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Versuch einer Erörterung zum Thema Interpretationen
Interpretationen bilden einen wichtigen Teil der Literaturwissenschaft und
werden auch in der Schule relativ intensiv betrieben. Vor allem in Fächern
wie Deutsch, Kunst oder Religion kommt man ohne Interpretationen nicht aus.
Um mit diesem sichtlich wichtigen Teil des Schulunterrichts richtig umgehen
zu können, müssen sich sowohl die Schüler als auch die Lehrkraft darüber im
klaren sein, was eine Interpretation überhaupt ist. Eine mögliche Definition
ist (Meyers Grosses Taschen Lexikon, 1987,279): "Akt und Ergebnis des
Verstehens [] von Kunstwerken allgemein und Dichtung im besonderen."
Diese Definition sagt nichts über die Ergebnisse der Interpretation aus, sie
sieht die Interpretation eher als Prozeß des sich über einen Text
Bewußtwerdens. Andere Lexika zeigen schon die grundsätzlichen
Schwierigkeiten jeder Textinterpretation auf (von Wilpert 1979,374): "Ihre
Grenzen liegen darin, daß schon die Frage nach dem genauen Wortgebrauch
zur Heranziehung weiterer Schriften führt."
Diese Definitionen im Hinterkopf behaltend sollte man sich über die
verschiedenen Sichtweisen eines Textes klar werden. Auf der einen Seite
steht der Produzent des Textes, oder auch Autor, auf der anderen Seite steht
das Publikum oder die Leserschaft. In der Mitte liegt der Text als
Kommunikationsmedium. Beim Schreiben eines Textes will der Autor meist einen
oder auch mehrere Gedanken oder Sachverhalte ausdrücken, um sie der
Öffentlichkeit mitzuteilen. Dies kann man auch als die Intention des Autors
bezeichnen. Im Zuge einer Interpretation setzt sich nun der Leser im Detail
mit dem Text auseinander, mit dem Vorsatz den Text zu verstehen. Meist kommt
der Leser dabei auf eine oder mehrere Varianten, wie der Text, oder auch nur
ein Teil des Textes, zu verstehen ist. Besonders interessant wird es, wenn
eine direkte Kommunikation zwischen Autor und Leser stattfindet und sich
dabei herausstellt, daß die Intention des Autors nicht mit der
Interpretation des Lesers übereinstimmt. Man sollte hier nicht der Fehler
begangen werden zu versuchen, eine Meinung als richtig - und folgerichtig
die andere als falsch - abzustempeln, vielmehr ist hier Toleranz gefragt.
Ein Text kann einen Sachverhalt oder einen Gedanken nicht exakt abbilden.
Beim Verfassen des Textes nimmt der Autor einen Abstraktionsprozess vor, bei
dem seine Interpretationen des Sachverhaltes einfließen. Genau dieses
Abstrahieren bewirkt die Mehrdeutigkeit eines Textes, da die gleiche
Abstrahierung für viele verschiedene konkrete Sachverhalte und Gedanken
stehen kann. An einem Beispiel aus der Kunst läßt sich das gut erklären: Als
Rembrandt seine berühmten Portraits malte, versuchte er seine Vorlage (die
Person) so realistisch wie möglich abzubilden. Indem er jedoch die
Vorderseite einer Person malte, ist die Hinterseite der Person, die wohl auf
jeden Fall existiert, nicht abgebildet, und somit der Vorstellung des
Betrachters überlassen. Alles, was jedoch vollkommen der Vorstellung des
Publikums überlassen ist, rutscht in die Beliebigkeit ab, da keine der
Vorstellungen überprüfbar ist. Eine ganz radikale Abstrahierung eines
Bildnisses ist die Nichtexistenz desselben, weil sich in das Nichts so
ziemlich alles hineininterpretieren läßt.
