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Ceija Stojka "Wir leben im Verborgenen"
1. Entstehungszeit
Schriftliche Literaturen der Roma sind uns in Österreich erst seit wenigen Jahren bekannt. Sie zählen zu der Gruppe der Minderheiten, die aus Angst vor noch stärkerer Diskriminierung und Unterdrückung lange davor zurückschreckten, ihr Schicksal schriftlich festzuhalten. Das Leben der Sinti und Roma ist von einer Geschichte der Verfolgung bestimmt. Seit Ankunft der Zigeuner im Mitteleuropa im 1und 15. Jahrhundert war das Mißtrauen der seßhaften Bevölkerung gegenüber dieser Minderheit sehr groß. Im 15. Jahrhundert, zum Beispiel, wurden Zigeuner auf einem Reichstag für "vogelfrei" erklärt, was natürlich vollkommene Rechtlosigkeit bedeutete. Später galten sie sogar als Schuldige bei Seuchen und standen in den Augen der abergläubischen Bevölkerung im Bund mit dem Teufel.[1] Zweifelsohne erreichte ihre grausame Verfolgung zur Zeit des Nationalsozialismus ihren Höhepunkt:
"Gemeinsam mit Juden, politischen Häftlingen, Behinderten und Homosexuellen werden die Zigeuner zu Opfer des totalitären Regimes. Der rassenideologische Blut und Boden Mythos des Dritten Reiches sowie darauf aufbauendes anthropologisches und biologische Schrifttum stempeln den Zigeuner zum Untermenschen, zum Parasiten des deutschen Volkes."[2]
Die Erinnerungen an diese Grausamkeit in den Konzentrations- und Vernichtungslagern und Träume, in denen ihre Erlebnisse bis zum heutigen Tag gegenwärtig bleiben, brachten Roma dazu, jahrelang ein Gespräch über diese Zeit zu verweigern.
Vor allem der Verlust von Angehörigen und Freunden war groß und in den wenigen, die der Verfolgung entkommen waren, hat somit "das Schweigen alle Sätze aufgefressen. Andere haben niemals geredet - Ihr sprachliches Entsetzten hält an." Weil das Erzählen oft zu schmerzhaft war, sind uns viele Geschichten ihres Leidens und ihres Überlebenskampfes verlorengegangen .
Erst in den letzten Jahren, genauer gesagt seit Ende des Zweiten Weltkrieges, haben einige Zigeuner den Weg in die Öffentlichkeit gewagt. Auch wenn es kein leichter Schritt war, begannen sie erstmals schriftlich Zeugnis über ihre Unterdrückung im Nationalsozialismus zu geben. Einerseits schreiben viele, um ihr Leben aus der Anonymität zu holen, aber auch um die schrecklichen Erfahrungen der Diskriminierung zu verarbeiten.
Trotzdem ist an dieser Stelle zu erwähnen, daß heute ein nur recht geringer Prozentsatz unter den Zigeunern, dieses für sie neue Medium verwendet, um ihre Umwelt, Lebensweise, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu beschreiben. Häufig findet nämlich eine solche Auseinandersetzung mit der jeweiligen Lebenssituation durch musikalische Ausdrucksmittel oder auch im Bereich der bildenden Kunst statt.[4]
Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom - Zigeunerin. zählt somit zu den ersten und wenigen Aufzeichnungen, in denen Roma und Sinti ihre Erinnerungen und Schrecken der Konzentrations- und Vernichtungslager schriftlich festhalten. Genau gesagt ist Ceija Stojka die zweite Autorin, die über ihre Erlebnisse als Gefangene berichtet. Ihre Autobiographie erschien erst drei Jahre nach der Herausgabe des Werkes "Zwischen Liebe und Haß" von Philemona Franz. Laut Beate Eder war Stojka und ihrer Herausgeberin Karin Berger diese Autobiographie noch nicht bekannt. "So erklärt sich auch folgender Hinweis im Vorwort Bergers zu Wir leben im Verborgenen: Ihre Aufzeichnungen sind die bisher einzigen von Roma oder Sinti schriftlich festgehaltenen Erinnerungen an die Schrecken der Konzentrations- und Vernichtungslager. In einem weiteren Aufsatz erwähnt Beate Eder, daß Roma - Autoren in den meisten Fällen einander gar nicht kannten. Dadurch ließe sich auch die Gemeinsamkeit in der Auswahl der Themen unter den Roma - Autoren erklären.
Das Erscheinungsjahr des Werkes Wir leben im Verborgenen ( 1989 ) fällt genau mit der Gründung der ersten offiziellen Vertretung von Roma in Österreich, dem Verein "Roma und Sinti - Verein zur Förderung von Zigeunern", zusammen. Dieser Verein hofft vor allem auf ein neues und integratives Zusammenleben von Roma und Nichtroma. Unter der Volksgruppe begann mit dieser Gründung ein Selbstbewußtsein, sie beginnt sich zur Romaidentität zu bekennen. Es kam natürlich sehr rasch zu Publikationen von Literaturen dieser "Minderheit" und engagierte Autoren und Autorinnen hatten nun die Gelegenheit mit zeitgenössischen Schriftstellern dieser Volksgruppe in Kontakt zu bleiben.
2. Entstehungsbedingungen
Roma und Sinti, die ihre Erlebnisse und Lebensweisen schriftlich festhalten, werden bei ihrer Arbeit mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert. In erster Linie wollen sie mit ihren Verschriftlichungen ihrem jeweiligen Land als gleichberechtigte Bürger anerkannt und nicht als Minderheit an den Rand der Gesellschaft gerückt werden. (An dieser Stelle möchte ich auf das Interview mit Ceija Stojka hinweisen. Sie war in den letzten Jahren vergebens darum bemüht, das Wort Minderheit nicht länger für die Volksgruppe der Roma und Sinti zu verwenden. Ceija Stojka nennt Zuwanderer, Migranten, Flüchtlinge und Angehörige ethnischer Minderheiten Wenigerheiten, da sie ja eigentlich dem Merheitsvolk angehören. ) Zuerst stellt sich dem Schriftsteller aus einer Volksgruppe natürlich die essentielle Frage: In welcher Form soll das literarische Werk veröffentlicht werden?
