheute sich nicht zu den Soldaten zu gehen. Was er sagte, glaubte man. Für uns war er ein ganz toller Mann. Einmal kam er nach Luzern und jeder wollte ihn sehen und sprechen hören. Es war einfach gut, dass wir ihn hatten. Vielleicht war es auch der Wadtländer Charme, den er hatte. Man hatte das Gefühl, er mache alles richtig.
Was mir noch zu General Guisan und seinen Soldaten einfällt: An Weihnachten gab es sogenannte Soldatenweihnachten, weil die Soldaten oftmals nicht heimkehren konnten. So waren sie in grossen Hotelsälen und wir mussten zu ihnen singen gehen und jedes Kind schenkte einem Soldaten zum Schluss ein Päcklein. Ich habe noch Soldatenbriefe, die ich als Dankeschön erhalten habe [siehe Seite 15]. Ebenfalls erhielt ich einmal Schokolade und ein Buch. Ja, das war für die Soldaten richtig schön, von einem Kind etwas zu erhalten. Auch an den Soldatenweihnachten war General Guisan anwesend. Er war nicht zu Hause bei seiner Familie. Er war beim Volk, das ihn brauchte und liebte.
Dein Vater musste viele Hausbesuche machen. Wie stand es denn um den öffentlichen Verkehr?
Es gab Züge und diese funktionierten soviel ich weiss tadellos. Doch wir hatten zu wenig Geld, um damit zu fahren. Unser Transportmittel waren unsere Füsse. Unser Vater fuhr für weite Distanzen manchmal mit dem Zug.
Anno 1941 war die 650-Jahrfeier der Schweiz. So durften an einem Sommertag in diesem Jahr alle Schüler der Stadt Luzern mit dem Dampfschiff bis zum Rütli fahren. Mir ist besonders geblieben, dass wir spätestens um fünf Uhr morgens gehen mussten. Durch die totale Verdunkelung war es stockfinster, was schon unheimlich war. Natürlich waren viele Schüler mit mir, aber als wir auf einem Platz am See auf das Schiff warteten, war das ein eindrückliches Erlebnis. Die Schiffahrt war ein einmaliges Erlebnis, denn wir wussten, dass ringsum überall Krieg war.
Wenn es ganz hoch kam, durften wir den Bus nehmen, aber das war ein riesiges Erlebnis. Autos gab es noch nicht viele. Ich kann mich nur an eines erinnern und das gehörte einem reichen Doktor. Etwas spezielles gab es bei den Lastwagen während des Krieges: Weil das Militär das Benzin brauchte, fuhren diese mit einem Holzvergaser.
Wie funktioniert denn so ein Holzvergaser?
Die Lastwagen hatten hinter der Personenkabine einen Tank. Darin wurde Holz verbrannt und nur ganz wenig Luft zugelassen. Das dadurch entstandene Gas konnte für den Antrieb genutzt werden.
Ging denn der Alltag wie vor dem Krieg normal weiter?
Mehr oder weniger schon. Was jedoch überall gefehlt hat war das Geld. Und da gab es noch keine Erwerbsersatzordnung. Als ich einmal im Winter Stiefel brauchte, mussten wir das Geld richtig zusammenkratzen, um diese Stiefel zu finanzieren. Auch für deinen Vater wurden immer wieder neue Kleider gebraucht, denn auch sein Wachstum schritt voran. Meine Mutter nähte daher auch sehr viele Kleider selbst. Dafür nahm sie Schneiderkurse für Knabenkleider. Für die Textilien gab es auch Coupons. Ebenso für Schuhe oder Mahlzeiten in einem Restaurant. Aber wir hatten ja kein Geld, um in Restaurants zu gehen. Bei allem sagte man die Vorkriegsware sei die beste und das war auch wirklich so. Ich weiss noch: Mein Vater hatte einen Mantel aus einem speziellen, guten Gewebe. Also hatte meine Mutter den Mantel aufgetrennt, gefärbt und mir daraus ein Kleidchen genäht. Da der Stoff aber nicht ganz ausreichte, kauften wir Kunstseidenstoff, da dieser keine Coupons benötigte. So behalf man sich.
