Völkerwanderung
Seit Anfang des 18. Jahrhunderts bezeichnet der Begriff »Völkerwanderung« als
Lehnübersetzung des lateinischen »migratio gentium« die Völkerbewegungen der
germanischen Stämme zur Zeit des spätrömischen Reichs, auf dessen Boden
germanische Staaten gegründet wurden. Vor allem ökonomische Probleme lösten die
Völkerwanderung aus.
Die wachsende Bevölkerung in den angestammten germanischen Siedlungsgebieten
konnte aufgrund der Versorgungsnöte durch unzureichend bewirtschaftete Böden,
geringe Ernten und widrige klimatische Bedingungen kaum ernährt werden. Der
Auswanderungswille wurde nicht nur durch den Druck der Hunnen seit 375
verstärkt, sondern auch durch den Bedarf an germanischen Söldnern im römischen
Heer. Die römische Ansiedlungspolitik zur Sicherung der Reichsgrenzen und
bedrohter Provinzen versprach Autonomie, Steuerfreiheit und Geldzahlungen für
die germanischen Bundesgenossen.
Diese Entwicklungen hatten weitreichende Auswirkungen und sollten besonders für
das Römische Reich nicht ohne Folgen bleiben. Denn die als barbarisch
bezeichneten Stämme verschärften die Widersprüche in der spätantiken römischen
Gesellschaft. Neue Produktionsverhältnisse gaben den Anstoß zur Überwindung von
Sklaverei und Gentilordnung und begünstigten die Entstehung feudaler
Sozialstrukturen. Im Zusammenhang mit den Wanderungen ist auch die
Herausbildung eines germanischen Königtums zu sehen, das sich aus der Heerzug-Führung
entwickelte und auf dessen Grundlage die Reichsgründungen auf römischem Boden
im 5. und 6. Jahrhundert erfolgten. Dabei sollte sich vor allem das Reich der
Franken als dauerhaft erweisen, denn im fränkischen Königtum konnte sich das
germanische Heerkönigtum mit der römischen Verwaltungstradition verbinden.
Außerdem überwand der fränkische Reichsgründer Chlodwig durch die Annahme des
katholischen Glaubens den religiös-konfessionellen Gegensatz zwischen den
germanischen Einwanderern und den Römern. So entstand aus den Wirren der
Völkerwanderungszeit eine stabile politische Einheit. Die »Verchristlichung des
germanischen Königsgedankens« schuf dann die Voraussetzung für die »Entstehung
des christlich-katholischen Abendlandes« (Hans K. Schulze). Die Franken hatten
sich als Bundesgenosssen des maroden Römischen Reiches an dessen Sozialordnung
geschult und bildeten damit eine Brücke zwischen römischer Antike und
europäischem Mittelalter.