Die Angst vor Diskriminierung führt in vielen Fällen zur Verleugnung der Identität. Dennoch wählen viele Roma - Schriftsteller aus Liebe zu ihrer Volksgruppe und aus Angst vor einem möglichen Aussterben bewußt ihre eigene Sprache, das Romanes. Diese indoeuropäische Sprache besteht aus einer Vielzahl von Dialekten und ist in ihrer schriftlichen Form bis heute noch nicht standardisiert. Natürlich kam es in Laufe der Zeit in allen Ländern, in denen das "wandernde Volk" gelebt hat, zur Aufnahme von Lehnwörtern. "Der Wortschatz der Romadialekte ist vergleichsweise gering: Er setzt sich aus durchschnittlich 1200 Wörtern zusammen, davon entfallen 400-600 auf indische Ursprungswörter, der Rest setzt sich aus Lehnwörter zusammen." Heute wachsen Roma, wenn sie auch nicht mehr auf ständiger Reise sind, meist zweisprachig auf. Sie beherrschen neben ihrem Dialekt die jeweilige Landessprache. Auch Ceija Stojka spricht in ihrem Interview mit Karin Berger über den Gebrauch ihrer Sprache. Auf die Frage, in welcher Sprache die Zigeuner untereinander reden, antwortet sie: "Das Romanes haben wir schon in der Wiege mitgekriegt. Wir haben Romanes gesprochen und wenn wir unter Gadje waren, Deutsch. Es kommt auf meine Laune an."
Meist ergeben sich für die Gruppe, die ihrer Muttersprache bei der literarischen Verarbeitung treu bleibt, bei der Publikation eine Reihe von Problemen. Sie werden oft mit der Tatsache konfrontiert, daß nur wenige Verlage Bücher in Romanes veröffentlichen. Die Chancen steigen, wenn es sich um zweisprachige Texte handelt.
Andere Autoren und Autorinnen wählen die jeweilige Landessprache, um ihre Anliegen Zigeunern sowie Nicht - Zigeunern näher zu bringen. Doch in diesem Fall ergeben sich wieder schwierige Umstände. Wie sollen sie in der jeweiligen Landessprache epische Werke, Gedichte und Theaterstücke veröffentlichen, wenn doch ihr Leben vor der Gefangenschaft von mangelnder Schulbildung gekennzeichnet war? Die Autorin Ceija Stojka war nach dem Konzentrationslager selbst um den Erwerb von schulischen Grundkenntnissen bemüht, da sie ohne Schulbildung keine Chancen zum Überleben sah. In einem Interview mit Karin Berger erwähnt sie, daß sie nach ihrer Entlassung nicht einmal "gescheit" ihren Namen schreiben konnte.[10] Auch wenn es für sie nicht einfach war im Alter von dreizehn Jahren gemeinsam mit Kindern aus der 2. Schulstufe den Unterricht zu besuchen, hat sie Lesen und Schreiben gelernt.
Aufgrund sprachlicher Schwierigkeiten bei der Textproduktion kommen dann viele Roma - Schriftsteller zu Herausgebern, mit denen sie gemeinsam das Werk nochmals durcharbeiten. Herausgeber sehen ihre Aufgabe darin, Autoren und Autorinnen, die Schwierigkeiten mit der Sprache haben, zu unterstützen, ihre Texte zu perfektionieren und womöglich die "richtigen Worte" zu finden. Sie unterstützen sie vor allem darin, in der immer noch fremden Sprache das auszudrücken, was ihnen ein Anliegen ist. Auch Ceija Stojka erzählt im Gespräch mit uns, wie es zur Veröffentlichung ihrer Autobiographie gekommen ist:
"Ich hab´ einen lieben Menschen kennen gelernt - das ist Karin Berger. ( ) Sie hat sich bemüht, ist zu einem Verlag gegangen und der Verlag, der Verlag wollte die Originale haben. Die wollt ich nicht herausgeben, weil so viele Fehler drin sind, weil ich ja nicht lesen und schreiben . Also ja, dann hat sie das also in einem also richtig getippt."[12]
Wir leben im Verborgenen erschien dann unter der Herausgabe von Karin Berger. Stojkas literarischer Beitrag wurde auch noch durch ein Interview ergänzt, um so dem Leser mehr Eindruck in die Lebensgeschichte, Denkweisen und Anliegen der Minderheiten in Österreich zu geben. Durch gewisse Leitfragen die in den Gesprächen immer wieder präsent waren, wie zum Beispiel: "Woher kommen Sie?" "Wie wurden Sie in Österreich aufgenommen?" "In welchem Umfeld sind Sie aufgewachsen?" "Wie und warum haben Sie zu schreiben begonnen?" erfahren wir über die jeweilige Lebenssituation der Autoren.
Der Schreibbeginn ist für viele Roma, die als Außenseiter und Unterdrückte im ganzen Land abgestempelt werden, eine schwierige Zeit des Durchhalten. Vor allem Frauen stehen während ihrer Arbeit am Manuskript vor weiteren Problemen.[13] Von der Volksgruppe werden derartige schriftliche Verarbeitungen nicht als sinnvolle Beschäftigungen, denen eine Frau nach traditionellen Vorstellungen der Roma - Familien nachgehen soll, anerkannt. Auch Ceija Stojka, die ihre Biographie vor allem während ihrer Haushaltsarbeit geschrieben hat, erzählt in unserem Interview über die unterschiedlichen Reaktionen der Verwandten und nächsten Bekannten. Anfangs wurde "das Geschreibe" von ihrem Bruder als Gekritzel abgewertet. Stojka reagierte auf solche und ähnliche Aussagen mit Antworten wie: "Ich muß geduldig sein und ich muß mir Zeit lassen, irgendwann einmal werden sie einsehen, daß es der richtige Weg ist, nicht." . In ihrer Geduld hat sie sich dann auf den besten Weg einer Bestsellerautorin gemacht. In Deutschland ist die Autobiographie fast auf jedem Tisch - was Kultur anbelangt - zu finden und im Laufe der Jahre hat es Japan und Amerika erreicht. Natürlich sind die Geschwister ab einem gewissen Berühmtheitsgrad stolz auf Schriftstellern und Schriftstellerinnen in der Familie. Es kommen sich dann alle Angehörigen irrsinnig wichtig vor, wenn diese kleine Frau plötzlich mit der Welt zu tun hat, die Hand den Höchsten gibt und mit ihnen Gespräche führt.
3. Textsorte: Autobiographie
In Ceija Stojkas Autobiographie Wir leben im Verborgenen steht die bittere Zeit des Nationalsozialismus, der sich die Roma als erste Sündenböcke erwählt hat, im Mittelpunkt ihres Erzählens. Die schriftliche Fixierung ihrer Vergangenheit mag unter dem Volk der Roma und Sinti sehr wohl ein neues Ausdrucksmittel sein. In den vergangenen Jahren wurde die Lebensweise dieser Volksgruppe zwar durch Liedtexte, durch ihre Musik, in Legenden und Märchen ans Tageslicht gebracht, blieb aber vor allem auf die mündliche Form beschränkt. Daher stellt sich bei näherer Betrachtung von Stojkas Werken die Frage: Was hat Ceija Stojka bewegt, ihre Erinnerungen und Schrecken der Konzentrations- und Vernichtungslager in der Erscheinungsform einer Autobiographie schriftlich zu fixieren?