Ich denke mir, dass ich die Eigenschaft immer alles aufzubewahren, "denn man könnte es ja noch irgendwann brauchen', noch bis heute habe. Ich behalte viele Sachen und werfe fast nichts weg. Man dachte früher, dass man dies einmal noch brauchen könnte. Das hat mich schon geprägt, denn es hat soviel gefehlt. Man konnte nicht in den nächsten Laden und sich die Ware kaufen. So musste man wirklich überlegen wie man sein Geld ausgab. Auch in der Schule war es aus Geldmangel manchmal so kalt, dass man sich Unterleibchen, mehrere Pullover und wollene Strümpfe anziehen musste. Dazu kam, dass wir Mädchen noch keine langen Hosen anziehen durften. Zu dieser Kälte in den Schulzimmern fällt mir noch eine kleine Geschichte ein: Unsere Lehrerin, Frau Rängge, hatte Verbindung zum Kaufmännischen Verein, welcher in unserem Schulhaus seine Büros hatte. So wusste sie, dass es im obersten Stock ein warmes Stübchen gab. Sie führte die ganze Klasse in diesen geheizten Raum und wir konnten dort SJW-Heftchen lesen. Auf diese Weise lernten wir doch ein bisschen und waren vor allem an der Wärme! So kamen verschiedene Ideen auf. Wenn ein Wintermantel gebraucht wurde, teilten wir uns diesen. Ich weiss noch, dass meine Mutter und ich einen zusammen hatten. Für zwei Mäntel hatte man zu wenig Geld und zu wenig Marken. Um uns selber Kleider zu nähen, kauften wir Zellstoff, da dieser markenfrei war. Erst mit der Zeit kam Kunstseide auf.
Ebenfalls war viel zu wenig Gas vorhanden, welches wir damals noch zum Kochen brauchten. So kochte ein Metzger der Umgebung einmal in der Woche in einer riesigen Pfanne Suppe, welche wir mit einem Kessel abholen konnten und zu Hause nur noch ein wenig aufwärmen mussten. So konnte Gas gespart werden. Ja, in den meisten Schweizer Städten gab es verbilligte Suppe aufgrund des Gasmangels. Eine andere Massnahme war eine Holzkiste, die innen mit vielen Zeitungen isoliert war. Die Kartoffeln wurden nur einen Moment lang gekocht, dann in der Pfanne durch z.B. Karotten ersetzt. Dann legte man die Kartoffeln in die Holzkiste und diese stellte man anstelle eines Deckels auf die Pfanne. Auf diese Weise konnten die Kartoffeln noch gar werden und gleichzeitig konnte Gas gespart werden.
Und warum feuerte man nicht mit Holz?
Man ging in den Wald Holz sammeln. Aber da dies viele taten, lag niemals so viel Holz wie heute in den Wäldern. Um zu sparen heizten wir einfach nur ein kleines Zimmer. Damit konnten wir auch wieder die zu dieser Zeit rationierte Kohle und Briketts zu sparen. Das grosse Erkerzimmer wurde nur für besondere Anlässe wie Besuch geheizt.
Was habt Ihr denn Abends getan?
Wir verbrachten jeden Abend zusammen in unserem kleineren Stübli. Wir sassen rund um unseren Tisch herum und machten nach dem Essen sehr viele Spiele oder ich persönlich habe viel gelesen.
Und woher hast Du diese Bücher gehabt?
Es gaben zwei Bibliotheken in unseren Nähe.
Hattest Du in der Nacht nie Alpträume von diesen Alarmen?
Das weiss ich nicht mehr, aber ich bin schlafgewandelt. Aber dies kann auch mit der Pubertät zusammenhängen. Ich musste mich auch einfach an die Alarme gewöhnen. Es gab nichts anderes. Und ich war jung und hatte somit auch noch weniger Mühe damit.
Wie war denn die Stimmung in der Bevölkerung? War diese immer bedrückt?
Ja, es gab schon immer wieder eine solche Stimmung. Besonders wenn man von einer Eroberung der Deutschen gehört hat. Zum Beispiel 1940, als Holland und Belgien eingenommen wurden. Dann gab es wieder eine Generalmobilmachung, denn man meinte, dass nach diesen beiden kleinen Ländern die Schweiz an der Reihe sei. Zu dieser Zeit fanden sich alle höheren Mitglieder des Militärs zusammen mit General Guisan auf Rütli ein. Dies war sozusagen eine Lagebesprechung Ihrer Taktik im Falle eines Angriffs der Deutschen. Wäre die Schweiz angegriffen worden, hätte sich das Militär und alle Kinder in die Alpen zurückgezogen. So wären alle Kinder in eine erste Sicherheit gebracht worden. Ich wäre nach Engelberg gebracht worden. Das war alles schon abgemacht. Das wäre jedoch für meine Mutter ganz schlimm gewesen. Sie hat oft davon erzählt, dass sie sich in diesem Fall das Leben nehmen würde, da sie das nicht ertragen könnte. Stell Dir vor, der Mann im Militär und die Kinder in den Alpen. Die Deutschen würden das Mittelland einnehmen und sie wäre ganz alleine gewesen.
