Neuorientierung der baltischen Staaten
Im Januar 1991 lehnten sich die baltischen
Staaten gegen die Russen auf. Sie lösten sich aus dem Verband der UdSSR.
Seitdem sind sie auf der Suche nach wirtschaftlichem und politischem Anschluß
an westliche Demokratien. Lange Zeit hatten die baltischen Staaten Estland,
Lettland und Litauen Brückenfunktion zwischen Rußland und Westeuropa. Jetzt
nach der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit versuchen die Balten, an alte
Traditionen anzuknüpfen. Zu diesem Zweck wurde vom estnischen Parlament eine
Studiengruppe, die sich aus einem internationalen Expertenteam aus Politik und
Wirtschaft zusammensetzt, beauftragt, Vorschläge, insbesondere zur
wirtschaftlichen Genesung der baltischen Republiken, auszuarbeiten. Dabei kam
man zu dem Ergebnis, daß das Baltikum mit Unterstützung westlicher
Industrienationen zu einer Hansefreihandelszone entwickelt werden sollte. Als
Grundlage dafür mußte zuerst eine demokratische Grundordnung geschaffen werden.
Zu diesem Zweck wurden demokratische Wahlen abgehalten mit einer - was für die
Akzeptanz in der Bevölkerung spricht - Wahlbeteiligung von 85%. Das Prinzip der
freien Marktwirtschaft sollte den wirtschaftlichen Aufschwung garantieren.
Estland, der mit 1,6 Millionen Einwohnern kleinste Staat, orientierte sich sehr
stark an Deutschland. So haben die Parteien eine 5%-Hürde zu überwinden um ins
Parlament zu kommen, und die durchgeführte Währungsreform richtete sich an der
deutschen Währungsreform von 1948 aus. Die neu eingeführte Marktwirtschaft
wurde teilweise aus dem nahegelegenen Skandinavien übernommen. Estland hat von
den drei Balkenrepubliken die größten Rohstoffvorkommen. So sind 60% der
Ölschiefervorkommen der ehemaligen UdSSR aus Estland. Auch gibt es hier Erze
und Torf. Durch große Kraftwerke können große Mengen an Energie in Nachbar
ballungszentren (z.B. St. Petersburg) exportiert werden. Auch in der
Textilproduktion ist Estland führend. Jedoch ist die Wirtschaft trotz dieser
guten Vorbedingungen angeschlagen, da die Rohstoffzufuhr von Rußland anhängig
ist. Auf der anderen Seite hat Estland das Glück, daß es als einziges Land zur
Zeit der UdSSR den skandinavischen Markt erschließen durfte. Somit verfügt es
über hohes marktwirtschaftliches Wissen. Ein großes Problem der Esten ist die
Angst vor der Macht aus Moskau. Viele fürchten den ehemaligen Riesen. Obwohl
den in Estland lebenden Russen die Möglichkeit der Anerkennung als Esten
gegeben ist, machen nur wenige davon Gebrauch. In Lettland sind die Probleme
noch größer als in Estland. Hier ist noch kein demokratisches System eingeführt.
Noch etwa ein Drittel der Altkommunisten sind an der Macht. Die alten
Strukturen sind noch erhalten, und es wird von vielen Seiten versucht, eine
Annäherung an Rußland zurückzuerhalten. Obwohl sich die Opposition wehrt, kommt
es zu fragwürdigen politischen Entscheidungen. Trotz der Unabhängigkeit geben
die mit 50% der 2,7-Millionen-Bevölkerung am stärksten vertretenen Russen den
Ton an. Wirtschaftlich ist der Meeresfischfang bemerkenswert. Das Fangaufkommen
machte einst 5% der russischen Aufkommen aus. Darüber hinaus sind die Sektoren
Geräte- und Maschinenbau sowie Radiotechnik relevant. Die großen Frachthäfen
sind von fundamen taler Bedeutung für das Wirtschaftsaufkommen von Lettland.
Hierüber wurden große Mengen Öl aus Sibirien in den Westen transportiert. Durch
die schwierige politische Lage und die fehlende Einführung der Marktwirtschaft
ist eine Besserung der wirtschaftlichen Situation schwierig. Insbesondere durch
investitionsfeindliche Gesetze ist es für westliche Firmen nicht sehr
interessant in Lettland aktiv zu werden. Litauen ist der bevölkerungstärkste
(3,7 Millionen Einwohner) und auch größte baltische Staat. Er ist aber
gleichzeitig der wirtschaftlich schwächste. Rohstoffvorkommen gibt es hier fast
nicht. Dafür ist die florierende Landwirtschaft ein starkes Rück rat. Trotz der
ungünstigen klimatischen Bedingungen gab es in Litauen überdurchschnittliche
Produktionszahlen in dieser Branche. An dieser Tatsache hat sich auch bis heute
kaum etwas ge ändert. Mit dem Hafen Klaipeda (Memel) ist eine Hafenkapazität
vorhanden, die mehr als ausreicht, das russische Hinterland mitzubedienen. Der
Weg zur Demokratie wurde in Litauen stark gebremst. Von
Versorgungsschwierigkeiten geleitet ging die Nachfolgepartei der KP bei den
Wahlen im Oktober 1992 als Sieger hervor. Zugleich stimmten 83,5% der Wähler
einer neuen, demokratischen Verfassung zu. Obwohl die Russen im Land nur eine
9%ige Minderheit darstellen, haben sie die Macht in Händen. Sie sind
gleichzeitig ein wichtiger Faktor für den Erhalt der Wirtschaft. So kam es hier
noch nicht wie in anderen Republiken zu Ausweisungen oder Anschlägen. Ein
großes Problem aller baltischen Republiken sind die hier immer noch
stationierten russischen Truppen. Sie stellen eine Gefahr dar, weil die Staaten
noch über keine eigenen richtigen Truppen verfügen. Bei den beiden estnischen
Bataillonen z.B. hat nur etwa jeder 15. Mann eine Waffe. Außerdem wird den
öffentlichen zivilen Stellen Informationen über die Truppenstärke und
Ausrüstung der Russen vorenthalten. Trotz erheblicher Bemühungen, den
Truppenabzug zu erreichen, ist es nicht gelungen, die Truppen aus den Ländern
abzuziehen. Sollten die Truppen dann doch mal abziehen, so werden sie keine
brauchbaren Gegenstände zurücklassen. Die Baltenrepubliken müßten mit einem
absoluten Neuanfang beginnen. So würden diese Staaten zwar souverän, aber
zugleich ungeschützt sein. Die Deutschen haben ein gewisses Plus durch die mit
der Wiedervereinigung gewonnene Erfahrung im Bezug auf gesellschaftspolitische
und wirtschaftliche Aufbauarbeiten zu ver zeichnen. Jedoch stößt es bei den
Balten auf Unverständnis, daß die Republiken von Deutschland weder anerkannt
werden, noch daß im Bereich der inneren Sicherheit Hilfe geleistet wird. Bonn
weigerte sich sogar, den Balten NVA-Uniformen zu verkaufen, da das Baltikum als
Spannungsgebiet gilt.