Das Schaffen von Literatur erhält für Autoren und Autorinnen durchaus auch eine psychologische und therapeutische Funktion. Durch das "Aufschreiben" sollen die Erlebnisse aus der Vergangenheit bewältigt werden. Gerade in der schwierigen Situation der Zuwanderer, Migranten, Flüchtlingen und Angehörige ethnische "Wenigerheiten" kann Schreiben zur Überlebensstrategie werden. In ihrer Identitätssuche bedeutet Schreiben zum einen ein Nachdenken über sich selbst und die Gesellschaft, aber für Angehörige des "Mehrheitsvolkes" auch ein Einblick in das Leben fremder Kulturen. Für Ceija Stojka war vor allem die Diskriminierung und Verfolgung unter dem Nationalsozialismus ein wichtiger Auslöser die Vergangenheit schriftlich zu fixieren. Sie selbst erzählt über ihren Schreibbeginn:
"Als ich das Buch geschrieben habe - und das ist die Wahrheit - vor zehn Jahren, da hab ich mich gelöst, also den Druck aus meinen Bauch, wo man immer gesagt hat "Ausschwitzlüge" und "das Gelogene", wo dann mein Bruder .., also ich hab nicht geschrieben für die Öffentlichkeit, ich hab für mich geschrieben."[17]
In den Jahren nach dem Aufenthalt im Konzentrationslager gab es in ihrem Leben keine Bezugsperson, mit der sie Erfahrungen und Erlebnisse ihrer Verfolgung austauschen konnte oder die ihren Erzählungen zugehört hätte. All den Bekannten und Familienangehörige, die die Zeit in den Vernichtungslagern miterlebt haben, fiel es schwer, sich ihre Erinnerungen wieder ins Gedächtnis zu rufen. Es gibt zwar auch heute noch viele Menschen, vor allem Jugendliche, die über das Leben in den Konzentrationslagern erfahren wollen, doch meist können sie nicht konzentriert zuhören oder sich nur schwer in die Zeit der Verfolgung und Ausbeutung zurückversetzen.
In ihrem Gespräch bedauert Ceija Stojka, daß sie eigentlich nie mit ihrer Mutter über die Verfolgung der Zigeuner gesprochen hatte. Sie hatte ja ohnehin soviel Kummer gehabt und deshalb wollte sie Ceija nie damit belasten. Da sie auf ihrer Wanderung durch das weite Land mit ihrer Mutter auf engsten Raum zusammengelebt hatte, kam es natürlich immer wieder zum Austausch von Erinnerungen:
" während ich mit meiner Mutter immer wieder - auch als ich schon Frau war ja, und schon Großmutter geworden bin - Erinnerungen ausgetauscht habe. Zum Beispiel von der Kartoffelschale, die eine Frau, also eine Weißrussin, verloren hat. Und ja, da hab ich gesagt: "Mama kannst dich erinnern?" und sie hat immer gesagt: "Ja, wenn du schälst eine Kartoffel - dann schäl sie dick!" Das sind die Erinnerungen die in mir stark hochgekommen sind: "Mama, kannst du dich erinnern, wenn das noch stärker gewesen wäre, hätten wir noch mehr Kraft gehabt."[18]
Doch der Schmerz war immer zu groß. Es kam nie zu einer Fortsetzung der Gespräche oder zu einer Bewältigung der Vergangenheit. "Ja sie hat immer nur angedeutet, aber sie konnte nie etwas ganz zu Ende - dann ist schon der Schmerz gekommen. Und dann waren ihre Augen schon ganz gläsrig gell, diese blauen Augen, und ich mußte schon mit meiner Stimme spielen"[19] Somit könnt diese Autobiographie auch als Ersatzmedium zur Konversation mit der Mutter betrachtet werden.
Wieder an einer anderen Stelle in unserem Gespräch erzählt die Autoren: "Ich hab für mich geschrieben und wenn ich die Augen zumache: für meine Kinder."[20] Musik und Gesang spielen
im Leben der Roma und Sinti ja eine äußerst wichtige Rolle. In einem anderen Interview mit Karin Berger im Anschluß an das Werk Reisende auf dieser Welt erzählt sie:
"Der Wald rauscht, die Vögel fliegen über dich, die Sonne lacht, du spürst das Gras wachsen, zwischen den Zehen, da kann man nicht einfach nur stumm sein. Man muß, ob man will oder nicht, sich irgendwie ausdrücken, ob es in Liedform ist oder in Gedichten oder indem man Geschichten erzählt. Und der Rom singt. Er singt über alles, es gibt nichts, worüber er nicht singt."[21]
Durch Lieder werden Geschichten erzählt, Lebenserfahrungen ausgetauscht, Gesetzte vermittelt, Traditionen weitergegeben aber auch Gäste willkommen geheißen und geehrt. Im Volk der Zigeuner war die Weitergabe traditioneller Romamelodien und Liedtexten vor allem den Frauen zugeschrieben. Ceija Stojka ließ sich diese Aufgabe und Stellung natürlich nicht nehmen. In ihren Augen mußte die Weitergabe von Traditionen eine lebendige sein und da auf Grund der geänderten Lebensumstände eine Weitergabe durch Musik kaum mehr vorhanden ist, hält sie ihre Lebenserfahrungen für die nachkommenden Generationen in schriftlicher Form fest.
Es gibt unterschiedliche Gründe, die zur Produktion schriftlicher Literatur geführt haben. Sicher jedoch ist, daß Ceija Stojka in ihrer Autobiographie die schrecklichen Erlebnisse aus der Vergangenheit zu verarbeiten versucht. Andererseits holt sie mit ihren Werken die Volksgruppe der Roma und Sinti aus der Anonymität und dem Verborgenen und kämpft engagiert um deren Anerkennung unter dem "Mehrheitsvolk".