Schrieb unser Vater uns einen Brief aus dem Dienst (er war Sanitäter im Militär), so war seine Stationierung mit "im Felde' angegeben. Etwas anderes wäre verboten gewesen, denn dies gehörte zur Sicherheit. Dazu schickte er auch einen Wäschesack. In diesen legten wir dann neben den frischen Kleidern oftmals einen Landjäger oder was wir gerade hatten. Der Sack durfte aber nicht schwerer als zweieinhalb Kilogramm sein. Jede Mobilmachung war besonders schlimm für die Bauern, welche eigentlich ihre Arbeit auf dem Felde verrichten hätten müssen. Die Frauen arbeiteten viel und hart.
Konnten denn nicht Leute aus der Stadt aufs Land, um diesen Bauern zu helfen?
Doch, ich musste einen obligatorischen dreiwöchigen Landdienst absolvieren. Ich hatte grosses Glück und landete bei einer äusserst netten Familie. Ich musste vorwiegend Handarbeiten wie 'Kleider flicken' machen. Ich flickte viele Socken. Sie wurden nicht wie heute beim ersten Loch fortgeworfen. Das lag einfach nicht drin, denn das Geld wurde für wichtigere Dinge gebraucht. Was gegen Kriegsende noch war: Wir hatten in der Schweiz viele internierte Polen. Diese halfen sehr viel auf den Feldern der Bauern. Diese waren quasi die Knechte. So minderte dies die Abwesenheit der Männer im Dienst.
Hatte der Krieg Einfluss auf Deinen persönlichen Lebensstil, hattest Du Einschränkungen?
Ja, ich wäre gerne einmal ins Ausland gegangen, aber das war logischerweise nicht möglich. Unsere Französischlehrerin erzählte uns viel von ihren Reisen und solche hätte ich auch gerne einmal gemacht. Wir waren schon froh, wenn wir in den Tessin konnten. Ja, alle Grenzen waren geschlossen, man konnte nicht hinaus.
Kannst Du Dich erinnern, wann die ersten Juden von der Schweiz aufgenommen wurden?
Nein. Ich weiss nur noch, dass sie ein "J' in ihren Pass erhalten haben. Und das ist von der Schweiz nicht schön, dass die Juden einfach abgestempelt wurden. Aber wie gesagt, ich kann mich nicht daran erinnern. Hinterher vernimmt man dann solche Sachen.
Also, dann hast Du gar nicht viel von diesen aufgenommenen Juden vernommen?
Nein, eigentlich nicht.
Hat sich also Deine Meinung gegenüber den Deutschen und den Juden nicht verändert?
Nein, nein. Man war wütend auf die Deutschen. Man hat sicherlich ein bisschen stark verallgemeinert. Ja, aber man hatte schon einen Deutschenhass. Und das war nicht ganz fair. Dazu kann ich mich erinnern, dass ich im Jahre 1946 zu arbeiten begonnen habe und dass 14 Tage nach dem ich angefangen hatte, eine gebürtige Deutsche zu uns stiess. Ihr Mann war ein Schweizer. Und ich kann mich noch ganz genau erinnern, wie sie sprach, denn sie kam aus dem Schwarzwald. Das hat uns wirklich genervt. Wir mochten diese Sprache nicht. Und das war nicht nett. Meine Vorgängerin sagte einmal, dass wir ja vor dem Krieg nur Deutsch gern gehört hatten. Und jetzt war dies nicht mehr der Fall. Sobald einer "geschwäbelt' hat, hatten wir eine Abneigung. Es hat einfach Zeit gebraucht, bis wir darüber hinweggekommen sind. Aber man musste völlig umdenken und das war wirklich nicht einfach. Und all dies war Hitler's Schuld.
War die ganze Angelegenheit mit den Konzentrationslagern schon früh bekannt?
