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Wir haben bisher schon viel über unsere Volkswirtschaft gehört. Bisher war aber immer die Rede von denjenigen, die man landläufig als Arbeitgeber oder Interessenvertreter bezeichnet. Ich denke, es wird deshalb Zeit, dass wir uns auch mal auf die andere Seite von Arbeitsverträgen begeben und uns mit den ganz normalen Arbeitnehmern in diesem Land auseinandersetzen. Die mit Abstand grösste Lobby der Arbeitnehmerschaft ist der Schweizerische Gewerkschaftsbund, in welchem derzeit ungefähr 411'000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein Forum finden. Der SGB ist der Grösste von insgesamt 4 Dachverbänden in denen derzeit 49 Gewerkschaften organisiert sind. Unter dem Dach des SGB sind 18 Gewerkschaften organisiert.
"In einer Gewerkschaft schliessen sich die Arbeitnehmenden zusammen, um ihre gemeinsamen Interessen wahrzunehmen. Die Gewerkschaften vertreten die Anliegen ihrer Mitglieder und der Arbeitnehmenden insgesamt gegenüber den Arbeitgebern, staatlichen und weiteren Instanzen.
Die Gewerkschaften wollen die Arbeitswelt verbessern und deshalb den betrieblichen Alltag mitgestalten. Dazu schliessen sie Gesamtarbeitsverträge ab. Wenn nötig, intervenieren sie direkt an Ort und Stelle.
Gewerkschaften nehmen aber auch eine politische und
gesellschaftliche Rolle wahr. Deshalb setzen sie sich mit Gleichgesinnten für
soziale Gerechtigkeit und eine bessere Arbeitswelt ein.
Deshalb bieten sie eine breite Bildung an.
Deshalb treten sie an die Öffentlichkeit."
Am Anfang der Arbeiterbewegung in der Schweiz stand der Grütliverein, der 1838 in Genf gegründet wurde. Dieser Verein erlebte zwischen 1848 (Gründung des Bundesstaates) und 1890 einen grossen Aufschwung. Im ganzen Land entstanden sogenannte Grütlisektionen. Ziel dieses Vereins war die "demokratische Bildung" der sozial benachteiligten Schichten des Landes, die für einen aktive Mitarbeit am neuentstandenen Bundesstaat gewonnen werden sollten. Oberste Ziele des Grütlivereins waren die staatlich geregelte Schulpflicht mit unentgeltlichen Lehrmitteln und eine Sozialgesetzgebung. Aus den Grütlivereinen gingen im übrigen die Konsumvereine (heutige Coop-Läden) und die frühere Grütli-Krankenkasse hervor. Die besondere Bedeutung an den Grütlivereinen lag daran, dass der Arbeiter zum ersten Mal als vollwertiger Staatsbürger akzeptiert wurde und man ihm das Recht und die Fähigkeit zuerkannte, sich staats- und gesellschaftspolitisch zu äussern.
Im Jahre 1873 bildete sich der erste "Arbeiterbund", der halb Gewerkschaft und halb Partei war. In den Jahren 1880 und 1888 traten der Schweizerische Gewerkschaftsbund und die Sozialdemokratische Partei der Schweiz an seine Stelle.
Der SGB trat 1904 der Internationale[1] bei und bekannte sich so zur Doktrin der Beseitigung des Privateigentums. Wie sooft waren die schweizerischen "Klassenkämpfer" aber stets äusserst gemässigt.
Ein weiteres wichtiges Ereignis in der schweizerischen Arbeitergeschichte bildete der grosse Landesstreik (12. bis 14. November 1918), auf den ich hier leider nicht detailliert eingehen kann. Es ist aber wichtig hier zu sagen, dass er eigentlich erfolglos zusammenbrach, da sich die Arbeiterschaft nicht vollständig hinter den Streik gestellt hatte. Als Erfolg dieser Bewegung kann allerdings die Tatsache gewertet werden, dass es 1919 zur geforderten 48-Stunden-Woche in der Industrie und zur Durchsetzung des Proporzwahlverfahrens kam.