Handlungs- und Erzählzusammenhänge
In ihrer Autobiographie Wir leben im Verborgenen berichtet Ceija Stojka von den unfaßbaren Schrecken in den Lagern des Hitlerregimes. Es ist sehr schwierig anhand dieses Werkes eine chronoligische Biographie von dieser Roma - Schriftstellerin zu erstellen. In den Konzentrationslagern war ihr Zeit- und Raumgefühl komplett anders als in den übrigen Jahren ihres Lebens. In den Lagern konnte sie keine genauen Tage, Monate und Jahre wahrnehmen und fand einzig und allein an den Jahreszeiten ihre Orientierung. So nennt sie in Wir leben im Verborgenen nur ungenaue und wage Datumsbezeichnungen, wie zum Beispiel: "Es muß einen Tag vor Jahreswechsel gewesen sein."[22] Trotzdem erzählt sie all die Stationen in der Zeit ihrer Verfolgung in chronologischer Abfolge: Kurz vor der Beerdigung ihres Vaters wird die Familie nach Birkenau gebracht, wo ihr kleiner Bruder an den Folgen von Bauchtyphus stirbt. Als Birkenau aussortiert wird, kommt es zur Trennung der Familie. Ceijas Brüder müssen andere Wege gehen, und die Schwester Mitzi wurde schon zuvor einem anderen Arbeitslager zugeteilt. Gemeinsam mit ihrer Mutter kommt das kleine Mädchen nach Ausschwitz. Nach einem kurzen und grauenvollen Aufenhalt geht es dann weiter in das Frauenlager Ravensbrück, wo ihrer Aussage nach die SS - Frauen noch schlechter als jeder Satan waren . Mit viel Glück gelingt ihnen der Transport auf einem Lastwagen in das Arbeitslager Bergen - Belsen, wo sie nach einer schrecklichen Zeit, die wiederum von Hunger und Not gekennzeichnet war, endlich von den Engländern befreit wurden.
Das Buch selbst besteht aus zwei Teilen. Im ersten Abschnitt wird der Leser mit den Erfahrungen und Erlebnissen der NS - Zeit aus der Sicht eines Zigeunermädchen konfrontiert. Anschließend spricht die Erzählerin in einem Interview mit der Herausgeberin Karin Berger als Erwachsene über die aktuelle Situation der Roma in Österreich. Sie erinnert sich an die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, in der sie mit ihrer Familie und anderen Roma mit Roß und Wagen durch Österreich reist.
In der Autobiographie, im ersten Teil des Buches, hingegen wählt die Autorin nicht die Perspektive des zurückblickenden Erwachsenen sondern die eines Kindes, das erlebt, beobachtet und beschreibt[24]. Sie selbst hat ja auch den Aufenthalt in den Konzentrationslagern, der sie für das weitere Leben sehr geprägt hat, als Kind erlebt.
Wie schon zuvor erwähnt, bedeutet dieses Erzählen aus der Sicht eines Kindes ein "Sich - Zurückversetzten" und ein "Wieder - Erleben", genau wie all ihre späteren Besuche in den ehemaligen Arbeitslager. Aus Gesprächen mit ihr geht hervor, wie genau sie in Erinnerung behält, wo all die Baracken gestanden sind, wo das Krankenlager war, in dem ihr kleiner Bruder Ossi gelegen und gestorben ist. Jedesmal hat sie den Berg der Toten unmittelbar vor den Augen und in jedem Regenguß und Wind, der durch ihr Haar weht, sieht sie eine Begrüßung von den Familienangehörigen und Freunden, die dort ihr Leben lassen mußten.[25]
Auffallend ist auch, daß im Laufe der Erzählung nie von Krieg die Rede ist. Stojka verwendet diesen Ausdruck kaum und beschreibt auch keine genaue Daten aus den Kriegsjahren. Wichtig erscheinen für sie einzig und allein die Jahre 1939, als Zigeunern das Herumreisen verboten wurde, und 1943, das Jahr ihrer Verhaftung. Ihre Unwissenheit über das Kriegsgeschehen kommt vor allem ans Tageslicht wenn sie schreibt: "Er war "Reinarier" und irgendwo in Österreich eingerückt."[26]
5. Eigenarten ihres Schreibens
Als kleines Zigeunermädchen erlebt Ceija Stojka die Ausbeutung in den Vernichtungslager auf ihre eigene Art und Weise, wie sie es später auch auf Papier bringt. Typisch für diese Erzählung aus der Perspektive eines Kindes sind die kurzen und einfachen Sätze. So verzichtet sie bewußt auf eine komplizierte und "hochtrabende" Sprache, wodurch ihre Erzählung einem Gespräch gleicht. Dementsprechend unterstreicht auch die Wahl der Wörter ihre kindliche Tendenz. Neben der Form "meine / unsere Mutter" benutzt sie des öfteren den Ausdruck "meine Mama", der uns ja aus den Mund eines Kleinkindes bekannt ist. Diese kindliche Sprache und Sichtweise bieten dem Leser die beste Möglichkeit, das Erlebte möglichst genau erahnen zu können, sich mit dem Leben der verachteten Minderheiten zu identifizieren und gibt das Gefühl, direkt am Schauplatz des Geschehen anwesend zu sein.
Kennzeichnend für diese kindliche Erzählweise sind unter anderem der wiederholte Stimmungswechsel und die Gabe Kleinigkeiten als "schön" bzw. "herrlich" zu empfinden.[27] Als das Zigeunermädchen über den Transport von Auschwitz in das Frauenlager Ravensbrück erzählt, spürt der Leser zum ersten Mal eine Erleichterung unter den KZ - Häftlingen, da ja bekannt ist, daß sich in Auschwitz die meisten Gaskammern befinden. Den Gefangenen ist es verboten, auf der Fahrt nur ein einziges Wort miteinander zu sprechen, und daher bringt die Autorin ihre Beobachtungen aus der Landschaft, die sie mit einem "Personenzug" durchqueren, auf Papier. Es ist für sie einfach ein herrliches Gefühl, in einem "richtigen Personenzug" mit vier oder fünf Waggons und Bänken darin, auf denen sie sogar Platz nehmen durften, zu fahren. Auch hier wird dem Leser wieder bewußt, welch eine Aufmerksamkeit das Mädchen den Kleinigkeiten und alltäglichen Dingen schenkt, wie sehr sie bei ihren Beobachtungen ins Detail geht. Auf dieser Fahrt wundert sie sich weiters über "richtige" Menschen, die auf dem Acker arbeiten und über "richtige" Bauernhäuser. Für sie ist es ein besonderes Erlebnis den Alltag der "freien" Bevölkerung bewundern zu können, da ihr die Gefangenschaft in den Konzentrationslagern das Gefühl gab, alleine auf der Welt zu sein und als niedriger und unwürdiger Mensch zu leben. Für die Menschen hingegen war dies kein besonderer Zug, denn alle Züge, die von einem Vernichtungslager zum anderen unterwegs waren, glichen einander. Wenn auch Gefangene auf diesen Zügen transportiert wurden, mußten sie nur tatenlos zusehen und widerstandslos schweigen.