Nein, nein! Dies kam erst sehr spät aus, als die Deutschen Verluste einstecken mussten! Das war fürchterlich. Man konnte es gar nicht glauben, es war unfassbar. Diese schrecklichen Bilder Unvorstellbar. Das tat nicht mehr weh, das war schlimmer
Hattet Ihr denn nicht viele Informationen über Deutschland?
Nein. Man wusste lange fast nichts. Erst gegen Ende des Krieges erhielt man mehr Informationen.
Dann wusstet Ihr lange Zeit nicht, was mit den Juden geschah?
Nein. Die ganze Sache war undurchsichtig.
Hattet Ihr denn Mitleid mit den Juden?
Mitleid würde ich nicht sagen. Man nahm sie einfach auch wie andere Menschen auf. Aber diese ersten Bilder dieser Lager waren schrecklich
Aber zum Mitleid fällt mir ein Beispiel von Sigi Feigel ein. Sigi Feigel ging in Luzern an die Kantonsschule. Er als Jude hatte zu dieser Zeit einen Schweizer als besten Freund. Als die beiden die Matura erfolgreich abgeschlossen hatten, so sagte der Schweizer zu Feigel, dass er von nun an leider nicht mehr mit ihm, einem Juden, Kontakt haben könne, denn er wolle Karriere machen!!! Das hat mich wahnsinnig schockiert! Und der Sigi Feigel ist ein ganz wertvoller Mensch.
Warum war denn Dein persönliches Verhältnis zu Juden gut?
Wir hatten schon in der Primarschule vier Judenmädchen. Und ich sah, dass dies wirklich Menschen wie Du und ich sind. Klar haben sie eine andere Einstellung zur Religion, aber diese waren wirklich wie wir. Gut, speziell war, dass sie Samstags nichts tragen durften. So musste ich entweder ihr, meiner Schulfreundin, die Jüdin war, den Schulsack tragen oder wir schauten gemeinsam in ein Buch. Ja, sie durften nicht einmal ein Nastuch im Hosensack tragen. Sie mussten es mit einer Sicherheitsnadel an die Hosen heften. Ich empfand den gemeinsamen Unterricht als Bereicherung und finde es schade, dass dies heute nicht mehr so ist.
Kannst Du Dich noch an andere Flüchtlinge erinnern, die in der Schweiz aufgenommen wurden?
Ausser den Juden kann ich mich nur noch an die Polen erinnern, die wie schon gesagt, sehr viel auf den Feldern halfen.
Du kennst sicher das Sprichwort: "Not macht erfinderisch'. Fällt Dir dazu etwas ein in Bezug auf die Kriegsjahre?
Ja, das ist schon wahr. Man hat viele Dinge anders gemacht. Als Beispiel: Den Mantel auftrennen und daraus ein Kleid nähen. Oder beim Kochen das mit der Kochkiste als Deckel. Hatte Zucker gefehlt, so nahm man Birnell. Das war Zuckerersatz (war Birnenhonig), vielleicht vergleichbar mit dem heutigen Assugrin. Und zum Thema Notvorrat: Wir hatten diesen in unserem Keller. Hätten wir aber keine Massnahmen getroffen, so wären Tiere hineingeraten und hätten alles verfressen. Damals stellten wir eine Kommode schräg in die Ecke, so dass wir die Kiste dahinter verstauen konnten. Und speziell beim Reis hiess es, man solle Nägel darin aufbewahren. So unglaubwürdig es tönt, aber das schreckte wirklich die Tiere ab. Was auch noch war: Wir und viele andere machten Eier ein. Weil wir nicht so viele Eier essen konnten wie wir erhielten, mussten wir sie einmachen, damit sie nicht verdarben. Aber das war eine schleimige Angelegenheit, ich hatte diese Eier nie gern. Hafer konnte man nicht zu viel haben, denn die Tiere gingen schnell hinein. Dagegen hatten wir leider keinen Trick. Öl war auch auf der Notverordnungsliste, ebenso Mineralwasser. Klar kam niemand den Vorrat überprüfen, aber man hatte ihn ja im eigenen Interesse. Ebenfalls haben wir sehr viel gedörrt. Zum Beispiel Bohnen, Zwetschgen und Apfel. Ich denke, das habe ich aus dieser Zeit, dass ich heute noch immer einen gewissen Vorrat zu Hause habe.
