Das belgische Flandern hat einen klangvollen Namen in der europäischen
Geschichte und ist eine der faszinierendsten Stadtlandschaften
Am Grote Markt
von Antwerpen nimmt das Leben täglich seinen Lauf: Morgens schwätzen munter
Frauen im Café, später mischen sich Touristen unter die Damen, und zum Kaffee
am Nachmittag kommen Schüler und Studenten. Auf dem Großen Markt - in fast
allen flämischen Orten gibt es einen Platz mit diesem Namen - pulsiert die
Stadt vor alten Fassaden. Aus dem Miteinander von Geschichte, ehrbaren Bürgern
und lebensfroher Jugend beziehen Flanderns Städte ihre Kraft.
Flandern ist Flandern und doch immer wieder anders. Einmal ist es das
Erholungsziel mit feinen Sandstränden und verträumter Bauernlandschaft, dann
wiederum zeigt es sich zersiedelt oder als Sammlung winziger historischer
Welten - all das macht seinen Mythos aus. In den Innenstädten: edle Modeläden,
feine Cafés, Restaurants und urige Märkte. Die Glockenspiele. Die Türme der
Rathäuser, belforts oder Belfriede genannt, die meilenweit sichtbar aus dem
Wiesengrün der Polderlandschaft aufragen. Die Flüsse und Kanäle mit ihren grün
lackierten Schleusen. Die Madonnen an den Wegkreuzungen. Orte wie Lier, Veurne
oder Kortrijk, in ihrer Art ebenso charakteristisch für die gegensätzliche Vielfalt
flämischer Landschaft wie Mechelen, Brügge, Gent oder Antwerpen: Städte, in
denen Flanderns Bürger eine Kultur schufen, die Europa wesentlich beeinflusst
hat. Im frühen Mittelalter war Flandern gemeinsam mit Italien die bedeutendste
Stadtlandschaft in Europa. In der St. - Bavo - Kathedrale von Gent ist einer
der kostbarsten Schätze des Abendlandes zu sehen: das Polyptychon »Die Anbetung
des Lamm Gottes«, um 1432 auf Eichentafeln gemalt. Das Altarbild ist nicht nur
wegen seiner Farbenfreude, sondern auch der Kriminalgeschichte wegen berühmt,
denn der Flügel »Gerechte Richter« im Altar links unten ist eine Kopie. Das
Original wurde 1934 gestohlen. Damit beginnt die Geschichte von einem der
spektakulärsten und spannendsten Kunstdiebstähle des Abendlandes, der bis heute
nicht aufgeklärt ist. Auch heute sucht Belgien gerechte Richter, denn nach all
den Affären (Dioxin, Dutroux u. a.) besinnt sich das Land.
Das Königreich Belgien, eine der surrealistischen Nationen, ist aus einer Oper
entstanden: Der Anlass zur Gründung des Staates ist ein Volksaufstand, als die
»Stumme von Portici« in Brüssel am 25. August 1830 ihre Premiere feiert. Von
romantischen Freiheitsrufen angefeuert, geht das Volk gegen den
niederländischen König Willem I. auf die Straße. Die Holländer, die das
Nachbarland »niederlandisieren« wollen, werden verjagt, denn die junge Klasse
der Unternehmer und liberalen Politiker will den Anschluss Belgiens an
Frankreich. Das wiederum scheitert am Einspruch Englands. Auf der Londoner
Konferenz beschließen die vier Großmächte England, Frankreich, Preußen und
Russland, Belgien solle ein eigenes stabiles Königreich werden. Leopold, den
Prinzen von Sachsen - Coburg - Gotha, macht man zum Monarchen.
Von Anfang an war der neue Staat, dessen parlamentarische Demokratie älter ist
als die Deutschlands oder der Niederlande, kulturelles und wirtschaftliches
Einzugsgebiet von Frankreich. Belgien wurde schnell zum Musterland des
Kapitalismus. Mit dem Kongo erhielt es eine reiche afrikanische Kolonie und
entwickelte sich prächtig. 1835 fuhr bereits die erste Eisenbahn zwischen
Mechelen und Brüssel.
Geschichte
Die Geschichtsschreibung Belgiens beginnt mit den Römern. Sieben Jahre hatten
Cäsars Legionen gebraucht, um die keltischen Stämme zu besiegen. Die »Pax Romana«
sollte in der Provinz »Gallia Belgica« rund 500 Jahre dauern. Die Römer
begannen mit dem Ausbau des Straßennetzes: Die Via Agrippa etwa führte von
Boulogne über Tongeren und Maastricht zur damaligen Weltstadt Köln.
