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DAS ROTE WIEN
Keine Stadtverwaltung hat in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen die Aufmerksamkeit der ganzen Welt in einem solchen Ausmaß auf sich gezogen wie Wien. Das Werk, das diese Beachtung hervorrief, war zunächst ein Aufbauwerk im wörtlichen Sinn: der drückenden wirtschaftlichen Lage zum Trotz entstanden entstanden in nur 15 Jahren 63.000 neue Wohnungen. Und es war nicht nur die Qualität dieser Bauten die beeindruckte: Viele Menschen kamen damit erstmals in den Genuß einer Wohnung mit Belüftung und Belichtung aller Räume direkt vom Freien, mit eigenem Gas- und Wasseranschluß. Auch in den Kindergärten, Sportanlagen und anderen Gemeinschaftseinrichtungen der neuen Wohnanlagen zeigt sich, daß es um mehr ging, als nur der drückendsten Wohnungsnot abzuhelfen: der Wille, eine neue, eine solidarische Gesellschaft zu schaffen, wurde sichtbar.
Doch das rote Wien der Zwischenkriegszeit war nicht nur ein epochemachenden Abschnitt in der Geschichte der modernen Architektur. Julius Tandler setzte an die Stelle willkürlicher "Wohltäterei" ein systematisches Wohlfahrtswesen, das erstmals auch vom Recht der Benachteiligten auf Hilfe durch die Gemeinschaft sprach, das seine wichtigste Aufgabe allerdings darin sah, vorbeugend zu wirken, den Kindern jene "Paläste" zu bauen, die es ermöglichten sollten, die "Kerkermauern" niederzureißen. Die Schulreform Otto Glöckels machte aus Schülern, die passive Objekte autoritären Drills waren, forschende, probierende, kreative Kinder. Bildung sollte nicht mehr das Privileg einiger Weniger bleiben, die Schule wollte nicht zum Untertanen sondern zum mündigen Bürger der demokratischen Republik erziehen. Auch die Erwachsenen sollten und wollten lernen, sollten teilhaben an jenen großartigen kulturellen und geistigen Leistungen, die in Wien auch nach dem Sturz von der kaiserlichen Residenzstadt zur Hauptstadt der notleidenden Republik erbracht wurden.
Nach dem Niedergang der Donaumonarchie nach der militärischen Niederlage der Mittelmächte im ersten Weltkrieg konstitutionierten sich die Reichstagsabgeordneten der deutschsprachigen Siedlungsgebiete in der österreichischen Reichshälfte am 21. Oktober 1918 als "provisorische Nationalversammlung des selbständigen, deutsch-österreichischen Staates". Am 12. November 1918, einen Tag nachdem Kaiser Karl auf "jeden Anteil an den Staatsgeschäften" verzichtet hatte, wurde per Gesetz die Republik als Staatsform festgelegt, der neue Staat zum Bestandteil der deutschen Republik erklärt, dem Hause Habsburg alle Vorrechte entzogen, sämtliche Organe (Ministerien, parlamentarische Körperschaften) der Monarchie aufgelöst und die Wahl einer konstituierenden Nationalversammlung auf Grundlage des allgemeinen Wahlrechts im Jänner 1919 angeordnet. Keines der drei relevanten politischen Lager (Sozialdemokraten, Christlich-soziale und deutsch-liberale Gruppen und Landbund, später Großdeutsche Volkspartei) hatte diese Staatsgründung angestrebt, sie alle waren der Überzeugung, das "neue" Österreich sei in der Form nicht lebensfähig und behielten daher auch nach dem Anschlußverbot im Friedensvertrag von Saint-Germain die Verbindung mit Deutschland in ihren Parteiprogrammen (Erst mit der Machtergreifung Hitlers 1933 änderten die Sozialdemokraten ihr Programm).
Aus den Wahlen am 16. Februar 1919 gingen die Sozialdemokraten mit 72 Mandaten als die Stärkste Kraft hervor, gefolgt von den Christlich-sozialen mit 69 und den Deutschnationalen mit 26 Mandaten, was eine Koalition zwischen Sozialdemokraten und Christlich-sozialen zur Folge hatte. Karl Renner wurde Staatskanzler und der christlich-soziale Jodock Fink Vizekanzler, die Schlüsselressorts der Regierung ( Außeres, Soziale Verwaltung, Heer, Schulwesen) wurden mit Otto Bauer, Ferdinand Hanusch, Julius Deutsch und Otto Glöckel allerdings ausschließlich mit Sozialdemokraten besetzt.
Die während der Massenstreiks 1918 auf lokaler Ebene entstandenen Arbeiterräte, die sich am 1. März 1919 zu einem Arbeiterrat für die gesamte Republik konstituierten, versuchten, gestärkt durch die Machtergreifung der Arbeiterräte in Bayern und Ungarn, mit Gewalt eine "Diktatur des Proletariats" zu errichten. Von Anfang versuchte die Führung der Sozialdemokraten diese Tendenzen zu unterbinden, nutzten aber gleichzeitig den Druck der Straße um alte Forderungen durchzusetzen, denen die Christlich-sozialen, um "schlimmeres" zu vermeiden, nachgaben. So wurden z. B. der Achtstundentag, bezahlter Urlaub, Arbeitslosenversicherung, Kollektivverträge, erweiterte Krankenversicherung, Invalidenführsorge, Schtzbestimmungen für Frauen- Kinder- und Nachtarbeit, die Errichtung der Arbeiterkammer, die Einführung von Betriebsräten usw. durchgesetzt.
