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An dem Tag, als ich Magnolia Brown zum ersten Mal sah, riß mich meine Mutter nachts um drei Uhr dreiunddreißig aus dem Schlaf. Und zum ersten Mal nahm ich ihr das übel.

Ich litt seit vier Tagen an einem sehr belastenden Bronchialkatarrh und verließ das Haus nur, um in der Apotheke Zur heiligen Magdalena Ecke Kettenbrückengasse Rechte Wienzeile Medikamente zu besorgen und auf dem Naschmarkt ein Stück Kavalierspitz, einen großen Markknochen, etwas Wurzelwerk und ein paar Zwiebeln zu kaufen, die Zutaten für eine kräftigende Rindsuppe. Eine kräftigende Rindsuppe ist das einzige, was ich zu mir nehmen kann, wenn einer dieser bedrohlichen Infekte mich überfällt, wie sie mich heimsuchen, soweit meine Erinnerung zurückreicht. Seit ich denken kann, ist meine Immunität gegen Viren unzureichend, bin ich während der kalten Jahreszeit nahezu ununterbrochen Opfer verschiedener Abarten von Erkältungskrankheiten. Ist in meinem Kaffeehaus, dem Café Anzengruber in der Schleifmühlgasse, nur noch ein Platz in der Nähe der Eingangstür frei, so führt die bei jedem Eintreten eines neuen Gastes entstehende Zugluft mit an Sicherheit grenzender der Wahrscheinlichkeit schon nach ein, zwei Tagen zu einer Bronchitis acuta, die mich tagelang ans Bett fesselt. Bin ich gezwungen, bei naßkaltem Wetter in einer überfüllten Straßenbahn zu stehen, kann ich mit einer katarrhtischen Tonsillitis gravierenden Ausmaßes rechnen. Gehe ich Anfang Dezember spätabends nach Hause und nehme geistesabwesend meinen Weg zwischen den verlassenen Ständen des Naschmarktes hindurch, so lösen die durch diesen architektonischen Engpaß verstärkten herbstlichen Wiener Windstöße unweigerlich eine unter Umständen schon länger im Ansatz vorhandene, nur noch auf ihren Ausbruch wartende, mit hohem Fieber und Benommenheit einhergehende Kopfgrippe aus.

Natürlich ist Wien mit seinem gefürchteten Wiener Wind, mit seinen im Winter beängstigend niedrigen Temperaturen für einen anfälligen Typus meiner An nicht der geeignete Lebensort. Die Pharmazeutin aus der Apotheke Zur heiligen Magdalena, eine feinfühlige Frau, die viel Verständnis für ein empfindliches Wesen wie mich aufbringt, rät mir, ich solle doch zu Mariä Geburt in ein südlicheres Land ziehen, so wie die Schwalben, und zu Mariä Verkündigung wiederkommen. Dächte ich nie daran, mich beispielsweise auf Madeira niederzulassen, fragt sie, so wie damals unsere Kaiserin Elisabeth, auf die angegriffene Lunge der Kaiserin Sisi habe das Klima dieser Insel äußerst wohltuend gewirkt, ihrer Ansicht nach liege das Geheimnis im vulkanischen Ursprung Madeiras, sie habe jüngst einen wissenschaftlichen Artikel in der Fachzeitschrift Die fröhliche Apothekerin gelesen, in welchem diese These verfechten worden sei, das glückliche Zusammentreffen vulkanischer Phänomene und eines extrem maritimen Klimas sei es, was chronisch Erkälteten Genesung bringe. Falls mir Madeira zu weit entfernt sei, könne ich es doch auch mit den Liparischen Inseln versuchen, vermutlich sei Stromboli gleichfalls ein der Stabilisierung leicht entzündlicher Atemwege äußerst zuträglicher Ort. Die mysteriöse Verbindung des Vulkanischen mit dem Maritimen, des Wassers mit dem Feuer, das unmittelbare Nebeneinander dieser beiden gegenständlichen Elemente sei offensichtlich von größter Heilkraft. Ich hüte mich, der Pharmazeutin, die gut informiert zu sein scheint und den Schilderungen meines erbarmungswürdigen Gesundheitszustandes stets geduldiges Gehör schenkt, zu widersprechen, und weise lediglich darauf hin, daß mein karges Einkommen mir derartige Fernreisen nicht gestatte, der Kaiserin Sisi seien völlig andere Möglichkeiten zu Gebote gestanden, Königin Viktoria habe ihr höchstpersönlich für die Fahrt nach Madeira ein Schiff zur Verfügung gestellt, eine Hilfsmaßnahme, zu der sich die Wiener Gebietskrankenkasse wohl schwerlich entschlösse, selbst wenn man seinen Mitgliedsbeitrag jahrzehntelang pünktlich entrichtet hätte. An dieser Stelle mischt sich die junge Apothekenaushilfskraft ins Gespräch und meint, ihrem Onkel, der aus heiterem Himmel von einer schweren Lappenpneumonie befallen worden sei, habe die Wiener Gebietskrankenkasse anstandslos eine Mittelmeerkreuzfahrt zweiter Klasse genehmigt, solche Gesundheitskreuzfahrten seien durchaus nichts Ungewöhnliches, und der Onkel sei drei Wochen später mit vollkommen intakten Lungenlappen in Triest von Bord gegangen. Darauf erhebt die Greisin aus dem Haus Kettenbrückengasse vierzehn, die eben mit ihrem Zwergspaniel die Apotheke betreten hat, ihre schwache Stimme und sagt, die Kaiserin Sisi sei eine Simulantin gewesen, nichts als eine Simulantin, dafür gebe es Beweise, wer habe denn die kostspieligen Reisen dieser eingebildeten Kranken bezahlt, wenn nicht die von den Vampiren des Kaiserhauses bis aufs Blut ausgesogenen Bewohner der Monarchie, unter anderem ihr seliger Vater, der bei seinem Ableben die ehrenvolle Position eines Wirklichen Hofrats in Ruhe innegehabt hätte, wo käme man hin, wenn man wegen jeder Kleinigkeit die Krankenkassen in Anspruch nehme, ihr seliger Vater habe sein schmerzhaftes Rheuma ertragen, ohne zu klagen, und sie selbst versuche seit Jahren, ihre alles andere als eingebildete Polyarthritis mit mühevoll im Wienerwald gesammelten Heilkräutern zu lindern, ein wenig Solidarität gegenüber den wirklich schwer Kranken sei doch zu erwarten.