Bevor die Römer das Land verließen, teilte Kaiser Diokletian Belgien in
»Belgica Prima« im Südosten und »Belgica Secunda« im Westen auf - der Ursprung
der späteren Sprachgrenze. Diese Trennungslinie reicht auch heute noch von der
Nordsee bis zum Dreiländereck bei Aachen und führt über Belgisch - Luxemburg
weiter in Richtung Elsass. Sie gilt als Sprachgrenze und auch als kulturelle
Scheidelinie zwischen dem Germanischen und dem Gallo - Romanischen.
Nach dem Abzug der Römer gegen 400 n.Chr. strömten im Zuge der Völkerwanderung
immer wieder Franken in das Gebiet zwischen Schelde und Maas ein. Unter dem
Geschlecht der Merowinger gewann das Christentum, nachdem es zeitweilig an
Einfluss verloren hatte, wieder an Macht. Der bekannteste »Belgier« jener
Epoche ist Karl der Große, 747 in Herstal geboren, im Jahr 800 in Rom zum
Kaiser gekrönt und 46 Jahre lang mit den Mitteln des Krieges und der Diplomatie
Beherrscher des Frankenreiches.
Um 900 wird der Name Flandern erstmals erwähnt. Er bezeichnet eine Grafschaft
westlich der Schelde. Von der Schelde bis zur Nordsee, von Seeland bis hinunter
nach Artois reicht nun das Machtgebiet der Grafen mit dem gelben Löwenbanner.
Hinter der Küste werden erste große Ländereien von Mönchen eingepoldert, etwa
1125 bei Veurne. Dort erstreckt sich auch das rund drei Meter unter dem
Meeresspiegel liegende Moeren, ein dem Meer im 17. Jh. abgetrotztes Gebiet, das
zu den unspektakulären, aber reizvollen Gegenden Flanderns gehört. Um 1134
werden bei Brügge Deiche gebaut - auch dabei geht es um Trockenlegung zur
Gewinnung fruchtbaren Ackerlandes. Um 1300 sind rund 90 Prozent des einst von
der Schelde überfluteten Landes unter den Pflug gebracht.
Flandern ist das erste Fürstentum, das auf niederländischem Boden entsteht. In
den kommenden drei Jahrhunderten folgen die Fürstentümer Loon, Brabant, Limburg
und der Hennegau. Unter der Herrschaft der Grafen von Flandern wird die
Landwirtschaft ausgebaut, werden Wirtschaft und Handel vorangetrieben, und im
12. und 13. Jh. erkämpfen sich die aufblühenden Städte die Unabhängigkeit von fürstlicher
Bevormundung; Beispiele dafür sind Gent, Brügge und Ypern. In Brüssel
erstreiten sich die Gilden 1312 eine eigene ständische Vertretung. Auf dem Land
erheben sich die Bauern, und in Brabant wird 1248 - erstmalig in Europa - die
Leibeigenschaft abgeschafft. Die günstige Entwicklung der »Niederen Lande«
(damit ist zu dieser Zeit hauptsächlich Flandern gemeint) weckt die Habgier der
Könige von Frankreich. Kämpfe bleiben nicht aus. Berühmt wird die »Schlacht der
Goldenen Sporen« unter Pieter de Konink und Jan Breydel gegen die Franzosen. Am
11. Juli 1302 (Nationalfeiertag in Flandern) besiegt erstmals ein Heer von
Bürgern und Bauern eine Armee von Rittern in offener Schlacht. 700 goldene
Rittersporen hängen danach eine Zeit lang in der Kirche zu Kortrijk, nach einem
Sieg über die Flamen werden sie von denFranzosen zurückerbeutet.
Das 14. Jh. bringt Hungersnöte, Epidemien und die Pest mit sich und schließlich
den 100 - jährigen Krieg zwischen England und Frankreich. Flandern stellt sich
auf die Seite Englands. Gegen Ende des 14. Jhs. fällt Flandern durch Heirat an
das Herzogtum Burgund. Unter Philipp III. (dem Guten) wird Brüssel Hauptstadt
im großen Burgunderreich. In dieser Zeit kommt es auch zum Aufstand Gents, in
dem die Stadt ihre Privilegien verliert und zahlreiche ihrer Bürger das Leben
lassen müssen. Das Erbe Burgunds tritt der Habsburger Maximilian I. an, und
damit bestimmt Österreich die weiteren Geschicke Flanderns.