Auffallend an dieser Stelle ist auch, mit welcher Art von Adjektiva die Autorin die Landschaft beschreibt:
"Also schauten wir alle aus dem Fenster, wir waren ja in der Freiheit. Wir sahen richtige Menschen, die auf dem Acker arbeiteten. Die einen mähten das Gras, die anderen setzten irgendetwas in den guten Boden. Wir sahen braune, schöne Kühe und Arbeitspferde, mitunter sogar einen Hasen und fröhliche, gutaussehende Kinder mit ihren Müttern. Für Minuten vergaßen wir alles. Der Zug fuhr etwas langsamer, wir sahen richtige Bauernhäuser mit Vieh und Menschen. Für sie war es kein besonderer Zug, denn es war ein Zug wie jeder andere. Bald fuhr der Zug immer schneller, die Bauernhäuser wurden immer kleiner. Nun ging es auf einer langen Ebene dahin, es gab keine Straßen und keinen Weg, nur Wiesen und Wald."[29]
Der "gute Boden", die "schönen Kühe", der Anblick eines "Hasen", "die fröhlichen und gutaussehenden Kinder mit ihren Müttern" zeigen die positive und glückliche Stimmung des kleinen Zigeunermädchens. Die wunderschöne Landschaft mit "dem frisch gemähten Gras", dem "guten Boden" und die "Wiesen und Wälder" geben den Gefangenen ein Gefühl der Freiheit. Für kurze zeit wird hier vielleicht ein Traum von einer anderen, besseren Welt war. Für Minuten vergaßen sie sogar ihr Schicksal, die Gefangenschaft und Trauer um die sterbenden Freunde und Familienangehörige. Dieser Ausschnitt erinnert genau an die Erzählungen von Ceija Stojkas weiteren Werk Reisende auf diese Welt. Aus dem Leben einer Rom - Zigeunerin. In diesem Buch erzählt die Schriftstellerin über die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, als sie mit ihrer Familie und Freunden durch Österreich unterwegs war. Auch diese Reisen mit "Roß und Wagen" schenkten ihnen eine Reihe von schönen Naturbildern, die dem Mädchen auf der Fahrt in das Frauenlager wieder ins Gedächtnis kommen. Gerne denkt sie zurück an die Zeit, als sie an einem Lagerplatz vor dem Wald Rast gemacht haben, beim Lagerfeuer getanzt und gesungen und manchmal sogar im Freien übernachtet haben.
Kurz darauf wird das Zigeunermädchen zusammen mit ihren Genossinnen in das Frauenlager eingeliefert. Es kommt zu einem plötzlichen Stimmungswechsel. Wie ein Kind, dem beim Lachen noch die Tränen von zuvor über das Gesicht laufen, schreibt sie nun in einer ganz anderen Sprache, verwendet eine unterschiedliche Art der Adjektiva. Im Gegensatz zu den wunderschönen Landschaftsbildern mit den saftgrünen Wiesen und Wäldern, regiert hier die nüchterne und bittere Sprache des Konzentrationslagers. Das Mädchen hat nun wieder die braungrüne Uniform der SS - Soldaten vor den Augen, die Beleuchtung war ziemlich düster und noch dazu war es schon finster, als sie das Lager betraten:
"Sie waren bei Gott keine sanften Frauen. Sie übernahmen das Kommando und schrien: "Alles antreten. Marsch, Marsch!" Nun standen wir alle wieder beisammen. Die Beleuchtung war ziemlich düster. Wir mußten nicht weit gehen, schon waren wir durch das Tor: Das war das Frauenlager Ravensbrück. Wir marschierten, es war schon ganz finster.. Ein Knüppelschlag machte dem ein Ende."[30]
In all ihren Werken verwendet Ceija Stojka Bilder aus der Natur und ganz unterschiedliche Landschaftsbilder. In einem Gespräch erzählt sie einmal: "Natur ist mein Leben, ich halte mich gerne an einen Baum an."[31] Auch aus dem Arbeitslager in Bergen - Belsen wird ihr ein Baum, der vor ihrer Baracke gestanden ist, ewig in Erinnerung bleiben. Sie nannte diesen schönen Baum, dessen kräftige Aste bis auf den Boden reichten, Lebensspender, denn er löschte immer wieder Durst und Hunger, gab neue Energie und Kraft, die ja lebensnotwendig war. Er hatte schöne, dicke hellgrüne Blätter und durfte natürlich in ihrer Erzählung nicht fehlen. Die dicken Blätter enthielten einen süßlichen Saft, der für die Kinder als Lebensspender wirkte. Des öfteren gab ihr die Mutter den Rat: "Nimm und iß, es die dicke, gelblich, weiße Masse aus den blättern des Baumes ist sehr gut, du wirst sehen. Nun wirst du so stark wie dein Lebensspender."
Im Laufe der Erzählung stößt der Leser immer wieder auf Zitate aus der Bibel. Im Frauenlager Ravensbrück wird ihr zum ersten Mal der Unterschied zwischen den hübschen SS- Frauen und den abgemagerten Gefangenen bewußt. Als die Kinder einen Streifen mit der Aufschrift "Arbeitsscheu" auf die linke Seite ihrer Kleider nähen mußten, fiel Ceija das Zitat aus der Bibel ein: "Nun waren wir alle gekennzeichnet: Der letzte Abschaum der Menschheit"[34] In ihrer Not beteten sie öfters zu Gott, und als ihre Mutter einmal die "Stubenfreunde" mit den Worten beruhigte: "Vielleicht hilft uns jetzt Gott, wir müssen alle fest daran glauben.", hatten die Frauen plötzlich nicht mehr so viel Angst und ihre Hoffnung wuchs von neuem. Diese Ausdrücke und Ausrufe zeigen, wie fest sie an Gott glaubt und trotz ihrer Not und Elend auf ihn beharrt. Immer wieder schöpft sie neue Kraft aus dem Glauben und hält durch bis zum Ende.
Hier stellt sich natürlich die Frage, ob Ceija Stojka durchgehend in ihrem Werk ein Kind erleben und erzählen läßt. Die Erzählerin unterbricht auch öfters ihre Schilderung mit Ausrufen, die sie in Klammer setzt. In den Überlegungen: "Aber wie konnte ein Kind arbeitsscheu sein?" oder "Wir waren gekennzeichnet: der letzte Abschaum der Menschheit" spricht sicherlich nicht ein Kind, sondern die Erwachsene, die über das Geschehen reflektiert.[36] Leider Gottes bleibt der wahrhaftige Grund für diese Einschübe, die in der Autobiographie eher selten sind, jedoch auch noch nach unserem Gespräch mit der Roma - Schriftstellerin ungeklärt .