Am 4. Mai 1919 fanden schließlich in Wien die ersten Gemeinde- und Bezirksvertretungswahlen nach allgemeinem Wahlrecht statt. Sie brachten den Sozialdemokraten 100 und den Christlich-sozialen 50 von insgesamt 165 Mandaten und beendeten damit zwei Jahrzehnte auf eingeschränktes Wahlrecht gestützte Herrschaft der Christlich-sozialen in Wien. Mit Jakob Reuman wurde erstmals ein Sozialdemokrat wiener Bürgermeister und zum ersten Mal in der Geschichte stand eine Millionenstadt unter sozialdemokratischer Herrschaft.
Nach zwei gescheiterten Putschversuchen des Arbeiterrats, die von der Polizei blutig niedergeschlagen wurden und der Auflösung der Arbeiterräte in Ungarn und Bayern, verlor dieser auch in Österreich seine Bedeutung. Durch das Wegfallen des revolutionären Drucks, der die Koalitionspartner geeint hatte, traten die Konflikte zwischen ihnen deutlicher hervor. Vieles, was die Christlich-sozialen unter dem Zwang der Umstände akzeptiert hatten, wurde nun wieder von ihnen bekämpft.
Am 10. April 1920 zerbrach schließlich die Koalition und wurde durch eine Proporzregierung ersetzt. Die wichtigste Aufgabe dieser Regierung bestand in der Schaffung einer neuen Verfassung. Vor allem die Frage des Verhältnisses zwischen Zentralstaat und den neuen Bundesländern sorgte für Differenzen. Da sich die Wählerbasis der Sozialdemokraten hauptsächlich auf Wien beschränkte, waren die Christlich-sozialen daran interessiert, die Hauptstadt von Niederösterreich, dem bevölkerungsreichsten und größten Bundesland loszulösen. Die Sozialdemokraten stimmten diesem Vorschlag schließlich zu, da sie darin eine Möglichkeit sahen, in Wien auf Basis klar gesicherter Mehrheitsverhältnisse eine modellhafte Stadtverwaltung zu errichten, was zur Folge hatte, das ausschließlich Sozialdemokraten zu amtsführenden Stadträten gewählt wurden . Das Trennungsgesetz vom 29. Dezember 1922 führte schließlich aus, was bereits in der neuen Bundesverfassung vom 10. November 1920 festgelegt war.
Die ersten Jahre der sozialdemokratischen Regierung in Wien waren geprägt von Inflation und Massenarbeitslosigkeit. Die Metropole eines einstmaligen 54-Millionen -Reichs war abgeschnitten von ihren ehemaligen Rohstoffquellen und Nahrungsliferanten und belastet mit einem überdimensionierten Verwaltungsapparat und schwer defizitären städtischen Monopolbetrieben. Um Geld in die leeren Stadtkassen zu bringen, aber die nötige Steuerbelastung nicht zu schwer ausfallen und die Verarmung nicht weiter fortschreiten zu lassen, wurden Steuern geschaffen, die vor allem die Besitzenden treffen sollten: Die an der Lohnsituation orientierte Fürsorgeabgabe, die Luxussteuern, die Hauspersonalabgabe usw. brachten bereits 1921 einen Budgetüberschuß. Von großer Bedeutung war außerdem die 1922 beschlossene allgemeine Mietzinsabgabe und die auf ihr aufbauende Wohnbausteuer, die zur Gänze für den Wohnbau zweckgebunden war.
Bei den Wahlen im Oktober 1923 konnten die Sozialdemokraten sowohl auf Bundes- als auch auf Gemeindeebene dazu gewinnen. Erstmals sahen die Sozialdemokraten eine Chance, auf demokratischem Wege ein sozialistisches Österreich zu errichten Auch das im Oktober 1926 beschlossene Linzer Programm hielt an den Regeln der Demokratie fest, wurde aber von vielen Gegnern der Partei als Bekenntnis zu Gewalt gedeutet, da es für den Fall des Ausserkraftsetztens demokratischer Regeln durch das Bürgertum zum bewaffneten Widerstand aufrief.
Mit zunehmendem Einfluß der Sozialdemokraten auch auf Bundesebene verstärkte sich auch die Polarisierung zwischen den Sozialdemokraten und den Christlich-sozialen, unterstützt noch durch das Anwachsen bewaffnetet Verbände der beiden Lager. Zwischen dem republikanischen Schutzbund auf Seiten der Sozialdemokraten und der Christlich-sozialen Heimwehr kam es wiederholt zu blutigen Zusammenstößen. Die Folgenreichste ereignete sich am 27. Jänner 1927 in der burgenländischen Gemeinde Schattendorf. Nachdem beide Verbände dort zu Kundgebungen aufmarschiert waren, sich aber bereits auf ein Ende ihrer Versammlungen einigen konnten, fielen aus dem Gasthaus, in dem sich die Heimwehr versammelt hatte Schüsse, die einen siebenjährigen Buben und einen Kriegsinvaliden töteten. Die Tat löste unter den Sozialdemokraten ungeheure Empörung aus, am Tag der Beerdigung der Opfer wurde im ganzen Land die Arbeit für 15 Minuten niedergelegt, und der roten Führung gelang es nur mit Verweisen auf die erhoffte Bestrafung der Täter durch ein ordentliches Gericht ihre Anhänger unter Kontrolle zu halten. Nach Bekanntwerden des Freispruchs der Täter durch ein offensichtliches Fehlurteil der Geschworenen am Abend des 24. Juli kam es am nächsten Morgen zu einer spontanen Massendemonstration der Sozialdemokraten, von der auch die Parteispitze überrascht wurde. Da weder Polizei noch Militär auf die Protestkundgebungen vorbereitet waren, wurden sie von der Menge immer weiter zurück gedrängt und mußten sich schließlich in den Justizpalast zurückziehen. Die Demonstranten drangen nun auch in den Justizpalast ein, legten Feuer und hinderten die Feuerwehr an den Löscharbeiten. Nachdem es Julius Deutsch und Bürgermeister Seipel beinahe schon gelungen war, die Menge zu beruhigen, räumten Polizeieinheiten unter Einsatz von Schußwaffen den Platz. Die Bilanz: 89 Tote und hunderte Verwundete.