Eine weiteres Hilfsmittel um zu sparen: Wie legten Zeitungspapier in Wasser ein. Nach einer Weile nahmen wir es wieder heraus und formten es zu Quadern. So liessen wir es trocknen, so dass dies für uns einen Brikettersatz gab. Ebenfalls wurde Torfwürfel gestochen, um damit zu heizen. Keine Erfindung, aber eine Massnahme in der Not war, dass die Bäcker nur schon einen Tag altes Brot verkaufen durften. Von diesem ass man nicht so viel und wurde schneller satt.
Hattest Du irgend ein spezielles Erlebnis während des Krieges, das Dir in Erinnerung geblieben ist?
Da fällt mir eigentlich nur meine Konfirmation 1943 ein, aber an Details kann ich ich gar nicht mehr erinnern. Auf alle Fälle wurde ich am Palmsonntagnachmittag konfirmiert. Was uns fürchterlich geärgert hat war, dass unser Vater mit vielen anderen wütenden Männern ausgerechnet an diesem Sonntag der Konfirmationen an eine Probemobilmachung musste. Da waren wirklich alle wütend auf den Hitzkopf, der diese stupide Idee hatte. Also waren nur meine Mutter und mein Bruder anwesend. Meine Gotte konnte zum Beispiel nicht kommen, da sie zu wenig Geld hatte. So erging es auch den anderen Verwandten.
Was denkst Du, wäre der Ablauf derselbe gewesen, wenn nicht Krieg gewesen wäre? Oder spielte das keine grosse Rolle?
Ich denke, dass wir mehr Geld gehabt hätten und somit essen gegangen wären. So hatten wir kein Geld dazu! Ich weiss nur noch, dass ich von meinen Eltern ein Goldkettchen erhielt. Fast überflüssig zu sagen ist, dass dieses Kettchen sicher nicht echt Gold war Aber ich habe es noch lange getragen. Das war mein Andenken an diese Zeit.
Kriegsende
Gehen wir doch zum Kriegsende über: War für Dich das Ende absehbar?
Ja, man hatte schon ein bisschen aus den Zeitungen und von von Salis vernommen, dass der Krieg bald fertig sein würde. Ja und die Invasion war auch noch eine grosse Hoffnung. Das war was. Wir waren ganz klar auf der Seite der Alliierten. Mit der Zeit wurde die Unterlegenheit der Deutschen offensichtlich und es war zum Glück nur noch eine Frage der Zeit.
Du hast gesagt, dass gegen Kriegsende die Informationen über Deutschland besser wurden. Was habt Ihr denn erfahren?
Ja, die leidige Geschichte mit den Konzentrationslagern. Wie immer wurde über den Kriegsverlauf der Alliierten berichtet. Somit auch über die Deutschen. Was man lange nicht wusste war, ob Hitler tot war oder nicht. Man meinte schon einmal während des Krieges, er sei gestorben, was aber leider nicht stimmte.
Was hast Du unmittelbar nach dem offiziellen Kriegsende getan, wie hast Du Dich gefühlt?
Ja, ich war sehr erleichtert. Es fiel uns allen ein Stein vom Herzen. Ich war ja noch in der Handelsschule und wir gingen dann mit dem Rektor auf eine Anhöhe, dort wo jetzt das Konservatorium ist, und dort feierten wir dann. Und eine Mitschülerin verteilte uns Stofftüchlein mit den Fahnen der Alliierten drauf. Wir und alle anderen hatten einfach riesige Freude, dass das ganze vorbei war. Ja, das Ende war einfach ganz schön. Und es läuteten überall die Kirchenglocken. Eine wunderbare Sache und eine nicht vorstellbare Erleichterung.
Wurde die Verdunkelung gerade aufgehoben?
Nein, das ist noch interessant. Die Verdunkelung wurde schon am 12. September 1944 aufgehoben. Da bestand demnach keine Gefahr mehr, überfallen zu werden.
Nachkriegszeit
Der Krieg war zu Ende. Das ganze Ausland war ziemlich zerstört. Wurde denn in der unversehrten Schweiz das Leben schnell wieder normalisiert?
Nein, das dauerte eine ganz schön lange Zeit. Alles kam nur ganz langsam wieder in Schwung. Die Lebensmittelmarken blieben als Beispiel noch bis ins Jahre 1948 obligatorisch! Auch die Pflichtlager der Geschäfte waren noch viele Jahre aktuell. Man konnte ja nie wissen, was weiter noch passieren würde. Ein weiterer Faktor war wie du gesagt hast, dass das ganze Ausland zerstört war und erst wieder neu aufgebaut werden musste.