Ich bitte die drei Damen, mich ausreden zu lassen, und erkläre, abgesehen von der finanziellen Unmöglichkeit, mir weite Reisen zu leisten, hielten mich meine Schüler in Wien fest, und außerdem liebte ich Wien.

Selbstverständlich liebe man Wien, rufen die Pharmazeutin, die Greisin und die Apothekenaushilfskraft, selbstverständlich, nicht nur die Wiener liebten Wien, alle Welt liebe Wien, das ließe sich anhand jeder sich mit den Nächtigungsziffern der Wiener Beherbergungsbetriebe beschäftigenden Statistik im Handumdrehen nachweisen. Auch sie als geborene Nichtwienerin liebten Wien über die Maßen, man müsse nicht aus Wien sein, so wie ich, um mit jeder Faser seines Herzens an dieser Stadt zu hängen, um die profundeste Zuneigung zu diesem Ort zu empfinden. Natürlich liebt man Wien. Man liebt es innig, so wie man seine Mutter liebt, auch wenn einem zu Bronchialasthma neigenden Menschen eine solche zärtliche Liebe aufgrund der rauhen klimatischen Verhältnisse im Wiener Herbst und Winter nicht leicht gemacht wird.

Nachdem ich in der Apotheke Zur heiligen Magdalena je ein Säckchen Veilchenblätter-, Lindenblüten- und Taubnesseltee sowie zwei kleine Phiolen Atropinum sulfuricum D3 und Arsenicum D6 erstanden hatte, trat ich den Weg zurück ins Sterbehaus an. Ich ging langsam und machte, wie es meine Gewohnheit war, in der Trafik Ecke Kettenbrückengasse Schönbrunnerstraße kurz Rast, denn chronische Erkältungen schwächen den Organismus im Lauf der Zeit ungemein. Üblicherweise setze ich mich auf das Klappstühlchen neben dem kleinen Eisenofen und unterhalte mich mit der Trafikantin ein wenig über allgemein vorbeugende gesundheitliche Maßnahmen, denn auch sie ist keineswegs mit einer robusten körperlichen Konstitution gesegnet An jenem Tag mußte ich jedoch etwas irritiert feststellen, daß die Trafikantin bereits selbst auf dem Stühlchen Platz genommen hatte, und noch bevor ich Gelegenheit erhielt, ihr meine Symptome zu schildern, begann sie über die unerträglichen Rückenschmerzen zu klagen, die ihr das Stehen hinter dem Ladentisch ganz unmöglich machten. Ich stützte mich auf einen Stapel der Wochenzeitschrift Profil, denn infolge der Anstrengung des Gehens hatte ich mit starkem Seitenstechen zu kämpfen, und riet der Trafikantin, unbedingt ärztlichen Rat beizuziehen, worauf sie sagte, sie könne die Trafik doch nicht einfach verlassen, ihre Trafik sei ein Ort der Begegnung, außerdem hätten die Bewohner des Viertels ein Anrecht auf ihre täglichen Zeitungen und Rauchwaren, seit nunmehr zweiundzwanzig Jahren führe sie die Trafik zur Zufriedenheit der Bürger des vierten und fünften Wiener Gemeindebezirks, man könne diese Bürger doch nicht unvorbereitet mit derart einschneidenden Veränderungen wie der, wenn auch nur zeitweiligen, Schließung ihrer Trafik konfrontieren, worauf ich meinte, prinzipiell sei ich in dringenden Fällen gern bereit, sie in der Trafik zu vertreten, allerdings nur, wenn es mein eigener, wie sie wisse, fast ständig beeinträchtigter Gesundheitszustand erlaube. Wo eigentlich ihr Mann sei, fragte ich dann