Im Jahre 1937 schloss die Gewerkschaft der Metall- und Uhrenarbeiter mit den Arbeitgebern den sogenannten "Arbeitsfrieden", in Form des ersten Gesamtarbeitsvertrages. Diese Regelung machte Schule und in der Folge lockerten sich die Klassenkampfgegensätze. Von diesem Zeitpunkt an begegneten sich die Partner Arbeitgeber und Arbeitnehmer zumeist auf der Basis der Gleichberechtigung.
Die Gewerkschaften schliessen mit der jeweiligen Arbeitgeberorganisation sogenannte Gesamtarbeitsverträge (GAV) ab. Diese regeln die Arbeitsbedingungen verbindlich. Gesamtarbeitsverträge können sich auf eine ganze Branche oder nur auf eine einzelne Firma beziehen. Sie gelten für jeweils eine beschränkte Zeit, meist für 2 bis 4 Jahre und müssen dann neu ausgehandelt werden. Vor kurzem war diesbezüglich in den Medien zu erfahren, dass in der Schweiz immer weniger Arbeitnehmer unter einem GAV stehen.
Die GAV legen die folgenden Punkte fest:
die Mindestlöhne
die Arbeitsdauer
die Ferienlänge
die Mitsprache der Arbeitnehmenden
Schutzbestimmungen bei Krankheit und Unfall
Massnahmen zum Gesundheitsschutz
die Dauer von Bildungsurlaub
Die Gewerkschaften bieten ihren Mitgliedern einen juristischen Beratungsdienst an. Der Schutz kann sich bis zu Gerichtsprozessen erstrecken.
Zahlreiche Gewerkschaften bieten ihren Mitgliedern zu ermässigten Preisen ein attraktives Ferienangebot (eigene Wohnungen, Hotels, Chalets).
Die Gewerkschaften bieten Hilfe bei der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Sie organisieren in Zusammenarbeit mit Berufsverbänden entsprechende Kurse.
Die Gewerkschaften bieten eine Fülle von Kursen und Tagungen zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Fragen.
Auch die Freizeitgestaltung hat bei den Gewerkschaften einen hohen Stellenwert. Die Gewerkschaften organisieren regelmässige gesellige Anlässe. Man trifft sich zum Sport, zum Spiel oder bloss zu einem gemütlichen "Schwatz".
Gemäss den derzeit gültigen Statuten des SGB kämpft dieser für "soziale Gerechtigkeit und setzt sich für die Wahrung der die Gesamtheit der Gewerkschaftsverbände und deren Mitglieder berührenden Interessen ein."[2]
Der Aufgabenkreis des SGB dient der gesamten schweizerischen Gewerkschaftsbewegung. Die Durchführung sämtlicher Aktionen, die vom SGB ausgehen, müssen von den Mitgliedern abgesegnet werden. Dem Gewerkschaftsbund obliegt die Bearbeitung der Fragen allgemeiner Natur auf sozialpolitischem und wirtschaftspolitischem und organisatorischen Gebiet. Der SGB fasst Parolen zu eidgenössischen Abstimmungen und lanciert auch selber Initiativen oder Referenden (Beschluss der Delegiertenversammlung).
Die einzelnen Gewerkschaften und Berufsorganisationen in der Schweiz schlossen sich in den allermeisten Fällen zu Dachverbänden zusammen. Der SGB ist der grösste dieser Dachverbände.