Die äusserst feine Lindtschokolade war erst zwei Jahre nach Kriegsende, also 1947, wieder erhältlich. Während des Krieges gab es die Schokolade der Fabrik Sposa. Diese war mit wenigen Punkten erhältlich.
Vom Ausland weiss ich, dass England sicher noch bis 1951 Lebensmittelmarken hatte, denn zu dieser Zeit machte ich in England Ferien. Als wir etwas essen wollten, mussten wir uns zuerst Lebensmittelmarken besorgen! Eine weitere Geschichte die mir geblieben ist, stammt aus meiner Zeit 1948 in Holland: Ich war mit einer Freundin dort in den Ferien. Wir waren zum ersten Mal in Holland. Die Deutschen waren verständlicherweise äusserst verhasst. Sie hatten ja neben der Besetzung bei ihrem Rückzug die Dämme gesprengt, so dass viel Land überflutet wurde. Um nicht als Deutsch abgestempelt zu werden, trugen wir gegen aussen immer sichtbar ein Schweizerkreuz auf uns. Ebenfalls sprachen wir bis die Einheimischen uns jeweils als Schweizer erkannten nur Französisch oder Englisch.
Heute
Sehen wir den Krieg und seine Folgen aus heutiger Sicht an: Was denkst Du von den Beschuldigungen der amerikanischen Juden?
Das ist furchtbar. Das finde ich eine Frechheit. Das ist übertrieben.
Hast Du denn von all dem in der Kriegszeit nichts mitbekommen?
Nein, nein. Aber vielleicht war ich auch einfach noch zu jung. Aber ich finde Cotti sollte ein bisschen besser auftreten und einmal diese Botschafter von Bern zitieren. Ich finde das eine Frechheit was diese Amerikaner sich erlauben und was sie mit uns machen wollen. Vor 100 Jahren hatten diese noch Sklaven und auch heute sind sie nicht die besten. Wie sich die Amerikaner gegenüber den Indianern benehmen, ist auch nicht richtig. Sie wollen immer die Weltpolizei spielen. Das passt einfach nicht zusammen mit all diesen Vorwürfen die sie uns machen.
Kannst du das glauben, dass das wahr ist?
Es wird sicher etwas Wahres daran haben, aber nicht in diesem Masse. Etwas ist schon dran, aber dass wir solche Nazifreunde gewesen sein sollen, das glaube ich nicht. Klar gab es solche und nicht nur einer, aber dass die ganze Schweizer Bevölkerung in einen Topf geworfen wird, nein, das finde ich nicht gerecht. Da sollte Cotti mehr unternehmen. Die ganze Sache macht mich wütend. Aber zur Zeit des Krieges habe ich sicher nichts gewusst. Das kam ja erst später zum Vorschein. Und das sind jetzt 50 Jahre seither!
Findest Du man sollte ihnen alles zahlen, nur einen Teil oder was denkst Du?
Ich bin für diese Solidaritätsstiftung, aber sie sollten dabei mehr fürs Inland schauen oder für ein Hilfswerk. Aber nicht für die Juden. Die Juden erhalten ja von den Banken ihr Geld. Sie sollten das Geld besser Caritas oder solch einer Organisation spenden und dort sind ja dann auch Juden betroffen. Bloch und Sigi Feigel sind auch nicht einverstanden mit den Amerikanern. Und sie sind auch Juden. Vielleicht haben sie auch eine andere Einstellung zur Schweiz, weil sie hier in die Schule gegangen sind und das Ganze aus einer anderen Perspektive erlebten.
Ist Dir während des Krieges etwas vorbehalten oder verfälscht mitgeteilt worden?
Ich weiss nur noch, als die ganze Geschichte mit den Konzentrationslagern auskam. Das war ein grosser Schock. Das konnten wir nicht verstehen. Vielleicht gab es auch wenige Leute, die etwas oder alles wussten.
Und war das, weil die Deutschen dies so gut versteckt hatten?
Das weiss ich auch nicht. Und jetzt kommen sie ja auch mit dem Nazigold. Von dem haben wir auch nichts gewusst. Aber wir Schweizer erscheinen ja in einem ganz schlechten Licht. Vermutlich haben die höheren Angestellten der Banken diese Sachen gemacht. Aber wenn sie dies nicht gemacht hätten, wären wir vielleicht auch überfallen worden. Ich weiss es ja auch nicht. Ja das belastet mich schon, was jetzt veröffentlicht wird. Obwohl unsere Generation nicht schuldig ist und erst nach 50 Jahren werfen sie uns all das vor.