6. Figurendarstellungen
6. 1. Darstellung der Mutter
Ceija Stojkas Erzählung kreist immer wieder um die Gestalt ihrer Mutter. Als ihr Vater, noch bevor sie in das Konzentrationslager gebracht wurden, sterben mußte, bleibt die Mutter die einzige Bezugsperson für die Kinder und für Ceija über ihren Tod hinaus. Ihre Mutter war eine "tapfere und kluge Frau" und für Ceija galt sie als "Vorbild", wie eine Frau ihr Leben meistert, und ein Hoffnungsschimmer in jeder aussichtslosen Situation in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Mit nur wenigen Worten erzählt die Rom - Schriftstellerin über die Beziehung zur Mutter:
"Man muß sich vorstellen: ein Kind das immer bei der Mutter ist, gell. Und erst, ah, dann losgelassen wird, wenn es also das Leben fordert. Ich war immer im KZ mit der Mama. Wär´ sie nicht gewesen, hätt´ ich nicht durchg´ halten, und bin dann auch sehr früh Mutter geworden - mit 16 hab ich schon einen Buam g´ habt und hab mein Leben gemeistert heut. Und das Leben was mich geprägt hat, ist auch heute noch in mir drinnen."[37]
Auch nach der Verhaftung des Vaters hat die Frau, obwohl sie mit ihrer Familie vor den Trümmern ihrer Existenz stand, das Leben tapfer gemeistert. Im ersten Teil der Erzählung Weihnachten, schildert Ceija die grauenvollen Tage nach dem Tod ihres Vaters. Als sich die Feiertage um Weihnachten näherten, stand sie mit sechs Kindern alleine in der elenden Welt.
Nichts desto trotz faßte sie den Mut, ein traditionelles Fest mit Weihnachtsmenü und einen reichlich geschmückten Christbaum zu gestalten.
In ihrer Autobiographie Wir leben im Verborgenen legt Ceija Stojka besonderen Wert, die Verhaltensweise und Einstellungen der Mutter herauszuarbeiten. Ihre Verzweiflung und Mißhandlungen, die sie in Gefangenschaft erdulden muß, prägen sich dem Kind besonders im Gedächtnis.[38] Bis zum heutigen Tag blieben die Tage nach dem Tod ihres Vaters in Erinnerung. Einzig und allein die Mutter war es, die alle Versuche unternommen hatte, die Urne aus Dachau zu bekommen. Die Knochen gab sie dann in ein eigens dafür angefertigtes Täschchen, das sie bis zu einem bestimmten Zeitpunkt um den Hals gebunden hatte. Im Konzentrationslager kam eines Morgen ein SS - Mann herangetreten und schrie: " "Du Kreatur, was hast du um deinen Hals?" Er riß ihr das kleine Täschchen mit Vaters Knochen herunter und warf es in den Abfluß. Dann schlug er ihr ins Gesicht." Das Mädchen wußte zu diesem Zeitpunkt genau, auf welch einer Art und Weise diese Gewaltanwendung für die Mutter Schmerz hervorrief, da sie eine gläubige Zigeunerin war und nach den Traditionen der Roma lebte.
In ihrem Werk präsentiert Ceija Stojka die Mutter als eine "Überlebenshilfe" für die Familie wie auch für Mitbewohner in den Baracken. Schon vor ihrer Verhaftung, als die Familie sozusagen "Auschwitz in der Freiheit spürte" sorgte die Mutter um das tägliche Brot für die Kinder. Sei schreckte niemals davor zurück, die kleine Holzhütte, die von den SS - Leuten mit einem Gitter umzäunt wurde, zu verlassen und von irgendwoher Brot, Milch und an besonderen Tagen sogar einen Topf voll Gulaschsuppe zu organisieren. Sie war es, die ihren Sprößlingen den Umgang mit den SS - Frauen und Männer lehrte und immer offenes Ohr für neue Organisationen hatte. So lehrte sie, zum Beispiel, was die Kinder sagen sollten, wenn die SS - Soldaten Fragen stellten: "Dann sollten wir sagen: "In diesem Kamin und in diesem Ofen dort wird für uns alle das tägliche Brot gemacht." Doch wir wußten alle, um was es ging."[40] Ein weiteres Mal versucht ihre Mutter heimlich Rüben von einem Lastauto zu stehlen, wird dabei aber ertappt. Ein SS - Mann schlägt ihr mit einem Holzkübel auf die Hand, sie war ganz blutunterlaufen. Die Wunde erinnerte sie bis ans Lebensende an diese Heldentat. Die Rübe jedoch ließ sie nicht fallen und "sicherte" den Kindern und Mitbewohnern ein Überleben für weitere Tage. Wie ihre Mutter suchte auch das Mädchen Ceija immer wieder nach einer Gelegenheit, wo sie etwas organisieren könnte. "Wenn mir meine Mama nicht gesagt hätte, du bist du, dann hätte ich mich gar nicht getraut," erzählt sie später im Gespräch mit Karin Berger. Im Gespräch mit ihr beschreibt sie ihre Mutter:
"Und für mich war meine Mutter das äh wenn sie mich mit ihren Augen gesehen hat, habe ich den Hunger und den Durst und alles vergessen, weil es war jemand da, der ein Stück mir gehört, wo ich Fleisch und Blut bin, ja. Das war diese Wärme, obwohl es eiskalt war, aber sie hat zu mir gesagt: "Du mußt durchhalten, wir müssen stark sein! Du bist du, Ceija, du bist du. Nur du kannst deinen Füßen jetzt das sagen, daß sie laufen und daß sie warm werden."[42]
Stojka schildert genau die Verhaltensweisen der Mutter. Sie beschreibt all das Elend, das sie durchhalten muß. Aber dennoch beharrt sie im starken Glauben an Gott und hält durch bis zur Befreiung durch die Engländer.
Bewundernswert ist auch, wie sehr Liebe und körperliche Nähe in ihrer Familie zählt. Liebe, Freiheit und körperliche Nähe bedeuten einen inneren Schutz, der im schrecklichen KZ Alltag neue Kraft verleihen kann. Ihre Mutter unterstützt sie in schwierigen Lagen mit den Worten: "Haltet euch immer an mir fest."[43] Auch in den Baracken "sicherte" der Zusammenhalt der Mütter das Leben, denn sie teilten stets Brot oder Kartoffeln untereinander. Als sie im Frauenlager Ravensbrück am ersten Abend in die vorgesehenen Baracken kamen, durften sie nicht miteinander reden, aber ihre Hände streichelten einander. Wieder ein anderes Mal erzählt sie über ihren kleinen Bruder Ossi, der im Krankenlager an Bauchtyphus starb. Nachts schlich sie zu ihm ins Bett und versuchte ihn mit aufmunternden Worte zu trösten.
6. 2. Darstellung des Vaters
Wie schon zuvor erwähnt kreist Stojkas Erzählung vor allem um die Gestalt der Mutter, während ihr Vater in der Autobiographie nur selten erwähnt wird. Vielleicht auch deshalb, weil er kurz vor der Verhaftung der Familie verstorben ist. Er wurde im Jahre 1941 von der Gestapo verhaftet und seitdem hat ihn die Familie nicht wieder gesehen.
