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Universität Hannover
Historisches Seminar
Referat
Die Geburtsstunde des demokratischen Gedankens
Das solonische Fragment D, das sog. Eunomia Gedicht, ist für die Darstellung der griechischen Geschichte der archaischen Zeit oder der Geschichte der athenischen Demokratie eine wichtige historische Quelle. Michael Stahl unternimmt in seinem o.g. Aufsatz den Versuch, diesen Text aus der Sicht des Historikers zu interpretieren und dessen Bedeutung für die athenische Geschichte systematisch zu untersuchen. Eine wichtige Leitfrage ist dabei, wie Solons Text in seinem historischen Kontext von seinem Verfasser und seinen Hörern verstanden wurde.
I. Interpretation des Gedichtes, Inhalt und Struktur von Solons Gedankengang
Solon versteht sein Gedicht als Beitrag in einem die ganze Gemeinde betreffenden Diskurs, indem er nicht nur die Athener als Adressaten nennt, sondern einführend bereits von 'unserer Stadt' spricht. Gleich darauf folgend V ) macht Solon zunächst deutlich, daß nicht die G tter die existentielle Krise der Polis verschuldet, den Bestand der Gemeinde gefährdet haben (wie es die Griechen ja von Troja und aus den Schriften Hesiods her kannten), sondern daß dieses Übel auf die Handlungsweisen der Polisbürger zurückzuführen sei, denn die G tter würden Athen niemals untergehen lassen und hätten mit der Stadt nur Gutes im Sinne. Mit diesen Worten will Solon der allgemeinen Verzweifelung aufgrund der Hilflosigkeit gegen die göttliche Fügung Einhalt gebieten und den Bürgern ihre Passivität nehmen.
Der ganze restliche Teil von Solons Überlegungen gilt folgend der Verurteilung des menschlichen, opportunistischen Handelns seiner Mitbürger, was Solon in V.5 und 6 mehr als klar herausstellt. Anschließend erstreckt sich bis Ende V. 9 der quantitative Hauptteil des Gedichtes. In ihm entfaltet und begründet Solon seine Diagnose und zieht daraus allgemeine Schlußfolgerungen. Die gedanklichen Schritte lassen sich dabei wie folgt darstellen:
a) V.5 14: Als erstes zählt Solon die Fehler der Bürger in ihrem Verhalten auf, die auf grundlegende Mängel in ihrer moralischen Einstellung zurückgeführt werden können. Er wirft ihnen Unverstand V ) und Geldgier V ) vor, verbunden mit einem Unrechtsdenken bei den Polisführern V . Damit meint Solon, daß nicht nur alle Bürger von einer Ethik der materiellen Verbesserung ihrer Oikossituation um jeden Preis geprägt sind, sondern zusätzlich auch die aktiven Unrechtshandlungen der aristokratischen Führungsschicht die Stadt immer tiefer in die Krise führen. Gerade für deren Fehlverhalten nennt Solon in den Versen 4 eine Reihe von Beispielen, denen gemeinsam ist, daß die Adligen
ihr Agieren, im Gegensatz zum passiv 'mitlaufendem' Demos, bewußt und zielgerichtet planen. Dieses äußert sich in ungerechter Gesinnung V , großem Frevel V , zügelloser Gier V , Überma , Übermut und G tterfrevel V -
Somit zerstören die Adligen mit ihrem unbeherrschten Streben nach Reichtum das Zusammenleben in der Gemeinde, indem sie andere Mitbürger existentiell bedrohen oder sich an G tern der G tter bzw. der Polis vergreifen. Die Metapher, daß die Freveltaten dabei nicht einmal vor dem Fundament der Dike, der Göttin des Rechts und des Ausgleichs, haltmachen V. , ist derart zu verstehen, daß Dikes Dasein ohne die traditionellen Regeln der menschlichen Gemeinschaft nicht denkbar ist, die Untaten der Adligen dabei aber die herkömmliche Ordnung der Gemeinde vernichten und somit die G ttin Dike selbst schänden.