Was sagst Du zu den Vorwürfen, dass die Schweiz ebenfalls Konzentrationslager gehabt hätte?
Das ist mit Sicherheit nicht wahr!!! Klar, dass die Unterkünfte nicht mit Polstermöbeln ausgestattet waren, aber das stimmt wirklich nicht. Das haben auch etliche internierte Juden und andere Flüchtlinge betätigt. Diese Anschuldigung ist absurd und aufs höchste abzuweisen!!!
Ich möchte Dir, Irene Arn, vielmals für dieses Interview bedanken!!! Deine Offenheit und Deine Schilderungsbereitschaft haben mir sehr geholfen! Deine tolle Vorbereitung und Dein Interesse an meiner Aufgabe weiss ich sehr zu schätzen! Vielen Dank.
Analyse
Ein wichtiges und viel erwähntes Problem in der Kriegszeit war der Geldmangel. Irenes Familie hatte sich zwar immer über Wasser halten können, aber der Geldbeutel hat nicht einmal für ein Konfirmationsessen in einem Restaurant gereicht. Ebenfalls hat sie ihren Wintermantel mit ihrer Mutter teilen müssen. Das ist für mich aus der heutigen Zeit unvorstellbar. Dafür haben sich die Leute innerhalb ihres Freundeskreises viel geholfen und sicherlich auch helfen müssen. Die zwischenmenschlichen Beziehungen hatten einen sehr hohen Stellenwert, man kann sich fragen, wie dies heute ist. Doch so erging es damals dem grossen Teil der Bevölkerung. "Alle sassen im gleichen Boot', wie Irene im Interview sehr treffend und bildlich formuliert hat. Dadurch wurden sehr viele kleinere Erfindungen gemacht, welche das Alltagsleben erleichterten und erträglicher machten. Ich denke dabei an die von Irene erzählten Beispiele, wie die Kochkiste für die Kartoffeln, das Zeitungspapier, das zu Briketts umfunktioniert wurde oder die Nägel im Reis als Schutz vor Tieren. All diese Beispiele bestätigen das Sprichwort "Not macht erfinderisch', was ich mir auch gut vorstellen kann.
Was mich jedoch sehr überrascht hat, war diese Vorsicht mit der eigenen Meinungsäusserung auf der Strasse. Ich hätte nicht gedacht, dass dies ein so grosses Problem war. Damit kam bei den kleinsten undeutlichen Aussagen Misstrauen auf, was in einer Notsituation nicht gerade erleichternd wirkt. Schlimm war auch die Ungewissheit vor der Zukunft. Was wird noch geschehen, wird mein Vater noch zurückkehren, werden wir morgen angegriffen? Diese ganzen Fragen belasteten meine Tante. Jedoch viel mehr dadurch getroffen war meine Grossmutter: Sie wäre bei einem Angriff alleine in ihrer Wohnung in Luzern gewesen, denn der Grossvater wäre an der Front gewesen und die Kinder in den Bergen in einer ersten Sicherheit. Wie im Interview erwähnt, war für sie diese Hilflosigkeit und Ungewissheit schrecklich und sie hätte sich in einer solchen Situation das Leben genommen, was sie mehrere Male erwähnte. Ich glaube zu wissen, wie diese unangenehme und fortwährend bange Lage war. Vermutlich war es noch schlimmer und bedrückender, als ich je eine Situation empfand.
Erstaunt hat mich, dass Irene und die gesamte Bevölkerung erst so spät von den Konzentrationslagern erfahren hatte! Ich dachte, das sei viel früher bekannt gewesen und es seien viel mehr Informationen über die Deutschen vorhanden gewesen. Von Salis konnte anscheinend auch nur über die Kriegsereignisse und über die Situation von Seiten der Alliierten berichten. Dieser vielbesagte Freitagabend muss zusammen mit den Zeitungsberichten wirklich sehr informativ gewesen sein, denn ich habe Irenes Tagebuch aus dem 2. Weltkrieg erhalten. Das etwa 180 Seiten umfassende Tagebuch ist äusserst sauber und präzis geführt. Es enthält leider keine persönlichen Empfindungen oder Erlebnisse, sondern "nur' Kriegsfakten. Von jedem Kriegsereignis wurde ein Eintrag gemacht, vielmals mit einem Zeitungsbild ergänzt. Das Tagebuch beginnt mit der Eroberung Tunesiens und ist von Irene bis zum Kriegsende durchgezogen worden. Erwähnenswert finde ich den bescheidenen Titel: "Kleine Chronik zur Zeit des zweiten Weltkrieges.'