Der Brand des Justizpalastes hatte für viele Menschen das von den Christlich-sozialen gezeichnete Schreckensbild der Sozialdemokratie bestätigt, die Heimwehr hatte sich als wirksames Mittel dagegen erwiesen und erfreute sich eines starken Zustroms. Die Sozialdemokratie war in die Defensive gedrängt und die Regierung tat ihr möglichstes um ihre Position, vor allem in Wien zu schwächen. Durch Einsetzten der Weltwirtschaftskrise nach dem "Schwarzen Freitag" und der durch neue Verteilungsgesetzte deutlich geringeren finanziellen Mittel stieg die Armut und Arbeitslosigkeit wieder rapide. Obwohl die Sozialdemokraten aus den letzten freien Wahlen der ersten Republik am 9. November 1930 als stärkste Partei hervorgingen, bildete sich erneut eine Koalition aus Christlich-sozialen und Großdeutschen, die allerdings nach diversen Differenzen und Fehlschlägen bereits 1932 scheiterte. Um Neuwahlen zu verhindern (die zum zweiten Mal kandidierenden Nationalsozialisten hatten die Christlich-sozialen in mehreren Gemeindewahlen bereits überholt) bildete der damalige Landwirtschaftsminister Engelbert Dollfuß eine Koalition aus Christlich-sozialen, Landbund und Heimatblock, die über eine Mehrheit von nur einer Stimme verfügte. Nach der "versehentlichen" Selbstausschaltung des Parlaments am 4. März 1933 regierte Dollfuß aufgrund des "kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetztes" diktatorisch weiter und setzte die Angriffe auf die Sozialdemokratie nun ungehindert fort. Wien wurden die letzten finanziellen Unterstützungen gestrichen, die Stadt wurde sogar zu gewissen Abgaben verpflichtet und somit die roten Funktionäre noch vor ihrer eigentlichen Ablösung entmachtet. Im Jänner 1934 wurden die Forderungen nach einer völligen "Umgestaltung" Österreichs von Seiten der Heimwehr und Mussolinis immer lauter. Dollfuß ging daran, den ohnehin schon verbotenen Schutzbund zu entwaffnen und lies sozialdemokratische Parteiquartiere durchsuchen. Als die Polizei die Linzer Parteizentrale durchsuchen wollte, leisteten die dort anwesenden Schutzbündler unter der Führung von Richard Bernaschek bewaffneten Widerstand. Der Bürgerkrieg hatte begonnen.
Die Partei, die Waffengewalt nur für den Fall eines Verbots der Partei oder der Gewerkschaften, einer faschistischen Verfassung oder einer Entmachtung der wiener Sozialdemokraten vorgesehen hatte, zögerte bis gegen Mittag, bevor sie den E-Werken die Anweisung zur Abschaltung des Stromes, das vereinbarte Zeichen für den Generalstreik, gab. Zu dem Zeitpunkt waren die einzelnen Schutzbundverbände allerdings bereits von der viel besser gerüsteten Heimwehr und Polizei voneinander isoliert. Bereits am frühen Nachmittag besetzte die Heimwehr das wiener Rathaus, die Bundesregierung erklärte den wiener Gemeinderat für aufgelöst und bestellte den Bundesminister für Soziale Verwaltung, Richard Schmitz, zum Bundeskommisär für Wien. Die Stadträte Speiser, Weber, Honay und Breitner sowie Bürgermeister Seipel wurden verhaftet.
Mit dem Ausbleiben des Generalstreiks auch am 13. Februar war das Schicksal des Aufstandes besiegelt. Die Schtzbündler in den Gemeindebauten konnten ihre Stellungen teilweise noch halte, am 14 Februar brach der letzte Widerstand unter dem Artilleriefeuer des Bundesheeres zusammen.
Über 300 Tot und Tausende Verletzte war die Bilanz dieser Tage. Neun sozialdemokratische Führer wurden durch die wieder eingeführte Todesstrafe verurteilt und hingerichtet, die Partei wurde verboten, ihre Mandate annulliert und ihr Besitz beschlagnahmt. Damit endete die Geschichte Wiens als selbständig agierender politischer Faktor in der ersten Republik. Die Gemeindeverfassung wurde durch eine Stadtordnung ersetzt, nach der der Bürgermeister nicht mehr gewählt, sondern vom Bundeskanzler eingesetzt werden sollte. Durch die neue Bundesverfassung vom 1. Mai 1934 verlor Wien seine Stellung als Bundesland und wurde zur bundesunmittelbaren Stadt. Man versuchte, alle Erinnerungen an die sozialdemokratische Herrschaft möglichst versteckt. Die Namen der großen Gemeindebauten wurden geändert (Karl-Marx-Hof wurde zu Heiligenstätter Hof) und sogar das Denkmal der Republik, das Repräsalium des Proletariats an der großbürgerlichen Ringstrasse, mit Fahnen des Dollfußregimes verdeckt.