Die Geburt Karls (des späteren Karls V.) im Jahr 1500 markiert den Beginn einer
neuen Epoche. Der Habsburger wird die Niederlande zu einem einzigen Territorium
zusammenschließen. Karl, in Gent geboren und in Mechelen erzogen, folgt 1517
seinem Großvater auf den spanischen Königsthron und nimmt 1520 die deutsche
Kaiserkrone entgegen. Sein Reich, in dem »die Sonne niemals untergeht«, umfasst
nun halb Europa - die von Spanien gerade hinzugewonnenen Kanarischen Inseln und
Länder in der Neuen Welt mit eingeschlossen. Und Flandern ist in diesem Reich
ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt, denn wann immer der Kaiser in Gent oder
Brüsselweilt, wird die damalige Welt der Christen von hier aus regiert.
Allen politischen Unruhen zum Trotz entwickeln sich Kunst, Kultur und Handwerk
im damaligen Flandern zu hoher Blüte. Im 14. und 15. Jh. ist Flandern Europas
Zentrum der Gobelinweberei. Die wichtigsten Manufakturen befinden sich in
Brügge, Gent, Oudenaarde und Tournai. Vorherrschende Motive sind anfangs
religiöse Szenen, später solche aus der antiken Mythologie. Flämische
Tapisserien zieren Kirchen, Schlösser und Stadtpaläste in ganz Europa. Im 16.
Jh. entsteht die Spitzenklöppelei. Die kostbaren Spitzen werden als
Kleiderschmuck für Patrizier angefertigt. Herstellungszentren sind Brügge,
Mechelen, Brüssel und Antwerpen. Auch heute werden dort noch Spitzen
geklöppelt.
Den frühen Reichtum flämischer Städte dokumentiert auch die Baukunst. Zeugnisse
der so genannten »Scheldegotik«, bei der romanische Strukturelemente teilweise
erhalten blieben,sind die Liebfrauenkirche in Brügge sowie die St. Nikolauskirche
in Gent. Entlang der Küste findet man die so genannte »Küstengotik«, verewigt
in den Giebelhäusern von Veurne und Brügge sowie der Liebfrauenkirche in
Lissewege. Beispiele der »Brabantischen Gotik« sind die Kathedrale St. Rombout
in Mechelen, die Liebfrauenkirche in Antwerpen und die zahlreichen Rathäuser,
etwa in Brüssel, Gent, Löwen und Oudenaarde. Zwischen 1520 und 1600 entstehen
das Antwerpener Rathaus, die Tuchhalle in Tournai, der Bischofshof in
Oudenaarde und Bürgerhäuser im Renaissancestil.
Auch die flämische Malerei erlebt ihren Höhepunkt im 14.und 15. Jh. Die Brüder
Van Eyck malen 1432 ihre »Anbetung des Lammes«; in Brügge arbeitet Hans
Memling, in Gent Joost van Wassenhove. Im 16. Jh. ist Antwerpen das
Kunstzentrum Europas. Die allegorisch - geheimnisvollen Bilder des Hieronymus
Bosch (um 1450 - 1516), die Gemälde Pieter Breughels d. A. (1525 - 1569; auch
Brueghel oder Bruegel geschrieben) mit ihren bäuerlichen Motiven stehen am Ende
einer langen Blütezeit der flämischen Malerei.
Spanien, Hochburg des Katholizismus, löst mit der Unterdrückung des sich
ausbreitenden Calvinismus in Flandern einen Aufstand aus. Da die Statthalterin
Margarete II. von Parma die Unruhen nicht friedlich beenden kann, schickt
Philipp II., der Sohn Karls V., den berüchtigten Herzog Alba nach Flandern, der
die Erhebung blutig und grausam niederschlägt. 1568 beginnt mit dem Aufstand
der Geuzen unter Wilhelm von Nassau - Oranien der achtzigjährige spanisch -
niederländische Krieg.