Dennoch ist ihr Vater bis zum heutigen Tag in Erinnerung geblieben. Er war ein sehr charmanter Mann, beliebt unter den Zigeunern sowie den Nicht - Zigeunern. Heute sieht sie den Vater noch vor ihren Augen: "Seinen Pepitaanzug hat er angehabt, er war so ein fescher Mann. Wir waren immer sehr stolz auf ihn. Im Auto hat er sich noch umgedreht und gewunken. Das war das Letzte von ihm für mich. Für uns Kinder war es ein Schock, daß er nicht mehr gekommen ist."[46]
Ihr Vater war ein sehr geschickter Mann, er hat immer Sensationen hervorgebracht. Einmal ist er gekommen und hat Ceija einen wunderschönen Sonnenschirm gezeigt, doch er war kaputt. Säuberlich hat er den Stoff, er war reine Seide, gelöst und einen "Sonnenrock" daraus genäht. Mit diesem Rock ist sie dann auch verhaftet worden und hat ihn bis nach Auschwitz gebracht. Dort wurde er dann weggenommen, genau wie die Gestapo der Familie den Vater weggenommen hat.
Noch heute trauert sie ihm nach, vor allem wenn sie andere Mädchen beobachtet, die stolz mit ihrem Vater auf der Straße spazieren.
6. 3. Darstellung der SS - Männer und Frauen
In der Autobiographie konfrontiert die Erzählerin ihr Leserpublikum mit einer ausführlichen Berichterstattung des Alltags in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Die Männer, die die Gefangenen in den Lagern tyrannisieren und laut ihrer Erzählung wie Tiere behandeln, beschreibt sie immer wieder als "groß und schlank", "mit einer Zigarette im Mund" und auch die "hochpolierten Stiefeln, die in der Sonne glänzten und bei jedem Schritt, den sie machten, knirschten" werden ihr in ewiger Erinnerung bleiben: "Die SS - Männer waren sehr groß und schlank, ich sah immer nur auf ihre hochpolierten Stiefeln. Sie rauchten eine Zigarette um die andere und man konnte sehen wie sie sich amüsierten."[47]
Das Bild der "hochpolierten Stiefeln" kehrt in der Erzählung immer wieder und ist auch für Ceija Stojka zu einem beliebten Motiv, das sie in ihren Bildern und Gedichten verarbeitetet, geworden. Diese Stiefeln müssen für das Kind so bedrohlich wie Maschinengewehre gewirkt haben. Mit ihnen konnten die Gefangenen ja auch getreten werden, was in den meisten Fällen für die Opfer auch tödlich endete.
Die SS - Männer waren so arg, daß auch Tiere nicht so böse sein konnten, denn selbst ein wildes Tier wird einmal müde und gibt auf. Für die Gefangenen nahmen die Qualen jedoch nie ein Ende, die SS - Soldaten gaben niemals auf.[48] Auch an Hand ihrer Sprache erkennt der Leser die Einstellung der SS - Männer zu den Gefangenen. In nur kurzen und prägnanten Sätzen teilen sie ihre Befehle aus und zeigen keinerlei Gefühle für die verfolgten und gejagten Gruppe der Gesellschaft.
Vergeblich versucht das Zigeunermädchen immer wieder vom Außeren eines Menschen innere Werte abzuleiten.[49] In ihrer kindlichen Naivität ist es für sie unvorstellbar, daß "hübsche" und elegant gekleidete Soldatinnen kein Mitleid für die leidenden und verfolgten Frauen verspüren. Ceija Stojka erzählt auch einige Szenen aus dem Frauenlager und beschreibt sehr ausführlich das Aussehen und die Verhaltensweise der SS - Frauen: Sie waren meist große, vollschlanke, blonde und elegant gekleidete Frauen. Ihre Haare waren zu einem kunstvollen Knoten zusammen gesteckt und die Mütze saß immer perfekt. Wieder bleiben ihr die wunderschönen Lackstiefeln in Erinnerung und ihr Blick wirkte sehr streng und eisig kalt. In der Sprache unterscheiden sich die Frauen kaum von ihren männlichen Genossen. Wieder schreien sie, ohne die Miene zu verziehen oder Gefühle zu zeigen: "Los, alles raus, aber dalli dalli!"
Im Unterschied zu den SS - Frauen sahen die Gefangenen ganz erbärmlich aus. Die Frauen waren abgemagert und ganz grau im Gesicht. Sie hatten keine Kleider mehr, nur kaputte Decken hingen über ihre Schultern wie auf Kleiderhacken. Auch die gesunden und gut ernährten SS - Männer standen im krassen Gegensatz zu den Gefangenen. Das Mädchen mußte sich an den Anblick Kranker, Sterbender und Toter in den KZ gewöhnen. Der Haufen von Toten türmte sich vor den Baracken, Juden wurden verbrannt und der Menschenstaub wehte durch die Lager, in denen die Soldaten aber auch die Gefangenen den Staub einatmeten. In den Vernichtungslager wurden Zigeuner wie auch andere Randgruppen der Gesellschaft ihrer Identität beraubt, nicht mit Namen angesprochen sondern mit Registriernummern abgestempelt. Frauen und junge Mädchen wurden durch Sterilisation unfruchtbar gemacht, um somit ein Aussterben der Minderheit zu sichern.
An einigen Stellen versucht Ceija Stojka die Verhaltensweise der SS - Männer und Frauen zu rechtfertigen. Auf ihrer Fahrt in das Frauenlager erzählt die Autorin über SS - Männer die keine Freude gehabt haben, sie wären viel lieber bei ihrer Familie geblieben. Doch sie mußten auch ihren Dienst tun und ließen ihren Frust einfach an den Insassen aus.[52] Für Stojka ist es ganz klar, daß diese Männer, die vielleicht gerade geheiratet haben, eine Familie zurückgelassen haben und dann in Auschwitz diesen Wahnsinn miterleben mußten, folgende Worte von sich gaben: "Diese Kreatur, wenn die nicht da wäre, dann wäre ich zu Hause!"
Darstellung zwischenmenschlicher Beziehung
Ceija Stojka schreibt in ihrer Autobiographie auch über die zwischenmenschliche Beziehung in den Konzentrationslagern, über den Zusammenhalt der Frauen und über die diversen Gelegenheiten, in denen sich neue Freundschaften gebildet haben. Hat eine Frau einen breiten Rock getragen, dann hat sie sofort einen Teil abgeschnitten und zu ihren Bekannten gesagt: "Du, du kannst aus den den Kindern Unterhemderln machen." Auf dieses Art und Weise haben die Frauen mit ihren Kindern auch überleben können und jederzeit anderen Leidenden soweit es möglich war Hilfe geleistet.[54] Für einen Zigarettenstummel haben die Frauen von ihren männlichen Nachbarn öfters ein Stück Brot erhalten; es gab sehr einfallsreiche Methoden des Tauschhandels.