Die S.D.A.P. von 1918-1934
Die Sozialdemokratische Partei Österreichs war eine demokratische Massenpartei von überaus hohem und dichtem Organisationsgrad. Im Jahre 1929, dem Höhepunkt des 1918 begonnenen Aufstiegs, zählte die SDAP 713.834 Mitglieder, was sie auch in absoluten Zahlen gesehen zur größten sozialdemokratischen Partei Europas machte. Dabei war die Mitgliederzahl in Wien mit rund 400.000 mit Abstand am höchsten, was auf das Konto der wiener Landesorgansisation ging, die sich stolz als "größte Parteiorganisation der Welt" bezeichnen konnte. Während die Landesparteien in den Bundesländern ab 1921 einen leichten Rückgang an Mitgliedern zu verzeichnen hatten, konnte die wiener Partei ihre Mitgliederzahl in diesem Zeitraum verdoppeln. Die Arbeiterschaft bildete die Kerntruppe der SDAP. In Wien waren von 100 Arbeitern 47 in der Partei organisiert, in den klassischen Hochburgen der SDAP (Favoriten, Brigittenau, Simmering, Ottakring, Floridsdorf) dürfte die Zahl noch weit höher gelegen sein. Auch die Zahl der politisch organisierten Frauen lag mit 38% aller Mitglieder deutlich über anderen Parteien.
Bei den Wahlen in Wien lag die Partei immer nahe, der zweidrittel Mehrheit, in manchen Bezirken erreichte sie unter der Arbeiterschaft Spitzenergebnisse von über 90%. Dabei lag die imponierende Stärke der Sozialdemokraten in Österreich gegenüber den sozialistischen Parteien in anderen europäischen Ländern vor allem daran, daß es hier gelungen war, die verschiedenen ideologischen Strömungen zu vereinen. So konnte sich die 1918 gegründete KPÖ niemals über eine unbedeutende Sekte hinaus entwickeln.
Mit der wachsenden Größe der Partei stieg auch die Notwendigkeit einer effizienten Verwaltung und Disziplinierung. Einen wichtigen Teil dieser Arbeit übernahmen die sogenannten Vertrauensmänner, ehrenamtliche, sowohl männliche als auch weibliche, Mitarbeiter, die im engsten Kontakt mit den Parteimitgliedern standen und die Politik vor Ort umsetzten. Auch weitete die Partei ihre Kontrolle durch die Gründung zahlreicher Sport- Kultur- und sonstiger Vereine auf das Privatleben ihrer Mitglieder aus und entwickelte sich damit immer mehr zu einer gegenkulturellen Bewegung.
Im Gegensatz zu vielen anderen sozialistischen Strömungen in Europa lehnten die Gründerväter des "Austromarxismus" Max Adler, Karl Renner und Rudolf Hilferding in ihren Ansichten jegliche Gewalt bei der Machtergreifung des Proletariats ab und blieben dem Weg der demokratischen, graduellen Machtergreifung treu, in der Überzeugung, daß der Staatsapparat nach den Bedürfnissen der Arbeiterschaft umgestaltet werden könne und die Arbeiterschaft langsam Schlüsselstellen in Politik und Wirtschaft übernehmen könnte, wenn nur das Wachstum sowohl der Partei als auch der kapitalistischen Marktwirtschaft anhielte. Sie waren der Überzeugung, die Staatsmacht sollte auf friedlichen weg in Kooperation mit der industriellen Bürokratie und der Bauernschaft erlangt werden. So stellte das (allerdings gescheiterte) Agrarprogram von 1925 die Eröffnung eines für die europäische Sozialdemokratie völlig neues Arbeitsfeld dar. Im Linzer Parteiprogramm von 1926 wurde festgelegt, daß die Macht im Staate unter voller Aufrechterhaltung der bürgerlichen Freiheiten, der Freiheit der Versammlung, der Meinung, des Wortes und der Schrift erobert werden müsse. Die Partei legte sich allerdings bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1934 auf einen strikten Oppositionskurs fest und forderte in ihrer Außenpolitik bis zur Machtergreifung Hitlers 1933 einen Anschluß an Deutschland.
Die Österreichische Sozialdemokratie hatte sich seit ihren Anfängen nicht nur als politische sondern auch als kulturelle Bewegung gesehen, was mit der Verwandlung in eine Massenpartei notwendigerweise weiter forciert wurde. Es entstanden zahlreiche Vereine und Bunde, die die Mitglieder emotional noch stärker an die Partei binden sollte. Sie sahen die Veränderung der Gesellschaft eng gebunden an eine Veränderung des Individuums in "sozialistisch-solidarischem" Sinn gebunden. Zur Schaffung eines "neuen Menschen" wurde ein überaus dichtes und vielfältiges Netz an Neben- Vorfeld- und Kulturorganisationen, ein Staat im Staat. Die wichtigsten dieser Verbände waren die Arbeiterjugendbewegung, die Naturfreunde und die freie Schule. Bei den nicht nur uneigennützigen Motiven, die hinter diesen Verbänden standen, darf man allerdings nicht vergessen, daß sie vielen Menschen erstmals den Zugang zu Beschäftigungen und Vergnügungen bedeuteten, die bis dahin nur der Oberschicht vorbehalten waren und die für sie Sicherheit, Selbstbewußtsein und Zukunftsgewißheit bedeuteten.
Die Projekte des roten Wiens
Der Komunalpolitik standen, nachdem Wien 1920 ein eigenes Bundesland geworden war, völlig neue Finanzierungsmöglichkeiten zur Verfügung, und Wien wurde zur einzigen Umsetzungsmöglichkeit der austromarxistischen Theorien im öffentlichen Bereich. Das rote Wien wurde zum ersten Beispiel einer langfristigen sozialistischen Strategie zur Umformung einer gesamten metropolitanen Infrastruktur. Kernstücke der kommunalen Reformstrategie waren die Schulreform von Otto Glöckel, die Wohnungspolitik von Finanzstadtrat Hugo Breitner und das von Julius Tandler geprägte Fürsorgewesen, das als "wiener System" Berühmtheit erlangen sollte.