Solons Beispiele sind aber keine systematische Aufzählung von Verhaltensphänomenen, sondern vielmehr eine symptomatische Darstellung des Grundübels ´Reichtum´, das, obwohl eigentlich der Lebensfreude angedacht, die Menschen zu Ma losigkeit und Raffgier verführt und sie unmoralisch handeln lä t.
b) V. : In diesen beiden Versen verleiht Solon seinem Vertrauen auf eine Strafe der geschändeten G ttin Nachdruck, die ja, wie bereits in den Versen 4 zu lesen, nur Gutes mit Athen im Sinne haben konnte. Dabei ist sie in Zeitpunkt und Art ihres Handelns aber völlig unabhängig von menschlichem Tun. Solon unterscheidet diesbezüglich aber die Opfer ihrer Rache und die Ursachen für die Stasissituation. Die göttliche Strafe trifft diejenigen, die sich des in V 4 geschilderten Fehlverhaltens schuldig gemacht haben, also konkret die Frevler selbst (oder ihre Nachkommen) als individuell handelnde Personen. Die Krankheit des Gemeinwesens ist für ihn jedoch keine Strafe der G tter, sondern ausschlie lich das Ergebnis menschlicher Fehler, die mit dem, was Solon in den Versen 5 beschreibt, in einem unmittelbaren, gänzlich irdischen Zusammenhange stehen.
c) V. : Hier beschreibt Solon, welche Folgen die Torheit aller Bürger und die Böswilligkeit der Aristokraten für die Stadt haben können: Knechtschaft, Stasis, (Bürger-)Krieg, Schuldversklavung. Er umrei t den verhängnisvollen Kreislauf von politischer Instabilität und Gewaltherrschaft, unter dem viele griechische Poleis nicht nur in der archaischen Zeit gelitten haben. Als Knechtschaft V. ) ist dabei wohl an die Tyrannis als letztes Ziel aristokratischer Machenschaften gedacht, die aber wiederum unweigerlich Widerstände hervorrufen und die Stadt in weitere Stasiskämpfe verwickeln wird, an deren Ende die Auflösung der Gemeinde als sozialer Organismus steht. Solidarität wird dabei zugunsten von den Machtinteressen einzelner Adliger dienlichen Bündnissen aufgehoben, Bürger werden in deren physischer Existenz bedroht oder gar als Schuldknechte in die Fremde verkauft. Weiterhin gehen Stasis und Tyrannis auch in der Regel mit militärischer Intervention von außen einher. Zum einen droht also die innere Auflösung der Gemeinschaft durch den Verlust von Bürgern im Bürgerkrieg, durch Versklavung) und durch die Zerstörung traditioneller Sozialverbände, zum anderen die Unterdrückung und Knechtschaft durch eine Tyrannis oder fremde Intervention.
d) V.26 29: Solon zieht in diesen Versen den Schluß aus alledem. Das die gesamte Stadt befallene Übel betrifft ausnahmslos jedes ihrer Mitglieder, wobei auch der eigene Oikos keinen Schutz davor bietet, sondern vielmehr im Zuge der allgemeinen Auflösung selbst ins Wanken gerät. Somit ist der Einzelne an der Basis seiner gesellschaftlichen Existenz bedroht, und der Kreis schlie t sich: Der am Beginn von Solons Gedicht nur um seinen Oikos bemühte und am Gemeinwesen desinteressierte Bürger gefährdet durch die daraus resultierende Poliskrise seine eigene Existenz. Diese Entwicklung hält Solon für ebenso zwangsläufig V ) wie zuvor das Einschreiten der göttlichen Dike. Das Schicksal der Stadt und das jedes einzelnen Bürgers sind auf diese Weise also untrennbar miteinander verbunden.
Solons Selbstgewißheit setzt sich im folgenden Abschnitt fort, den er mit der wichtigen Zeile Dies ist die Lehre, die s mich treibt Athens Volk zu verkünden:' V ) einleitet. Sie ist der konzeptionelle Angelpunkt, der die beiden zwar unterschiedlich langen, aber inhaltlich gleich bedeutenden Teile des Gedichtes verbindet. Dabei kann man drei
Elemente des solonischen Gedankens hervorheben:
a) Solon will seine Hörer belehren, was natürlich voraussetzt, daß er über Einsichten verfügt, welche jene (noch) nicht besitzen. Den Inhalt seiner Lehre hat er in den vorausgegangenen Teilen schon dargestellt, nämlich die Beilegung der Krise der Stadt. So folgt aus Solons Anspruch zu lehren auch, daß sich die Krise u.a. in der mangelnden Einsicht der Bürger in die von ihm beschriebenen Zusammenhänge begründet.