Am 17. August 1585, als sich Antwerpen nach langer Belagerung Alexander
Farnese, dem Herzog von Parma und Befehlshaber der spanischen Truppen, ergeben
muss, ist Flanderns Niedergang besiegelt. Es folgt die Aufteilung in die
nördlichen, freien Niederlande (das heutige Königreich der Niederlande) und die
weiterhin habsburgisch regierten südlichen Niederlande (etwa das heutige
Belgien). Daraufhin verlagert sich der wirtschaftliche und kulturelle
Schwerpunkt der Niederlande nordwärts. Städte wie Leiden und Amsterdam erleben
einen Zustrom von Flüchtlingen aus Gent, Brügge und Antwerpen, was gleichzeitig
einen ungeahnten Zufluss an Geld, Wissen und Kultur mit sich bringt. Dieser
Zustrom aus dem Süden trägt maßgeblich dazu bei, dass das ehemalige Fischerdorf
Amsterdam im 17. Jh. sein »Goldenes Jahrhundert« erleben kann.
Der spanisch - niederländische Krieg wird 1648 im Westfälischen Frieden
beendet. Der spanische König erkennt die »Vereinigten Niederlande« als freie
und souveräne Länder an und übergibt ihnen Nord - Brabant, Seeländisch Flandern
und das nördliche Limburg, die seitdem zum Königreich der Niederlande gehören.
In Flandern herrscht jedoch auf Grund spanisch - französischer Konflikte
weiterhin Krieg. Erst 1659 kommt es zu einem Vertrag, in dem Frankreich Artois,
Flandern und Teile des Hennegaus erhält. Aber das mittlerweile verarmte
Flandern kennt noch keine Ruhe, sondern bleibt Schlachtfeld bis zum Ende der
spanischen Erbfolgekriege. Erst nach dem Frieden von Utrecht (1714) erholt sich
Flandern unter der Regierung der österreichisch - habsburgischen Maria
Theresia.
Seit die Sprachengrenze 1961 gezogen wurde, ist fast alles zweigeteilt:
Verwaltung, Justiz, Polizei, Medien, Kultur, Politik. Wallonien und Flandern
haben wirtschaftliche Autonomie, die kulturellen Gemeinschaften eigene
Parlamente und je einen Regierungschef. Belgien, mit zehn Millionen Einwohnern
und in seinen Ausmaßen nicht größer als Baden - Württemberg, zählt 44 Minister
und fast 600 Parlamentarier.
Wie aber denken Flamen und Wallonen voneinander? Seit der wirtschaftliche
Schwerpunkt Belgiens in Flandern liegt, wollen die Flamen nicht mehr die
Milchkuh für das arme Wallonien sein und werfen ihren frankophonen Landsleuten
vor, faul zu sein. Die Arbeitslosenquote ist in der Wallonie mehr als doppelt
so hoch wie in Flandern. Die Wallonen bewundern zwar das flämische
Wirtschaftswunder, haben aber Angst vor einer aggressiven flämischen Identität
und wehren sich dagegen, immer noch Sündenbock für die flämische Unterdrückung
von einst zu sein. Schließlich, so ihr Argument, seien die Flamen von ihrer
eigenen französischsprachigen Elite unterdrückt worden, während sie, die
Wallonen, vom Brüsseler Establishment ausgebeutet worden waren. Völker oder
Menschen, die sich mögen, machen Witze übereinander - Flamen kennen keine Witze
über Wallonier.
Darin liegt auch die Ursache, dass beide Landesteile sich im Laufe der Zeit
auseinander gelebt haben. In Wallonien gibt man sich eher links, kämpferischer,
sozialistischer und geht immer wieder auf die Straße. In Flandern ist man
nationalistischer, denn hier musste man für seine Kultur und Sprache kämpfen.
Natürlich weiß man auch um die Missstände in Brüssel, wo sich EU - Beamte in
den Feinschmeckerlokalen durchfuttern, weiß um den Lebensstil der EU -
Wanderprediger, die Gebetsmühlen herunterrattern.
Für die Jugend ist ihr Land ein Spinngewebe von geheimen Pakten, Kompromissen,
Verträgen, in dem sich die Macht in dem »autoritair Consortium« von Bankiers,
Wirtschaftsbossen, einflussreichen Familien, hohen Justizbeamten und Logen
zusammenballt, die schon immer den Lauf der Dinge im Land bestimmten.
Die Auseinandersetzungen im Kernland Europas werden mit einer Zähigkeit
geführt, die man den als umgänglich bekannten Belgiern, weltberühmt für ihre
feine Küche, ihre sahnigen Pralinen und ihre Biere, nicht zugetraut hätte.
Allen Besuchern bietet dieses abwechslungsreiche Land mit den kurzen
Entfernungen alles, was man zum Leben braucht - zu einem Leben wie Gott in
Flandern.