Der Wohnbau
Die ersten Vorgänger des Wohnbauprogramms des roten Wiens entstanden bereits lange vor dem ersten Weltkrieg. Um die unvorstellbaren Wohnbedingungen der Arbeiter in den Zinshäusern der Gründerzeit (Keine Fenster, sanitäre Anlagen und Wasser am Gang, viel zu wenig Platz, zu hohe Mieten, Bettgeher) zu verbessern, wurde von der "Kaiser Franz Josef I Jubiläumstiftung für Volkswohnbau und Wohlfahrtseinrichtungen" nach einem ausgeschriebenem Wettbewerb der Lobmayerhof in Ottakring errichtet, der über Belichtung und Belüftung, einem WC im Wohnverband, einer Mindestwohnungsgröße, Kindererholungsräume, Sport- und Badeanlagen und Bibliotheken verfügte.
Der Wohnbau der Gemeinde Wien begann mit der Kommunalisierung der Gas- und Elektrizitätswerke unter Bürgermeister Karl Lueger. Im Zuge der Umbauarbeiten dieser werke wurden auch neue Bahnhöfe errichtet und Wohnbauten für die Tramwaybediensteten geschaffen, bei den letzten dieser Bauten, befinden sich Sanitäranlagen bereits innerhalb des Wohnungsverbandes und für ausreichende Belichtung ist gesorgt.
Nach dem ersten Weltkrieg sah die Wohnungssituation in Wien aufgrund der Zerstörung noch katastrophaler aus als davor. Als erster Versuch zur Linderung der Wohnungsnot stellte das 1921 erlassene "Anforderungsgesetzt dar, das es der Gemeinde Wien erlaubte, ganze leerstehende Gebäude, Wohnungen und Räume in Besitz zu nehmen und gegen Unkostenersatz weiter zu vermieten. Insgesamt wurden bis 1925 45.000 Wohnungen und eine unbekannte Zahl an Räumen "angefordert", trotzdem stellte sich keine wesentliche Besserung ein.
Als das Ermächtigungsgesetzt 1925 auslief, wurde es nicht verlängert. Am 21. September 1923 hatte der wiener Gemeinderat ein auf fünf Jahre berechnetes Wohnbauprogramm beschlossen, wobei ab 1924 jährlich 5000 Wohnungen errichtet werden sollten. Bereits 1927 war das Plansoll erfüllt, und es wurde der Bau von weiteren jährlich 6000 Wohnungen bis 1932 beschlossen und 1933 verwaltete die Gemeinde insgesamt 58.667 Wohnungen und 5.257 Siedlungshäuser, in denen 10.8% aller Wiener wohnten. Trotz der kurzen Dauer - 1932 mußte der Wohnbau aufgrund der finanziellen Situation aufgrund der neuen Gesetzen der Regierung Dollfuß fast eingestellt werden - ist der Gemeinde ein beachtliches Werk gelungen, das noch heute Verwendung findet und bewundert werden kann.
Im Gegensatz zu den damals von der internationalen Architektengemeinschaft bevorzugten Gartenstädten (sie bestanden aus lauter am Stadtrand errichteten kleinen Einfamilienhäusern mit Gärten) ließ die Gemeinde teilweise gewaltige Superblocks - die sogenannten Volkswohnpaläste - errichten, "proletarische Monumente", mit denen die Partei nicht nur Wohnraum, sondern sich selbst überdimensionale Denkmäler schuf.
Die wahre Größe der Bauten lag aber nicht in ihrer architektonischen Neuheit, sondern in dem Versuch, der Arbeiterschaft durch Verzicht auf kapitalistisches Mietzinsdenken ein gesichertes und menschenwürdiges Wohnen zu ermöglichen. Die oft von Otto-Wagner-Schülern gestalteten Bauten lagen nicht immer am Stadtrand, sondern fügten sich in die großräumige Stadtstruktur oder wurden in alten Baulücken errichtet. Die Wohnungen verfügten alle über eigene Sanitäranlagen, Wasser- und Kochstellen, Gas und Elektrizität, bestanden aus mindestens zwei Zimmern und waren belichtet und belüftet. Die Bauten selbst verfügten fast alle über Horte, Kindergärten, Mutterberatungstellen, Zahnkliniken, Versammlungsräume, Bibliotheken, Zentralwaschküchen, Turnhallen, Tuberkuloseberatungstellen usw. Außerdem galt für sie eine Maximalverbauung von 40% (im Gegensatz zu den alten Zinskasernen mit Verbauungsraten bis zu 85%) was großzügig angelegte Höfe möglich machte. Diese Höfe sorgten nicht nur für Licht und Luft, sondern förderten mit ihren Spiel- und Sportplätzen, den teilweise vorhandenen Kinderbädern und den stets in ihrer Mitte angelegten Gemeinschaftseinrichtung für eine verstärkte Gemeinschaft ihrer Bewohner. Durch die zahlreichen Einrichtungen hatte die Partei die Möglichkeit, das Privatleben der Mieter maßgeblich mitzugestallten und somit ihr Ziel eines "neuen, sozialistischen Menschen" weiter zu verfolgen.
Finanziert wurden diese großen Projekte aus den Mitteln der Wohnbausteuer, eine von Finanzstadtrat Hugo Breitner eingeführte, zweckgebundene Steuer, die, wie das gesamte Breitnersche Steuersystem, zu Lasten des Luxuskonsums und des ausländischen Anlagemarktes ging. Die Bauten kosteten allerdings nicht nur Geld, sie schufen auch Tausende neue Arbeitsplätze und ermöglichten mit ihren zahlreichen Skulpturen das Überleben zahlreicher von der Gemeinde beschäftigter Künstler, die nach Zusammenbrechen des neuen Marktes um ihr Überleben kämpfen mußten.