Was hat nun der Vergleich mit dem Bild mit einem Gedicht zu tun? Wenn man
die Bildinformation der im Text enthaltenen Information gleichsetzt, und das
nicht Dargestellte im Bild dem nicht Dargestelltem im Text, dann wird
schnell klar, wo sich Parallelen auftun. Oder kurz: was der Schöpfer des
Werkes nicht eindeutig festlegt, muß das Publikum mit Hilfe seiner
Vostellungskraft ergänzen.
Über die Richtigkeit einer der verschiedenen Interpretationen sagt Eco
(1992; 54): "Der Text steht da, und er bringt seine eigenen Interpretationen
hervor." Oder am Beispiel des Bildnisses: Jeder Betrachter kann in dem Bild
etwas anderes sehen. Je nach Grad der Abstrahierung ist der Spielraum der
plausiblen Interpretationen mal größer, mal kleiner. So ist zum Beispiel in
einem Zeitungsartikel der Interpretationsspielraum sehr klein, wohingegen er
in einem Gedicht schon erheblich größer ist. Aber in jedem Fall existiert er.
In welche Richtung der Text verstanden wird, hängt jedoch vom Leser ab. Es
spielen die persönlichen Erfahrungen, das Vorwissen und die momentane
Situation des Lesers eine Rolle. Dies sollte auch bei der Betrachtung und
Bewertung einer Interpretation beachtet werden. "Nicht die "Richtigkeit" der
Textauslegung, sondern ihre Überprüfbarkeit und Kommunizierbarkeit sind das
Ziel literaturwissenschaftlicher Reflexion " (Schutte:1997, 4). In jeder
Wissenschaft, in der Texte das Objekt und die Grundlage von Forschung sind,
wie etwa jede Sprache, Religion, Archäologie oder auch Geschichte, entzweien
sich die Expertenmeinungen meist dann, wenn es darum geht, einen
vorliegenden Text in eine heute allgemein verständliche Form zu übersetzen
oder seine tiefere Bedeutung zu entschlüsseln. Dieses Problem hat eine
solche Bedeutung, daß ihm ein eigener Wissenschaftszweig zugemessen wurde:
die Hermeneutik.
Den Sachverhalt, daß es von einem literarischen Werk legitimerweise
unterschiedliche, mit dem gleichen Anspruch auf Geltung vorgetragene
Lesarten geben kann, faßt die Hermeneutik (= die Theorie des Verstehens und
der Interpretation) in die These: "Auslegungen literarischer Texte sind
historisch und sozial variabel. () Literarische Texte haben einen
"Eigensinn" der mit dem vom produzierenden Subjekt gemeinten und dem vom
rezipierenden Subjekt aufgefaßten Sinn nicht übereinstimmt. Den spezifischen
, prinzipiell unaufhebbaren Unterschied zwischen Intention und Verständnis,
der hier sichtbar wird, nenne ich die Hermeneutische Differenz. Der Begriff
bezeichnet den Sachverhalt, daß der literarische Text nicht nur eine
Bedeutung hat ()." (Schutte 1997, 21ff; Hervorhebungen im Original)
Auch dies läßt sich mit einem Beispiel aus den abbildenden Künsten gut
beschreiben. Nehmen wir an, ein Fotograf fotografiert ein Bauwerk. Dann ist
das Bauwerk die Vorlage (also die Entsprechung zum Text) und die
Photographie die Deutung. Je nach Standpunkt, Blickwinkel oder Lichteinfall
bekommt somit der Betrachter einen anderen Eindruck vom Subjekt und in Folge
dessen bekommt das Subjekt einen andern Charakter. Wichtig dabei ist: Keines
der entstehenden Fotos ist falsch, sie sind nur verschiedene Sichtweiten
eines vorgegebenen Werkes.
Bibliographie
Meyers Grosses Taschenlexikon Band 10
2. Auflage Mannheim 1987
Gero von Wilpert:
Sachwörterbuch der Literatur
6. Verbesserte und erweiterte Auflage
Stuttgart 1979
Umberto Eco:
Die Grenzen der Interpretation
Aus dem Italienischen von Günter Memmert
München 1992
Jürgen Schutte:
Einführung in die Literaturinterpretation
Vierte Auflage
Stuttgart 1997
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