Toll finde ich Irenes Schulerlebnisse mit den Juden: Sie musste jeden Samstagmorgen die Schulbücher und Hefte für die in der Nähe wohnende Jüdin tragen. Juden ist es untersagt Samstags zu tragen. Irene hat die Jüdinnen in ihrer Klasse als eine Bereicherung empfunden. Nicht allen Leuten erging es so, wie Sigi Feigel nach seiner Matura erfahren musste. Er hätte angeblich die Karriere seines besten Freundes, einem Schweizer, verhindert. Nur aus diesem Grund ging eine längere Freundschaft in Brüche, was leider auch zeigt, dass nicht alle Schweizer gut auf die Juden zu sprechen waren.
Eine viel erwähnte Person in diesem Interview ist General Guisan. In der Primarschule habe ich schon ein bisschen von ihm vernommen. Dass er jedoch eine so wichtige und geschätzte Person war, habe ich nicht gewusst. Nach Irenes Meinung war er wie ein Vater für die ganze Nation. Sie und die Bevölkerung hatten das Gefühl, er mache alles richtig. Irene sagte mir, dass er viel bei den einfachen Leuten und den Soldaten war. Sogar mein Vater, der bei Kriegsausbruch 4 Jahre alt war, bestätigte all diese Ausserungen. Dieses Thema interessierte mich und ich begann der Frage der Beliebtheit nachzuforschen. Dabei fand ich einen passenden Artikel in einer Schweizer Illustrierten. Er stammt aus der Gedenkausgabe nach dem Tod von General Guisan am 12. April 1960 und bestätigt alle in diesem Interview gemachten Aussagen:
"Der populärste Mann
In der Schweiz kann Volkstümlichkeit nicht künstlich erzeugt werden. Sie entsteht spontan aus einer Mischung von Respekt und Zuneigung, wobei die Achtung der Leistung gilt, die Liebe aber der Person. General Guisan wurde nicht deshalb so populär, weil er ausser seiner französischen Muttersprache tadellos schriftdeutsch und ausserdem noch «bärndütsch» konnte, auch nicht deshalb, weil er wie viele andere Schweizer manchmal in gemütlichen Stunden einen Jass klopfte. Etwas näher kämen wir einer Antwort, wenn wir an seien Inspektionsreisen bei der Truppe zurückdenken. Er liebte es, die guten Schützen auszuzeichnen. Er zog bald da, bald dort einen Unteroffizier, einen Soldaten ins Gespräch und erkundigte sich oft nach den Lebensumständen des einzelnen. Wenn es ein Landwirt war, wollte er wissen, wieviele Jucharten Land und wieviel Vieh der Betrieb umfasste. Er wich aber auch dem Gespräch mit der Zivilbevölkerung nicht aus. Er überraschte immer wieder durch sein ungeheures Namen- und Personengedächtnis und durch seine Schlagfertigkeit. Er fand den richtigen Ton im Verkehr mit dem Soldaten und dem Obersten, dem Arbeiter, der jungen Mutter, der alten Dame. Da war nichts von jener Machtgeschwollenheit, die den Verkehr mit vielen kleinen Königen unserer Republik so sehr erschwert, sondern eine natürliche Überlegenheit und ungekünstelte Würde. Die tieferen Ursachen der Volkstümlichkeit unseres Generals liegen in seiner politischen Klugheit, seiner menschlichen Güte und auch in seiner Selbstlosigkeit.'
Ich habe sehr viel von diesem ausführlichen Interview mit meiner Tante Irene Arn profitiert. Dank ihrem guten Gedächtnis, ihrer Offenheit und ihrer grossen Bereitschaft habe ich einen tiefen und gelungenen Einblick in ihr Leben während des 2. Weltkrieges erhalten. Darum möchte ich mich an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich bei Irene Arn bedanken!!! Deine Informationsbereitschaft und Dein Wissen haben mich wirklich beeindruckt!
Ich erachte diese grössere Arbeit als eine wertvolle Bereicherung meines Wissens und habe diese nicht alltägliche Auseinandersetzung mit diesem Thema als positiv empfunden. Damit empfehle ich diese Aufgabe weiter.
Soldatenbriefe (siehe seite 7, untere hälfte)
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