Doch so wunderbar es klingen mag, zur Vollendung des Bauprojektes des roten Wiens ist es nie gekommen. Eine Exponentin der sozialdemokratischen Frauenfraktion, Käthe Leichter, erhob 1932 die Arbeits-, Lebens- und Wohnverhältnisse von Industriearbeiterinnen. Sie fand heraus, das insgesamt nur etwas mehr als die Hälfte der Arbeiterinnen in einer eigenen Wohnung wohnten, mehr als ein drittel wohnte bei den Eltern und immerhin noch 1.5% als Bettgeherinnen. Somit blieb weiterhin die elterliche Familie die Überlebenssicherung der Arbeiter. In mehr als 50% der Fälle schliefen drei bis vier Personen im "Zimmer", das alle Lebensbereiche in sich vereinte, und nur 86% der Befragten hatten ein eigenes Bett, der Rest teilte mit Geschwistern oder Eltern. Nur rund 18% der Arbeiterinnen hatten in ihrer Wohnung Gas, Strom und Wasser. Außerhalb der Gemeindebauten herrschte also noch immer, trotz der Sozialpolitik des roten Wiens, die selben Zustände wie in der Gründerzeit
Die Fürsorge
Die kommunale Fürsorgepolitik des roten Wiens unterschied sich deutlich von der der anderen Bundesländer, in denen es bis auf die unter dem revolutionären Druck 1919 entstanden bundesweiten Verbesserungen (Arbeitslosenversicherung, bezahlter Urlaub) kaum eine Anderung gegenüber der K. und K. Zeit gab. Das wiener Wohlfahrtswesen, das später als wiener System Berühmtheit erlangte, war hauptsächlich das Werk des Universitätsprofessor für Anatomie Julius Tandler, der bereits 1920 zum Stadtrat für das Wohlfahrtswesen bestellt wurde. Sein Konzept orientierte sich an einem ganzheitlich gesunden "Volkskörper", der in Zukunft nicht nur Kosten sparen sondern auch die Produktivität steigern sollte. Es basierte auf 4 Grundsätzen, die 1926 so formuliert wurden: "Die Gesellschaft ist gegebenenfalls auch ohne gesetzliche Vorschriften verpflichtet, allen Hilfsbedürftigen umfassende Hilfe zu gewähren. Individualfürsorge kann rationell nur in Verbindung mit Familienfürsorge geleistet werden. Aufbauende Wohlfahrtspflege ist vorbeugende Fürsorge. Die Organisation der Wohlfahrtspflege muß in sich geschlossen sein:" (Vor allem der letzt Punkt stand in krassem Gegensatz zu dem System der Monarchie, wo sich die Wohlfahrt größtenteils aus verschiedenen, voneinander unabhängigen, privaten Vereinen zusammensetzte)
Außerdem versuchte man, mit der privaten Fürsorge zusammen zu arbeiten und die Zentralisierung zu verwirklichen, indem 1921 das zentrale Wohlfahrtsamt der Stadt Wien gegründet wurde, das alle Wohlfahrtsaufgaben (Jugendfürsorge, Gesundheitsfürsorge,) in sich vereinte. Das Modell Tandlers verlangte zwangsläufig einen Akzent zugunsten der Vorsorge, was in der Jugendfürsorge, die als Fundament jeder Fürsorge galt, seinen Ausdruck fand.
Da die Ausgaben für die Fürsorge bald ein drittel der Gesamtausgaben erreicht hatten, unterschied man zwischen "produktiven" (Jugend- und Gesundheitsfürsorge) und "unproduktiven" (z. B. Altenversorgung) Ausgaben, wobei es natürlich galt, erstere zu fördern und zweitere zu vermeiden. Daneben waren der Gemeinde auch Ausgaben für Ausländer oder nicht in Wien wohnhafte ein Dorn im Auge, was zu erheblichen Mängeln in der Armenpflege führte. Außerdem erwartete man von einem Befürsorgten, ein deutliches Bemühen, sich wieder in die Gesellschaft gewinnbringend einzugliedern, was dazu führte, das Bettler oder Landstreicher als "antisoziale" Menschen mit einem "Mangel an Verantwortungsgefühl" den verantwortungsbewußten Proletariern gegenübergestellt wurden, obwohl zu dieser Zeit viele Menschen aufgrund der schlechten Wirtschaftslage in diese Situationen gezwungen wurden. Somit muß gesagt werden, daß das wiener System keineswegs ein nicht wertendes, allen Menschen offenstehendes soziales Netz darstellte, trotz alledem gelang es hier aber, eine viel umfangreichere und planvollere soziale Absicherung zu schaffen, als es andere Länder zu dieser Zeit aufweisen konnten.
Das Kernstück der Jugendfürsorge stellte das Jugendamt dar, das alle Angelegenheiten benachteiligter Kinder regelte (Übernehmen der Vormundschaft, Versorgung der in Familien untergebrachten Kinder durch Finanzmittel und Naturalunterstützung, Elternberatung, psychologische Betreuung), wobei das Heim als letzte Alternative angesehen wurde und die Familie als kleinste "Keimzelle" der Gesellschaft vorgezogen wurde. 1931 verfügte die Stadt Wien über 111 Kindergärten, in denen die Kinder medizinisch und psychologisch (teilweise mit Montessorimethoden) betreut wurden und drei Mal täglich essen konnten, was die Erwerbstätigkeit der Mutter möglich machte. Für die älteren Kinder wurden Horte errichtet, um sie vor der "Bedrohung der Verwahrlosung" zu bewahren, da die meisten aus "tiefsten proletarischen Milieu" stammten. Die alten Erziehungsanstalten wurden zu Resozialisierungszentren umgewandelt, um das Problem der Jugendarbeitslosigkeit zu mildern, wurden Tagesheime eingerichtet, in denen die Jugendlichen essen und lernen konnten, später entstanden gemeinnützige Arbeitsprogramme, bei denen die Mitarbeiter als Belohnung ein warmes Mittagessen erhielten.