Die Minderheiten haben sich untereinander niemals diskriminiert. Alle Gefangenen haben miteinander gelitten und es ist selten vorgekommen, daß der einen den Nachbarn nach seiner Identität gefragt hätte.
Im Frauenlager Ravensbrück waren es die Mütter, die immer sehr fest zusammenhielten. Ceijas Mutter organisierte öfters Brot oder Kartoffeln für ihre Kinder aber auch andere Mitbewohner aus den Baracken. Unter den Gefangenen herrschte dann Freude, ein herrliches und unvergeßliches Gefühl, das sie durch ihre Lieder zum Ausdruck brachten.
In unserem Gespräch mit der Autorin erzählte sie auch über ein kleines Mädchen namens Resi. Als Kind suchte sie immer wieder Gelegenheiten, um in den Baracken und dort gegründeten Gemeinschaften irgendwas organisieren zu können. Einmal war es die Stubenälteste, die Hilfe benötigte, und ein anderes Mal half sie einfach den Mist zu beseitigen.[55] So lernte sie auch das Mädchen Resi kennen, die um einige Jahre älter als sie war. Da Resi ohne ihre Eltern in der Baracke lebte, sagte Ceija zu ihrer Mutter: "Mama, die hat niemanden!" Ab diesen Zeitpunkt sind die Mädchen immer wieder zusammen umhergezogen, bis Resi abgeholt wurde und nach der Sterilisation verstorben ist.
Der Zusammenhalt in den Vernichtungslagern und die freundschaftliche Beziehung, von der bei Ceija Stojka immer wieder die Rede ist, haben bei einigen wenigen zum Überleben beigetragen. Gemeinsam haben sie es geschafft, die Not und Qualen zu ertragen und waren stets zu gegenseitiger Hilfe bereit.
7. Funktion ihres Schreibens und Adressatenbezug
Der Leser stellt sich natürlich nach ausführlicher Lektüre eines Werkes die Frage: "Was will der Autor / die Autorin mit diesem Buch aussagen?". Um die Frage in diesem Fall beantworten zu können, werfen wir einen Blick auf die letzte Seite der Autobiographie. Hier schreibt Ceija Stojka über das Schicksal ihrer Volksgruppe: "Aber wir müssen hinausgehen, wir müssen uns öffnen, sonst kommt es noch so weit, daß irgendwann alle Romani in ein Loch hineinkippen."
Mit ihren Werken will die Roma - Schriftstellerin auf die Situation der Zigeuner aufmerksam machen. Einerseits zeigt sie das Schicksal der unterdrückten Minderheiten in der NS - Zeit und andrerseits beschreibt sie das Leben der Roma und Sinti in der heutigen Zeit, nachdem ihnen das Herumreisen verboten wurde.
Sie kann einfach das Schweigen über die Vergangenheit nicht länger akzeptieren und belebt durch die "Niederschrift" ihrer Erlebnisse die eigenen Vergangenheit. Laut Beate Eder heißt "im Verborgenen leben" für viele Angehörige der Minderheiten, ihr Rom - Sein zu verheimlichen, um nicht die damit die verbundenen Nachteile der Diskriminierung in Kauf nehmen zu müssen.
Heute haben schon einige "schreibbegeisterte" Roma - Schriftsteller den Weg in die Öffentlichkeit gewagt. In Stojkas Erzählungen fällt allerdings das Fehlen von Aggressivität auf.[56] Ceija Stojka geht es einzig und allein darum, die Wahrheit ans Tageslicht zubringen und niemals wollte sie eine bestimmte Gruppe der Gesellschaft für ihr Leiden verantwortlich machen. Laut ihren Aussagen hat sie niemals für die Öffentlichkeit geschrieben oder gar an ein Bestsellerbuch gedacht. So sagte sie vor der Veröffentlichung der Autobiographie Wir leben im Verborgenen: "Es soll kein Bestseller werden." Sie war schon glücklich, wenn ein junges Mädchen sein letztes Taschengeld opfert, das Buch kauft, es liest und dann voll Begeisterung der besten Freundin mit den Worten weitergibt: "Ja, das war´s. Du, lies es auch!" Erst wenn dieses Buch durch mehrere Hände gegangen ist und am Ende nicht mehr festzustellen ist, wie viele Hände es erreicht hat, dann bezeichnet sie die Autobiographie als Bestseller und großen Erfolg.
Wie schon zuvor erwähnt, wendet sich Ceija Stojka nicht direkt an einen bestimmtes Leserpublikum, ihre Erzählungen wirken auf keine Weise appelativ. Möglicherweise adressiert die Roma - Schriftstellerin mit ihren Werken die Gruppe der jugendlichen Leser. Sie hält auch Lesungen in Schulen und führt anschließend Diskussionen mit Jugendlichen, denn in ihren Augen kann nur die Jugend verhindern, daß so etwas wieder passiert und Auschwitz wieder Geschichte macht. Heute blickt Ceija Stojka sehr optimistisch in die Zukunft und ist sich ganz sicher, daß sich Jugendliche nicht mehr von ihren Eltern und Erwachsenen manipulieren lassen und eine solch grausame Form der Unterdrückung in Zukunft nicht wieder zulassen. [58]
Vgl. Nitsche, Gerald (Hrsg.): Österreichische Lyrik und kein Wort Deutsch. - Innsbruck: Haymon 1990. S 7.
Ich geb' dir einen Mantel, daß du ihn noch in der Freiheit tragen kannst. Wiedersehen im KZ. Österreichische Frauen erzählen. Hrsg. v. Karin Berger. - Wien: Promedia 1987. S. 7.
vgl. Roma: das unbekannte Volk. Schicksal und Kultur. Hrsg. v. Mozes F. Heinschink und Ursula Hemetek. -Weimar: Böhlau 199 S. 129.
Eder, Beate: Geboren bin ich vor Jahrtausenden. Bilderwelten in der Literatur der Roma und Sinti. -Klagenfurt: Drava 1993. S. 127.
Stippinger, Christa: Jeder ist anderswo ein Fremder. Bericht aus einer interkulturellen Schreibwerkstatt. - In: Ide. Informationen zur Deutschdidaktik 20 ( 1996 ) S. 85.
Jedermann ist anderswo ein Fremder. Eine Anthologie mit Texten und Interviews der Autoren und Autorinnen der Schreibwerkstatt für ZuwanderInnen und Angehörige ethnischer Minderheiten in Österreich 1995 / 96 in Amerlingerhaus. Hrsg. v. Christa Strippinger. Wien 1996 ( = interkulturelle Reihe des Vereins Wxil im Amerlinghaus Bd. 1 ). S. 233.
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