b) Solon st tzt sich allein auf seine eigene Erkenntnis, er spricht nur für sich selbst und vertritt niemand anderen. Seine Dichtung beinhaltet keine göttlich offenbarten Wahrheiten, sondern menschliche Erfahrungen und deren rationelles Überarbeiten verbunden mit einem unabhängigen Urteil zur Lösung der in der Sphäre des Menschlichen liegenden Probleme. Solons Lehre entspringt dabei dem, was wir heute als Herz' oder Seele' bezeichnen, d.h. dem innersten Kern der menschlichen Existenz, dem Sitz von Emotion, Wille, Handlungsantrieben, Moralität. Sie ist demnach nicht nur eine Sache des menschlichen Verstandes, sondern wurzelt auch in tieferen Schichten der Seele und schöpft aus diesen den Antrieb, der Solon die Gewißheit der Richtigkeit seiner Gedankengänge vermittelt.
c) Solon nennt sich einen Lehrer seiner athenischen Mitbürger. Seine Aussagen entspringen nicht distanzierter philosophischer Reflexion, sondern sind eine Form des Handelns in einer konkreten politischen Situation und ein Aufruf an seine Mitbürger, selbiges zu tun oder umzusetzen.
Im Schlußteil V. ) stellt Solon das Wirken von Eunomia dem von Dysnomia gegenüber, wobei Dysnomia für die Kräfte steht, die die Stadt ins Ungl ck stürzen können. Demgegenüber schafft Eunomia einen wohlgeordneten Zustand des Gemeinwesens. Wie dieser Zustand zustande kommen kann, schildert Solon in V 8 in einer Auflistung symptomatischer Veränderungen: Eunomia negiert das falsche Verhalten und die Übelstände, die in den Versen 4 und 5 beschrieben werden, und führt zu einer guten und vernünftigen Veränderung der Gemeinschaft. Sie ist dabei keine göttliche, sondern eine von Menschen ausgehende Kraft, ein zum Guten gerichtetes Korrelat zu Dysnomia. Und da ihre Tätigkeit darin besteht, das menschliche Fehlverhalten zu korrigieren und dessen schädliche Folgen zu beseitigen, stellt sie keinen Zustand dar, sondern eine neue Moral in der Gesamtheit der Tätigkeiten der Bürger, die die Polis durch das veränderte Verhalten ihrer Mitglieder weg von der moralischen Fehlorientierung Dysnomie) funktionst chtig machen soll.
II. Die Bedeutung der solonischen Lehren für die Zukunft der athenischen Geschichte
In seinem Gedicht will Solon dem Hörer drei Grundgedanken vermitteln:
Solon erkennt, daß es einen von göttlicher Einwirkung freien irdischen Kausalzusammenhang gibt zwischen menschlichem Fehlverhalten und zerstörerischen Entwicklungen in der Gemeinde, daß es aber ebenso einen Weg aus dieser Krise heraus gibt. Dieser Weg muß von den Mitgliedern der Gemeinde selbst bestimmt und gestaltet werden, wollen sie nicht länger gegen den Willen der G tter ihre Stadt zugrunde richten. Gemäß dem Zusammenwirken vieler Faktoren, die die Polisordnung ausmachen, sind Solons Reformen auch dementsprechend breit angelegt: Rechtspflege und Gesetzgebung, soziale und wirtschaftliche Maßnahmen, politische Institutionalisierungen, Außenpolitik, kulturelle Integration etc. Vieles davon hatte auch in der Folgezeit noch Bestand, besonders die von Solon angedeutete
Grundvorstellung, daß man die Gemeinde als ein einheitliches Ganzes gegenüber der individuellen Existenz jedes einzelnen Bürgers denken müsse. Das Ganze der Stadt gilt als gesonderter Handlungsraum, in dem die Regeln für das Handeln des einzelnen - z.B. das Streben nach Reichtum - nicht angewendet werden können. Damit ist der Gegensetz von Oikos und Polis, die dabei ein höheres Recht genie t, erfa t. Weiterhin gilt die Bürgerschaft als handelndes Subjekt in der Gemeinde. Solon hat daher zum ersten Mal versucht, den Bürgerstatus rechtlich zu umschreiben, und hat damit eine Entwicklung in Gang gebracht, die bis zu Kleisthenes und der endgültigen Strukturierung der Bürgerschaft führte. Zu den weiteren Grundbedingungen des poltischen Raumes zählt für Solon schließlich die Freiheit von Knechtschaft jeglicher Art. Solon hat also mit der sehr umfassend gedachten Gestaltungsmacht über die Polisordnung, mit der postulierten Ausgrenzung eines politischen Raumes und mit der Entdeckung der Bürgerschaft als dessen zentraler Größe entscheidende Bedingungen der athenischen Polis zum ersten Mal erkannt und in das Bewußtsein gerückt. Die historische Entwicklung des folgenden Jahrhunderts war von ihrer allmählichen Verwirklichung geprägt.