Die Gesundheitsvorsorge zielte vor allem darauf ab, den Menschenverlust des ersten Weltkrieges auszugleichen und die katastrophalen sanitären und gesundheitlichen Bedingungen allgemein zu verbessern. Die Betreuung begann schon im Kleinkindalter, alle Geburten mußten gemeldet werden, die medizinische Betreuung der Mutter und des Kindes war kostenlos, Beratungsstellen unterstützten die Eltern bereit während der Schwangerschaft und die Ausgabe von Gratiswindeln verhinderten den damals üblichen Einsatz von Zeitungspapier zum wickeln. In der Schule wurden die Kinder von Schulärzten und 15 Schulzahnkliniken betreut, die sich auch um die Ausspeisung der Kinder kümmerten. Der Unkostenbeitrag lag bei niedrigen 70 Groschen, trotzdem leisteten nur 5% den vollen Betrag, im Gegensatz zu 75% Freiessern.
An erwachsene Personen wurde ein "Erhaltungsbeitrag" gezahlt, wenn diese nicht im stande waren ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Wichtiger als Geldzuwendungen, die als nicht geeignete Mittel betrachtet wurden, waren Natural- und Sachaushilfen wie die Ausgabe von Brennstoffen, Kleidern, Schuhen und Nahrungsmittel. Auch die Errichtung von sogenannten "Wärmestuben" trug maßgeblich zur Besserung der Lebensbedingungen der Bedürftigen, vor allem im Winter, bei.
Finanziert wurde diese an sich ambitionierte Kommunalpolitik aus zwei Quellen, den sogenannten Ertragsanteilen an der Bundessteuer, wobei Wien durch seine Stellung als Gemeinde und Bundesland bevorzugt war, und aus den Einnahmen aus den eigenen Gemeindesteuern, aus den Erträgen der "Fürsorgeabgabe" und der "Biersteuer". Als im Zuge der Angriffe auf die wiener Regierung unter der Regierung Dollfuß die finanziellen Zuschüsse stark verringert und Wien sogar zu Abgaben gezwungen wurde, mußten die Wohlfahrtsausgaben allerdings stark eingeschränkt werden.
Die Bildungspolitik
Als Wien 1922 endgültig von Niederösterreich getrennt wurde, mußte für das neue Bundesland auch eine eigene Schulbehörde geschaffen werden. Dabei wurden der Gemeinde- und der Landesschulrat zusammengelegt und der wiener Stadtschulrat gegründet, der, nicht wie die alte Behörde, auf einige Zimmer im Rathaus beschränkt war, sondern ein eigenes Ringstrassenpallais unweit des Parlaments zur Verfügung gestellt bekam. Mit der Leitung dieser demokratischen Institution, in der die Sozialdemokraten die Mehrheit hatten, wurde der ehemalige Volksschullehrer Otto Glöckel betraut. Glöckel hatte schon zu Zeiten der großen Koalition auf Bundesebene als Staatssekretär für Bildung versucht, eine Schulreform einzuleiten, war aber aufgrund der kurzen Dauer der Koalition gescheitert. Nun nütze er seinen neuen Posten, um seine Reform voran zu treiben. Aufgrund der neuen Staatsform galt es, nicht länger gehorsame Bürger einer Monarchie, sondern selbstständige, freidenkende Bürger einer Demokratie zu erziehen und aus dem autoritären Schulsystem eine kreative, lebendige Schule zu gestalten. 1923 gründete er als Ergänzung zum Stadtschulrat das pädagogische Institut der Stadt Wien, dessen Leitung Viktor Fadrus übernahm, und in dem einige der bekanntesten Wissenschaftler und Intellektuelle der ersten Republik vertreten waren, unter ihnen Karl und Charlotte Bühler, Max Adler und Anna Freud. Sie hatten die Aufgabe, die Schulreform mit neuen Ideen und Anregungen zu versorgen und die Lehrerbildung zu erneuern.
Die Glöckelsche Schulreform verfolge vor allem drei Ziele:
Die Demokratisierung der Schule in deren Zuge zum einen Elternvereine und Schülervertretungen geschaffen wurden, die "ihre" Schule mitgestallten sollten und zum anderen die Trennung zwischen Schule und Kirche gesetzlich festgelegt wurde.
Die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit beim Zugang zur Bildung, die den größten Bruch mit der alten Bildungspolitik darstellte. Hatten früher nur die Kinder von sozial hochstehenden Eltern den Zugang zu einem Gymnasium und einer Matura, während anderen nach der Grundschule eine "volkstümliche" Bildung zu Teil wurde, sollte nun jeder das Recht und die Möglichkeit auf den Besuch einer "allgemeine Mittelschule" bekommen.
Eine radikale Erneuerung des Unterrichts und der Unterrichtsmethoden, die, nicht wie zu Zeiten der Monarchie vor allem den Gehorsam und das stillschweigende Hinnehmen der vermittelnden Inhalte zum Ziel hatte, sondern kreative Kräfte freisetzten und die Eigenheiten und Fähigkeiten der einzelnen Kinder fördern sollte. Es durften während des Unterrichts Fragen gestellt werden, in den Klassenräumen wurde gelacht und die Schüler entdeckten die Freude am Lernen. Der Unterricht legte nicht länger nur auf das möglichst genaue Wiedergeben des Erlernten wert sondern weckte durch Projekte und Lehrausgänge bisher unbekannte Fähigkeiten.
