Die Wiedervereinigung
Die Wiedervereinigung Deutschlands vollzog sich 1990 innerhalb weniger Monate.
Von niemandem vorausgesehen, erschien sie fast wie ein Wunder. Erst in der
Rückschau wird erkennbar, welche Voraussetzungen zusammenkommen mußten, um das
gänzlich Unerwartete Wirklichkeit werden zu lassen.
Die deutsche Wiedervereinigung war kein isolierter Vorgang. Sie war eingebettet
in den Zerfallsprozeß des Kommunismus, der 1989/90 mit dem jähen Zusammenbruch
des Herrschaftssystems in sechs Staaten des damaligen Ostblocks endete. Nicht
ausgelöst, aber stark beschleunigt wurde der Prozeß durch die Reformpolitik
Gorbatschows in der UdSSR. Gorbatschow ließ eine bis dahin undenkbare Lockerung
der Blockdisziplin zu und gab schließlich zu erkennen, daß sich die Sowjetunion
nicht in die inneren Angelegenheiten der »Bruderländer« einzumischen gedachte.
Dieser Politik lag die Einsicht zugrunde, daß das von Stalin ererbte System der
Satellitenstaaten für Moskau eher eine Belastung als ein Trumpf war.
So kam es, daß die Parteiführungen der Blockstaaten - mit Ausnahme der
rumänischen - den demokratischen Kräften, die sich in Massendemonstrationen
gegen sie erhoben, fast widerstandslos das Feld räumten. Das war auch in der
DDR der Fall, aber hier kam etwas Besonderes hinzu: die DDR war kein Nationalstaat.
Ungarn blieb Ungarn, Polen blieb Polen, gleichgültig, wer dort regierte. Die
DDR existierte nur kraft der von der Sowjetunion gestützten Diktatur der SED.
Sie war von der großen Mehrheit der Bevölkerung niemals als ihr Staat
akzeptiert worden. Die SED-Ideologen glaubten selbst nicht an ihre
Propagandathese, in der DDR sei eine eigene Nation entstanden.
So kam der stärkste Anstoß zum Sturz des SED-Regimes nicht von den mutigen
Oppositionellen, die auf die Straße gingen und Reformen forderten; er kam
vielmehr von der Massenflucht einfacher DDR-Bürger, die im September 1989
einsetzte, nachdem Ungarn seine Grenze zu Österreich geöffnet hatte. Diese
Flüchtlinge wollten keine andere, bessere DDR, sondern überhaupt keine DDR; sie
wollten in der Bundesrepublik leben. Als klar wurde, daß die Sowjetunion nicht
zugunsten des Regimes eingriff, war das Schicksal der DDR besiegelt. Die
überwältigende Mehrheit stimmte in die Losung »Deutschland, einig Vaterland«
ein. Die Wiedervereinigung war das Werk einer elementaren Volksbewegung.
Politikern und Diplomaten blieb nur die Aufgabe, das Ergebnis in rechtliche
Formen zu kleiden.