Laut Solon gehört zur inneren Gesetzmä igkeit der Poliskrise, daß sich dieser kein Bürger entziehen konnte und unmittelbar betroffen war, was sich aus der Mitschuld aller an diesem Zustand herleitet. Die Krise ist also eine Frage der inneren Einstellung der Bürger - wohl ein Schock für Solons Hörer , allen mangelte es an einer realistischen Einschätzung ihres eigenen Verhaltens im Zusammenhang mit dem anderer. Dabei sind die Hauptfehler die ausschlie liche Konzentration auf den eigenen Oikos und ma lose Gier nach Reichtum aufgrund mangelnder Selbstbeherrschung. Die neue Bürgermoral muß daher den Trieb zu zügeln versuchen und das Ideal der Vernunft und Mä igung suchen, verbunden mit einem hohen Verantwortungsbewußtsein für das eigene Gemeinwesen. Solon fordert damit eine veritable Revolution der geltenden Werte hin zu einer neuen politischen Ethik. Diese hat sich in den folgenden eineinhalb Jahrhunderten tief in den Athenern verwurzelt und sie zu einem überaus politischen Volk werden lassen.
Dieses rationell-verantwortliche Handeln steht aber im Gegensatz zu Handlungsweisen, die durch Aktivität des Herzens' angeregt werden, d.h. leidenschaftliches und gefühlsmäßiges Agieren. Verständiges und vernunftgeleitetes Handeln muß diese Regungen daher unter Kontrolle zu bringen und sie der Vernuft dienbar zu machen wissen. Deshalb erklärt Solon auch, daß seine rationelle Lehre aus seinem Herzen' komme, um zu verdeutlichen, daß dieses im Einklang mit der Vernunft stehe und handle, was auch bei jedem anderen der Fall sein müsse, soll der Wandel der Moral nicht behindert werden. Verstand und Emotion müssen also an einer Revolution der Werte gleicherma en beteiligt sein. Dies ist auf zwei Wegen zu erreichen: Der eine besteht in der Anbindung der politischen Ethik an die traditionellen religiösen Kräfte, indem eine Wendung zum Besseren für die Stadt auf dem Fundament eines festen religiösen Glaubens fußen muß. Athena bildete dabei für Solon einen entscheidenden Bezugspunkt, in dem sich das neue Polisbewußtsein der Athener konkret darstellen konnte, womit er eine Entwicklung in Gang setzte, durch die im Laufe der nächsten zweihundert Jahre Mythos und Kult der meisten G tter zur Polisreligion geworden sind. Ein anderer Weg zu den Herzen der Büger bot sich Solon schlie lich durch seine dichterische Größe. Seine Dichtung ist keine persönliche Attitüde, sondern vielmehr ein integraler Bestandteil seiner Rolle als Aisymnet. Sie war ganz auf Darstellung und Effekt angelegt und bediente sich vielfältiger dramatisierender Mittel in der Öffentlichkeit, mit der Absicht, politisch wirken und aufklären zu wollen. Seine Art der Dichtung als das den Bedürfnissen der Bürgerschaft angemessene, weil Betroffenheit auslösende und emotionale Identifikation erzeugende Kommunikationsmedium, bildet eine ungebrochene Kontinuitätslinie bis zum Drama des . Jahrhunderts.
Zusammenfassung:
Nach Solon bestimmt die Gesamtbürgerschaft erfolgreich über die Geschicke ihres Gemeinwesens, wenn sie den Geboten einer politischen Ethik folgt, die auf das Wohlergehen der Bürgerschaft abzielt. Diese Bürgermoral beruht auf einer Umorientierung bestehender und in der Welt des Oikos weiter gültiger Wertvorstellungen und muß sich gegen diese durchsetzen. Deshalb müssen sich die Bürger über bestimmte Kommunikationsmedien immer wieder der Grundlagen ihres Bürgerseins vergegenwärtigen.
Mit seinen politischen Erkenntnissen hat Solon die Eckpfeiler des Bürgerstaates aufgerichtet und wesentliche Punkte der athenischen Geschichte des . und . Jahrhunderts in ihren Ursprüngen begründet, womit sich die archaische und klassische Zeit Athens unter dieser Perspektive in viel höherem Maße, als dies bisher gedacht wurde, zu einer Einheit zusammenfinden. Daher kann man Solons Eunomie-Gedicht als die Geburtsstunde des Bügerstaates bezeichnen.
Jan Stetter (JnStetter@aol.com)
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