und schaute mich um, normalerweise sei ihr doch ihr Mann beim Verkauf behilflich. Aber ich wisse doch, rief die Trafikantin und sah mich mit großen Augen an, ich müsse doch wissen, daß ihr Mann Invalide sei, einerseits fraglos eine Tragödie, andererseits aber auch wieder ein Glück, denn als Nichtinvalide hätte er wesentlich weniger Chancen gehabt, die Trafik an sich zu bringen, Invaliden, insbesondere Kriegsinvaliden, würden bei der Vergabe von Trafiken, die ja ein Monopol des österreichischen Staates seien, gegenüber Nichtinvaliden stark bevorzugt. Eine naßkalte Spätherbstwetterlage wie die gegenwärtige sei für ihren Mann das Allerungünstigste, ein solches Allerheiligenwetter rufe im bedauerlicherweise nicht mehr vorhandenen linken Unterschenkel ihres Mannes jedesmal Phantomschmerzen hervor, die ihn zur Bettruhe zwingen.

Mittlerweile hatte ich mich ein wenig erholt, und da ich unter den gegebenen Umständen keine Möglichkeit einer ausführlicheren Erörterung meines Bronchialkatarrhs sah und die Trafikantin auch keine Anstalten machte, mir das Klappstühlchen als Sitzgelegenheit anzubieten, verabschiedete ich mich von ihr und verließ etwas überstürzt das Verkaufslokal, eine Hast, die sich bereits nach etwa zehn Metern Ankämpfens gegen den Wind rächte, da ich zu meiner Bestürzung bemerkte, daß ich meinen Schal aus handgesponnener Schafwolle in der Trafik vergessen hatte, eine Fehlhandlung, die bei der herrschenden Witterung ernste Folgen haben konnte. Rasch zog ich mir den Mantelkragen bis ans Kinn und ging zur Trafik zurück, wo mich die Trafikantin bereits mit dem schneeweißen, von mir selbst im Halbpatentmuster gestrickten Schal in den Händen erwartete, und ich wand das Kleidungsstück, das ich sehr schätzte, dreimal um meinen Hals und machte die Trafiktür ein zweites Mal hinter mir zu. Eine Aggravierung meines Zustandes war zu befürchten, da mein Luftröhrenbereich, bedingt durch die mir unterlaufene grobe Fahrlässigkeit, völlig schutzlos Wind und Wetter ausgesetzt gewesen war, und schon spürte ich eine deutliche Verengung dieser Zone und beeilte mich, ins Sterbehaus zurückzukommen, bevor mich Atemnot vollends erschöpfte. Während ich mich am Treppengeländer hochzog, kam mir meine Nachbarin entgegen, eine sympathische ehemalige Pastoralassistentin mit Blutsverwandten in der Buckligen Welt, von wo sie mir freundlicherweise dann und wann ein Glas naturbelassenen Lindenblütenhonigs aus der Imkerei mit Königinnenzucht ihres Schwagers mitbringt, naturbelassener Lindenblütenhonig ohne Hitzeschaden ist eines der besten Mittel gegen gefährdete Bronchien, ein Labsal für zu Hustenanfällen neigende Personen. Fräulein Haslinger blickte mich erschrocken an, fragte mich, ob mir etwas fehle, und bot mir hilfsbereit ihren Arm, den ich erleichtert ergriff, dann führte sie mich zu meiner direkt neben Schuberts Sterbezimmer gelegenen Wohnung und half mir beim Aufsperren der Eingangstür. Ich bedankte mich, schloß die Tür und legte mich mit Mantel und Schal auf mein Bett.




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