Im Schweizerischen Gewerkschaftsbund sind 18 Gewerkschaften organisiert, die wiederum 411'000 Mitglieder vereinigen:
GBI (Bau und Industrie)
SMUV (Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen)
SEV (Eisenbahn- und Verkehrspersonal)
VPOD (Personal öffentlicher Dienste)
VHTL (Verkauf, Handel, Transport, Lebensmittel)
PTT-Union (Post-, Telefon- und Telegrafenbeamte)
GDP (Druck und Papier)
SLB (Lithographenbund)
unia (Dienstleistungen)
VSPB (Postbeamte)
VSTTB (Telefon- und Telegrafenbeamte)
SPV (Posthalter)
VSZP (Zollpersonal)
SSM (Medienschaffende)
SMV (Musikerverband)
VSFP (Flugsicherungspersonal)
SVSW (Seidenbeuteltuchwebereien)
SCVP (Coiffeurpersonal)
Die Organe des Gewerkschaftsbundes sind:[3]
Der Gewerkschaftskongress; dieser setzt sich aus gewählten Delegierten der nationalen und kantonalen Gewerkschaftsverbände zusammen, er findet ordentlicherweise alle vier Jahre statt. Er beschliesst das SGB-Tätigkeitsprogramm, worauf ich später noch genauer eingehen werde, und er wählt den Präsidialausschuss. Nächstmals wird der Kongress im November dieses Jahres in Davos stattfinden. Insbesondere werden dort die Weichen für eine Straffung der SGB-Strukturen gestellt werden.
Die Delegiertenversammlung entspricht eigentlich dem Gewerkschaftskongress, wird aber mit weniger Delegierten, als beim Kongress anwesend sind, abgehalten. Sie tritt mindestens zweimal jährlich zusammen und beschliesst über Aufnahme neuer Verbände, Wahl der Vorstandsmitglider, Rechnungsprüfungskommission und Geschäftsleitung etc.. Sie ist das Kontrollorgan der Geschäftsführung des Vorstandes, z.B. wird hier auch das Budget und die Rechnung verabschiedet.
Der Vorstand ist auf vier Jahre gewählt und vertritt den SGB gegenüber den Behörden und der Öffentlichkeit. Er überwacht im eigentlichen Sinne die Tagesgeschäfte (Tätigkeitsprogramm, Publikationen, Pflege von internationalen und interkantonalen Beziehungen, Finanzierung von geplanten Aktionen). Im Vorstand sitzen derzeit 28 Personen, die von den einzelnen Gewerkschaften in den Vorstand gewählt worden sind.
Der Präsidialausschuss besteht aus sechs Vortstandsmitgliedern. Er ist zuständig für die dringenden Geschäfte, die zwischen Vorstandssitzungen zu erledigen sind. Ausserdem ist er für die Ausführung der Beschlüsse des Vorstandes, der Delegiertenversammlung und des Kongresses zuständig. Er ist das Kontrollorgan des SGB-Sekretariates. Derzeit sitzen beispielsweise die beiden Co-Präsidenten Christiane Brunner und Vasco Pedrina und Nationalratspräsident Ernst Leuenberger, als Vertreter des Eisenbahnerverbandes, in diesem Ausschuss.
Das Sekretariat unterhält in Bern ein ständiges Büro. Es ist die Informations- und Dokumentationsstelle des SGB. Es wird ausserdem eine Bibliothek unterhalten, die allen Interessierten zugänglich ist, beispielsweise auch für HWV-Studenten, die Vorträge vorzubereiten haben. Der heutige Sekretariatsleiter ist im übrigen Serge Gaillard, der am letzten HWV-Forum teilnahm. Vorgängerin Gaillards war die heutige Bundesrätin Ruth Dreifuss.
Im weiteren gibt es noch eine Rechnungsprüfungskommission und Sonderkongresse, die nach Bedarf zusammengesetzt werden. Daneben gibt es noch die kantonalen und lokalen Gewerkschaftsbünde, die bei Bedarf in die Organisationsstrukturen des SGB miteinbezogen werden.