Auch in anderen Bereichen konnte man auf revolutionäre Fortschritte verweisen: Zur besseren Ausbildung der Lehrer wurden viersemestrige Ausbildungskurse am pädagogischen Institut geschaffen, die Ausbildung von körperlich Behinderten wurde durch großzügige Investitionen in das Hilfsschulwesen verbessert bzw. erst ermöglicht. Finanziert wurde diese Reform ebenso wie die anderen ausschließlich aus den Mitteln der Stadt Wien, da sie von der Opposition heftigst bekämpft wurde. Trotzdem wurde durch einen enormen finanziellen Aufwand (bis zu 19% des Budgets) eine Halbierung der durchschnittlichen Schülerzahl pro Klasse erreicht und zur Entlastung der Eltern den Schülern sämtliche benötigte Lehrmittel von der Gemeinde gratis zur Verfügung gestellt. Die Schulbücher wurden vom neu gegründeten Verlag für "Jugend und Volk" neu gestaltet und ihre Inhalte den Idealen der sozialdemokratischen Erziehung angepaßt. Sie wurden mit Bildern ausgestattet, sollten die Kinder nicht nur belehren sondern auch unterhalten, ihre Lesefreude anregen und so zu einer "privaten" Bildung beitragen die durch die Eröffnung zahlreicher öffentlicher Bibliotheken unterstützt wurde.
Im Gegensatz zu dem Schulsystem der Monarchie verbannte Glöckel die Parteipolitik aus der Schule. Er hoffte, daß dank seines reformierten Bildungswesens selbständig und demokratisch denkende Menschen hervorgehen würden, die den Sozialismus ganz von selbst als die beste politische Alternative sowohl zu Kapitalismus als auch zum Kommunismus oder Faschismus erkennen würde.
So wie die neue Schulbildung zielte auch die Erwachsenenbildung auf die Schaffung eines "neuen Menschen" ab. Die Arbeiter sollten in allen Lebensbereichen von der Partei umgeben und "gelenkt" werden, um sie in ihren Glauben an den Sozialismus zu stärken und die neue "Arbeiterkultur" in seiner Rolle als Gegenkultur zu den konservativen Bundesländern zu stärken. Zu diesem Zweck wurde die sozialistische Bildungszentrale geschaffen. Sie bot Vorträge an, baute ein flächendeckendes Bibliotheksnetz auf und kümmerte sich auch die so genannte "Gefühlsbildung" in deren Zuge eine Abgrenzung von bürgerlichen Werten propagiert wurde.
Gleichzeitig mit der sozialistischen Bildungszentrale entstanden auch die Volkshochschulen in einer Kooperation sowohl sozialistischer als auch konservativer Kräfte. Sie waren im Gegensatz zur Bildungszentrale absolut unparteiisch und einzig und allein die "Durchtränkung" der Bevölkerung mit Bildung zum Ziel, die als Mittel zur Überwindung sozialer Gegensätze gesehen wurde.
Die Aufgabe der 1919 gegründeten "sozialdemokratischen Kunststelle" bestand darin, den Arbeitern Zugang zu dem ihnen bisher verschlossenen kulturellen Angebot zu ermöglichen. Es wurden Arbeiter-Symphoniekonzerte abgehalten und alteingesessene Künstler angeregt, mit den sozialistischen Kunstvereinen zusammen zu arbeiten. Da sich das Kulturangebot der Kunststelle aber ausschließlich auf "erhabene Kunst" beschränkte, die nicht den Geschmack der Masse entsprach, waren ihre Bemühungen nicht wirklich von Erfolg gekrönt. Die erfolgreichste sozialistische Kulturinitiative war das politische Kabarett, das in den 30ern seine Blütezeit erlebte und vor allem für Wahlpropaganda eingesetzt wurde.
WAS ÜBRIGBLIEB
Mit der Machtergreifung Dollfuß 1934 endete die Ara des roten Wien. Fast alle sozialdemokratischen Reformen wurden rückgängig gemacht und durch ein faschistisches System ersetzt. Auch wenn die sozialistische Stadtverwaltung ihre Bestrebungen nicht gänzlich verwirklichen konnten (trotz zahlreicher Verbesserung herrschte auch in Wien nie die angestrebte soziale Gerechtigkeit, zahlreiche Menschen lebten trotz kommunalem Wohnbaus unter nicht zumutbaren Bedingungen, die angestrebte proletarische "Gegenkultur" scheiterte bereits in ihren Ansätzen, das Problem der Arbeitslosigkeit konnte nie unter Kontrolle gebracht werden), so wurden doch Modelle geschaffen, die bis in die heutige Zeit nichts an ihrer Vorbildwirkung verloren haben. Zum ersten Mal wurde vorgeführt, wie eine "gerechte Gesellschaft" funktionieren könnte, zum ersten Mal wurde erkannt, das alle Menschen das Recht auf eine menschenwürdiges Leben besitzen, unabhängig von gesellschaftlicher Stellung und Vermögen. Der Karl-Marx-Hof gilt auch heute noch, neben dem Bau der Donauinsel, als Wiens bedeutendster Beitrag zur modernen Architekturgeschichte und die sozialen Reformen des roten Wiens fanden bei Intellektuellen in ganz Europa begeisterten Anklang. Trotz seiner kurzen Dauer und seiner verhältnismäßigen Unvollständigkeit war das rote Wien also Wegbereiter für eine neu entstehende, demokratische Gesellschaftsordnung, die erst Jahre später auch auf internationaler Ebene verwirklicht wurde.
Quellenangabe
Öhlinger, Walter: Wien, 1918-1934
Maderthaner, Wolfgang: Die Österreichische Sozialdemokratie 1918-1934
Mang, Karl: Architektur und Raum
Pirhofer, Gottfried: Die roten Burgen
Melinz, Gerhard: Von der Wohltäterei zur Wohlfahrt
Achs, Oskar: Das rote Wien und die Schule
Böck, Susanne: Neue Menschen - Bildungs- und Kulturarbeit im roten Wien
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