Die dem SGB angehörenden Verbände leiden seit vielen Jahren unter einem ernstzunehmenden Mitgliederschwund. Ende 1996 waren bei den SGB-Mitglieder insgesamt 411'072 Mitglieder eingeschrieben. Gegenüber 1995 ging diese Zahl um etwas mehr als 2 % zurück. Dieser Trend hält seit 1992 an. Es handelt sich dabei vermutlich um die typische Reaktion der Mitgliederentwicklung auf den Beschäftigungsrückgang und das Ansteigen der Erwerbslosigkeit. Bemerkenswert dagegen ist, dass der Anteil der weiblichen Gewerkschaftsmitglieder seit Anfang der 90er-Jahre kontinuierlich anstieg.[4]
Die Beiträge, die Gewerkschaftsmitglieder an ihre Gewerkschaft entrichten müssen, variieren zwischen Fr. 300.-und 600.-pro Jahr. Lehrlinge und Nichtverdienende bezahlen meist bloss einen symbolischen Beitrag. Von diesen Beträgen geben die angeschlossenen Gewerkschaften Fr. 14.40 pro Jahr und Mitglied an den SGB weiter. Das Budget 1997 belief sich auf 4,7 Mio. Franken. Der Grossteil dieses Geldes wurde für die Infrastruktur und (Bildungszentrale, Bibliothek, internationale und europäische Dachorganisationen) die 35 SGB-Angestellten aufgewendet.
Nach dem überwältigenden Sieg des Gewerkschaftsbundes beim Referendum gegen das neue Arbeitsgesetz vom 1. Dezember 1996 hat sich der SGB wieder stärker auf sein Arbeitsprogramm beschränkt, welches der SGB-Kongress vom Juni 1992 für zehn Jahre beschloss. Im wesentlichen beinhaltet dieses Arbeitsprogramm die folgenden Punkte:
Die Arbeitszeit ist beschäftigungswirksam zu kürzen. Ziel muss die Vollbeschäftigung sein. Richtungsweisend ist die 35-Stunden-Woche in GAV zu regeln.
Die Schweiz soll der EU beitreten. Dazu muss sie innenpolitische Reformen anpacken. Das Saisonnierstatut soll fallen.
Der SGB wehrt sich gegen ein höheres Rentenalter bei Frauen.
Das System der GAV ist zu erhalten und auszubauen. Die gewerkschaftlichen Rechte am Arbeitsplatz sind gesetzlich zu sichern.
Die Gleichstellung von Mann und Frau soll durchgesetzt werden.
Die in der Schweiz lebenden Ausländer sollen besser integriert werden.
Die aktuellsten Ausserungen des SGB datieren von der Jahrespressekonferenz vom Januar dieses Jahres. Der SGB äusserte sich darin vor allem zur AHV-Auffangsinitiative, die das höhere Rentenalter der Frauen bekämpfen will, welches in der AHV-Revisionsabstimmung von 1995 beschlossen worden war und weiter lanciert der SGB zwei Volksinitiativen: "für eine kürzere und flexiblere Arbeitszeit" und "für eine Kapitalgewinnsteuer für Beschäftigung". Darauf möchte ich hier aber nicht näher eingehen.
Um nochmals auf das bachab-geschickte Arbeitsgesetz zurückzukommen. Derzeit sind im National- und Ständerat die ersten Lesungen zum neuen Arbeitsgesetz im Gange. Es sieht derzeit so aus, als ob die Forderungen der Gewerkschaften, wie die Kompensation der Nachtarbeit, im neuen Gesetz wieder Beachtung finden. Ein Teil der Gewerkschaften hat allerdings bereits mit einem erneuten Referendum gedroht, davon distanzierte sich der SGB aber ganz klar, da er diesen Reform- und Kompromissvorschlag aus dem Parlament nicht gefährden will.
Die Gewerkschaften sind das einzige Gefäss, die sich direkt der Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer annehmen. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund, so meine ich, ist das notwendige Gegengewicht zum starken Arbeitnehmerverband oder auch zu den übrigen Industriellenvereinigungen.
Ich hoffe, Euch einen interessanten Einblick in das schweizerische Gewerkschaftswesen gegeben zu haben. Merci.
Pascal M. Estermann, März 1998
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